Streit beim Lebensmittelretter - Mitarbeitende werfen Sirplus-CEO chaotische Geschäftsführung vor

Raphael Fellmer lebte jahrelang ohne Geld und baute ehrenamtlich eine Foodsharing-Plattform auf. Dann gründete er ein Startup mit, das Lebensmittel vor dem Müll retten soll – dabei geht es um Millionen. Mitarbeiter:innen machen ihm nun schwere Vorwürfe. Von Vanessa Klüber
Die Geschäftsführung des Einzelhändlers Sirplus hatte sich die Reaktionen auf ihre Stellenanzeige im Oktober fürs Online-Geschäft wahrscheinlich anders vorgestellt. Nutzer:innen warnen auf Instagram eindringlich vor dem Unternehmen. "Janz miese Zustände hinter den […] Kulissen", schrieb jemand.
Für die gute Sache angeheuert
Zuvor hat Geschäftsführer und Gründer Raphael Fellmer alle Filialen geschlossen und 43 Leute entlassen – wegen Umsatzeinbrüchen durch Corona ist die Begründung, nur online soll es weitergehen. "Das war die schwierigste Entscheidung, die ich überhaupt je treffen musste", sagt er. Das fast fünf Jahre alte Startup wankt, und damit ein Traum von Fellmer, die Welt ein Stück weit besser zu machen. Sollen doch über Sirplus Lebensmittel an Kund:innen gebracht werden, die kurz vor dem Verfall stehen und sonst im Müll gelandet wären.
Doch neben der Corona-Umsatzeinbruch-Erzählung gibt es noch eine andere - von mehreren Noch- und Ex-Mitarbeiter:innen, die ihren Aussagen zufolge motiviert für die gute Sache bei Sirplus angeheuert hatten. rbb|24 erzählen sie von Müll, der im Sommer in den Filialen gelagert werden musste, weil das Startup die Rechnung für die Müllabfuhr nicht bezahlte, chaotischer Geschäftsführung, und dass sie sich einem Klima der Herabsetzung und Ausbeutung ausgesetzt fühlten.
"Habe gemerkt, dass ich kurz davor bin, nervlich zusammenzubrechen"
Bereits Anfang März 2020 verfassten Mitarbeiter:innen einen elfseitigen Brief an das Unternehmen, der rbb|24 vorliegt, einen Hilferuf gerichtet an den Chef und auch an den Co-Gründer, der mittlerweile ausgestiegen ist. Sie schrieben von Fehlsteuerung, unfairen Löhnen und von Überbelastung.
Julia Singer* geriet damals komplett in die Krise. Nachdem sie sich im Januar in psychotherapeutische Behandlung begab, hörte sie bei Sirplus im April auf. Als Filialleitung mit einer 40-Stunden-Woche plus unbezahlter Überstunden habe sie 2.200 Euro brutto bekommen. Sie sei dann auf 32 Stunden runtergegangen, "weil ich dann mittendrin schon so ein bisschen gemerkt habe, dass ich kurz davor bin, nervlich zusammenzubrechen. Das ist dann auch passiert", sagt sie, "da war's anscheinend schon zu spät."
"Locker zehn Überstunden"
Elise Schubert* arbeitete im Verkauf und als Filialleitung und erzählt, sie wurde im Urlaub, am Wochenende oder in der Freizeit angerufen, ob sie arbeiten kommen könne. Sie sei während ihrer Krankschreibung kontaktiert worden. "Ich habe extrem viele Überstunden gemacht", sagt sie, "locker zehn in der Woche" seien es gewesen. Abbummeln sei nicht drin gewesen, "wir waren so extrem unterbesetzt, dass es teilweise nicht mal für Urlaub gereicht hat", sagt Schubert. Sie berichtet von einer hohen Fluktuation: Viele, die motiviert anfingen, hätten schnell desillusioniert wieder aufgehört. In einer Filiale habe teils nur eine Person gestanden.
Fellmer sagt dazu auf rbb-Anfrage, man habe immer versucht, zu vermeiden, dass jemand allein im Laden stehe - aber durch Krankheit sei das in Einzelfällen vorgekommen. Zu den anderen Vorwürfen von Schubert könne er nichts Genaues sagen, weil die Verantwortlichen nicht mehr im Unternehmen arbeiteten und Fellmer dies zum ersten Mal lese. "Bestimmt ist es aber vorgekommen, dass gesunde Mitarbeiter:innen aufgrund von Personalmangel durch Krankheit von Teamkolleg:innen auch mal am Wochenende kontaktiert worden sind, ob sie einspringen können, weil wir ja auch immer Samstag geöffnet hatten“, teilt Fellmer mit. Dass Filialleiter:innen wie Julia Singer nur 2.200 Euro brutto erhielten, streitet er ab.
Anne Betram* arbeitet aktuell noch bei Sirplus – im Onlinegeschäft: "Ich bin ausgebrannt, würde ich sagen", sagt sie. Es sei so, dass "meine Kolleginnen und ich hoffen, dass wir in die Insolvenz gehen, damit es irgendwie vorbei ist", lacht sie bitter. "Gerade führe ich nur noch aus."
Fellmer entschuldigt sich für Fehler
Ein Protokoll aus einer Sitzung Ende März, in der Fellmer bereits vor einem kleinen Teil der Belegschaft auf vielfältige Probleme hinwies, belegt, dass im laufenden Jahr 800.000 Euro Personalkosten gespart werden sollten. In dem Protokoll nannte er Probleme, die weit über Corona als Umsatzvernichter hinausgingen. Darin schreibt Fellmer: "Ich habe als CEO und als Gründer sowie Teil des Managements Fehler gemacht und dafür möchte ich mich entschuldigen […]."
Man habe zu schnell zu viele Menschen eigestellt und den Verlust, den das Unternehmen Monat für Monat macht, nicht sauber überwacht. Das Unternehmen befinde sich "inmitten der gr. Krise von Sirplus auf verschiedenen Ebenen", schreibt er. Er nennt Kommunikation und Umgang miteinander, Fehler- und Feedback-Kultur, die er nicht ausreichend vorgelebt habe.
Fünf Jahre ohne Geld gelebt
Zahlreiche Medien haben schon über Fellmer berichtet. Fellmer als Klimaaktivist, als jemand, der fünf Jahre ohne Geld gelebt hat, sich vegan ernährt, der eine Plattform namens Foodsharing aufgebaut hat, für die er und andere ehrenamtlich arbeiten. Bei Sirplus dagegen muss er Millionen Investorengelder einspielen. Als jemand, der vom Betriebswirtschaftlichen gar keine Ahnung habe und Geld durch nicht durchdachte Aktionen verschleudere, wie die Mitarbeiter:innen meinen, die mit rbb|24 gesprochen haben.
In dem Protokoll von der Sitzung im März schreibt er weiter: Ihm sei immer klar gewesen, "dass wir Hunderte Millionen an Investitionen brauchen, um die angestrebten 5 Millionen Tonnen bis 2030 zu retten, aber ich habe es nicht deutlich genug kundgetan." Somit sei bei einigen "vielleicht ein falsches Bild von Sirplus‘ Zukunft gezeichnet" worden. Und: "Realisierung, dass der Fisch vom Kopf stinkt und ich der Kopf bin". Die Konsequenzen trugen Mitarbeitende: Bei Sirplus stand noch im Frühling eine Kündigungswelle an.
Mitarbeitende beklagen Herabsetzungen und Müllproblem
Für Mitarbeiter:innen, die blieben, kam ein gefühlter Druck und Unbehagen auch durch den Umgang der in der Hierarchie weiter oben stehenden Mitarbeiter:innen zustande: Sprüche wie 'meine Zeit im Unternehmen ist wichtiger als deine' sollen gefallen sein oder dass Mitarbeiter:innen als 'ehrenlos' bezeichnet worden seien. Auch Chaos habe geherrscht, zum Beispiel wenn im Sommer Müllsäcke in den Filialen gelagert werden mussten, weil die Müllrechnung nicht bezahlt worden war.
Zu den Sprüchen teilt der Geschäftsführer Fellmer schriftlich mit: "Das ist nicht gut und entspricht in keiner Weise der von mir vorgelebten Kultur, falls mir solche Aussagen zu Ohren kommen würde, akzeptiere ich ein derartartiges Verhalten auch nicht." Zu unbezahlten Rechnungen steht in seiner Mitteilung: "Die Finanzierung eines ökologisch und sozial ausgerichteten Startups ist meist von Herausforderungen und zeitlichen Verzögerungen geprägt, weil es eben nicht nur um den Profit geht. […]“ So könnten auch mal finanzielle Engpässe entstehen. Das sei aber nie bewusst oder geplant geschehen, sondern "der frühen Phase des Unternehmens geschuldet, und wenn nur Einzelfälle", schreibt er.
"Vielleicht ein bisschen lockerer, ein bisschen entspannter
Fellmer ist sich sicher, dass "die meisten Menschen wirklich sehr gerne bei Sirplus arbeiten und gearbeitet haben". Ob man Überstunden abrechne oder nicht, "konnte jeder Gehaltsempfänger frei entscheiden", sagt er, "die Mitarbeitenden, die auf Basis von Stundenlohn arbeiteten, haben ihre Arbeitszeit nach meiner Kenntnis auch entsprechend entlohnt bekommen." Wie hoch die Gehälter waren, habe er nicht im Kopf. "Naturgemäß kann man als sehr junges Unternehmen aber nicht die höchsten Gehälter am Markt bezahlen." Man arbeite allerdings daran, diese zu erhöhen.
Fellmer sieht sich als Magnet für bestimmte Leute: "Ich hab' natürlich auch Menschen angezogen, die sehr idealistisch an der Sache interessiert sind", sagt er. Die dann teilweise enttäuscht gewesen seien, dass es nicht ganz so war, wie sie es sich vorgestellt hätten. "Vielleicht ein bisschen lockerer, ein bisschen entspannter, quasi nicht so, wie der etablierte Einzelhandel halt ist."
Keine Kontrolle über den Laden?
Den Mitarbeiter:innen zufolge hat Fellmer aber selbst gar nicht die Kontrolle über den Laden. Schubert wirft ihm vor, die Entscheidungsgewalt im Unternehmen habe er an "irgendwelche Kumpels" abgegeben.
Fellmer sieht das mit der Kontrolle über den Laden so: Man sei in den letzten vier Jahren von zwei Gründern auf über 120 Mitarbeitende gewachsen, "und da kann ich nicht in jedem Arbeitsschritt und jeder Teamkonstellation drinstecken, man muss sich auf die Teams und deren Fähigkeit zur Selbstorganisation auch verlassen können."
Über ein halbes Jahr nach seinen Entschuldigungen aus dem Protokoll sagt der Sirplus-Geschäftsführer: "Dass Leute bei dir im Unternehmen sich nicht wohlfühlen, das fühlt sich für einen selbst auch nicht gut an." Er zeigt sich aber überzeugt, dass man jetzt schon ein gutes Klima habe.
Der Bewerbungsaufruf auf Instagram mit den kritischen Kommentaren wurde gelöscht. Daraufhin wurde eine neue Stellenanzeige aufgesetzt, "werde Teil unserer Mission gegen Lebensmittelverschwendung", heißt es darin. Bisher stehen noch keine kritischen Kommentare darunter.
*Namen geändert