Analyse zur Wohnungspolitik - Wie seriös ist das rot-grün-rote Neubau-Ziel?

200.000 Wohnungen sollen bis 2030 in Berlin gebaut werden. Darauf haben sich SPD, Grüne und Linke in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. Doch bei fast drei Viertel der angepeilten Wohnungen bleibt vorerst unklar, wann sie wie und wo gebaut werden könnten. Von Thorsten Gabriel
Um keine Zahl wurde in den rot-grün-roten Koalitionsverhandlungen stärker gerungen als um diese: 200.000. So viele neue Wohnungen sollen bis 2030 in Berlin hochgezogen werden. Die Zahl stammt aus dem SPD-Wahlprogramm, sie ist plakativ und geht über das hinaus, was der Stadtentwicklungsplan Wohnen bislang an Wohnungsbau für die Zeit bis 2030 vorsieht.
Nicht zuletzt, weil sich die SPD mit dieser Zahl sehr frühzeitig aus dem Fenster lehnte, kamen Grüne und Linke am Ende nicht umhin, dieses Ziel mitzutragen – um die Koalitionspartner vor einem Gesichtsverlust zu bewahren. "Die Zielzahl von 200.000 Wohnungen bis 2030 wird konkret mit Stadtquartieren und Wohnbaupotenzialen untersetzt", heißt es nun im Koalitionsvertrag. Verschiedene Begleitrechnungen im Vertragstext erwecken zwar den Anschein, als seien diese "Potenziale" mehr als nur Hier-könnte-man-auch-noch-bauen-Flächen, doch schaut man genauer hin, ergeben sich etliche Fragezeichen.
Was genau heißt "Potenzial"?
Eine zentrale Rolle spielt in den Rechnungen der Koalitionäre in spe das sogenannte "Wohnbauflächen-Informationssystem" des Landes, kurz WoFIS. Dieses behördeninterne Instrument weist derzeit einen Flächenvorrat für rund 151.000 Wohnungen aus. Sie könnten demnach kurz- und mittelfristig in der Stadt gebaut werden. Darüber hinaus ist im Koalitionsvertrag von 31.000 Wohnungen die Rede, die binnen acht bis zwölf Jahren machbar wären. Durch Nachverdichtung und Aufstockungen im Bestand seien weitere 30.000 Wohnungen realisierbar. Macht unter dem Strich ein Wohnungsbau-Potenzial von 212.000 Wohnungen. Aber was heißt nun "Potenzial"?
Konkret geplant und teils schon im Bau sind bislang 16 neue Stadtquartiere. Das mit Abstand größte ist die Wasserstadt Oberhavel mit 12.750 Wohnungen. Dahinter folgen deutlich kleinere Projekte mit rund 1.000 bis 5.000 Einheiten, wie etwa die Europacity, die neue Siemensstadt oder das Schumacher-Quartier am ehemaligen Flughafen Tegel. Zusammen sind hier mindestens 51.200 Wohnungen geplant oder im Bau. Dazu will die Koalition weitere Gebiete erschließen wie zum Beispiel Tegel Nord, die Elisabeth-Aue in Pankow oder den Zentralen Festplatz im Wedding.
Zieht man all diese Projekte von den potenziellen 212.000 Wohnungen ab, bleiben allerdings noch fast 160.000 übrig, die nicht mit konkreten Projekten belegt sind – fast 75 Prozent. Hier verweist der Koalitionsvertrag lediglich aufs WoFIS-Potenzial. Handelt es sich dabei also um eine Art Luftbuchung? Tatsächlich füttern Land und Bezirke diese Datenbank nicht nur mit leeren Flächen, sondern vor allem mit Angaben darüber, ob es bereits Konzepte, Gutachten, Bebauungsplanverfahren, Bauvoranfragen oder gar Baugenehmigungen gibt. Es ist also mehr als nur eine Wunschliste.
Wer zu welchen Preisen bauen will, ist oft unklar
Das betont auch die Grünen-Abgeordnete Katrin Schmidberger. Sie schränkt allerdings ein, dass im Gesamten betrachtet weder klar sei, wer diese Wohnungen baue, noch welche Miethöhen am Ende dabei herauskämen. Das gelte auch für jene Potenzial-Wohnungen, die bereits baugenehmigt sind. "Das sind teilweise auch diese 50 - bis 60.000 Wohnungen, von denen man in Berlin immer spricht, für die es zwar eine Genehmigung gibt, die aber faktisch nicht gebaut werden", verweist sie auf den sogenannten "Bauüberhang". Tausende Grundstücke mit Genehmigungen werden noch immer jedes Jahr von einem Investor zum nächsten mit Gewinn weiterverkauft, ohne dass es auch nur zu einem ersten Spatenstich kommt.
Schmidberger zeigt sich wenig optimistisch, was das ambitionierte Wohnungsbauziel angeht. "Ich persönlich bin da sehr skeptisch, denn wir haben nach wie vor Probleme, den Neubau schnell zu realisieren. Wir brauchen mehr Personal in den Bezirken, damit eben auch Baugenehmigungen schneller erteilt werden können. Wir brauchen aber auch mehr Personal in der Bauwirtschaft. Der Neubau ist ein komplexeres Problem und kann nicht einfach mit einer Zahl beantwortet werden. Wir müssen das auch konkret mit Maßnahmen und vor allem mit Förderung unterlegen."

Unterschiedliche Reaktionen aus der Wohnungswirtschaft
In der Wohnungswirtschaft stößt die rot-grün-rote Zielsetzung beim Wohnungsbau auf ein geteiltes Echo. Eher skeptisch zeigt sich der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, BBU. Die Koalition müsse sich schon "sehr strecken", um ihr Ziel zu erreichen, sagt BBU-Sprecher David Eberhart.
Mit Sorge blickt er auch auf die Ankündigung im Koalitionsvertrag, dass bei den bereits in Planung befindlichen 16 Stadtquartieren noch einmal über Aufstockung nachgedacht werden soll. "Wenn jetzt Baudichten nochmal eruiert, also Planungen nochmal aufgemacht werden, ist die Frage, ob es innerhalb der nächsten zehn Jahre überhaupt zum Schluss kommt", gibt er zu bedenken. Mit dem Verweis aufs WoFIS verschiebe die Koalition einiges auf die Zukunft und verfahre "nach dem Prinzip Hoffnung", so Eberhart.
BFW: "212.000 Wohnungen sind machbar – unter bestimmten Bedingungen"
Optimistischer zeigt sich dagegen Susanne Klabe, die Geschäftsführerin des Spitzenverbands der mittelständischen Immobilienwirtschaft, BFW Berlin/Brandenburg. Die 212.000 Wohneinheiten seien grundsätzlich von der privaten Bauwirtschaft leistbar. Allein die Mitgliedsunternehmen des Verbandes, die nur einen Teil des Marktes ausmachten, errichteten pro Jahr im Schnitt etwa 7.000 Wohnungen, davon seien rund 30 Prozent "preisgedämpft", also in einem günstigen Marktsegment.
"Hochgerechnet bis 2030 kommen wir ungefähr auf 65.000 Einheiten, die allein unsere Mitgliedsunternehmen bauen", so Klabe. "Dazu kann man noch rechnen, dass sich Rot-Grün-Rot vorgenommen hat, auch Supermarktflächen stärker für Wohnungsbau ins Blickfeld zu nehmen. Wenn man sich da die aktuellen Zahlen der Senatsverwaltung anschaut und mal konservativ schätzt, dass da 25.000 Einheiten entstehen könnten, dann nähern wir uns in größeren Schritten dieser Zahl."
Werden wirklich 200.000 Wohnungen benötigt?
Dies allerdings sei nur unter bestimmten Bedingungen machbar. Mit vorsichtiger Zuversicht blickt Klabe deshalb auf Passagen im Koalitionsvertrag, aus denen hervorgeht, dass sich der Senat "einiges zum Thema Verfahrensbeschleunigung" vorgenommen habe. Zwar gebe es da auch teils widersprüchliche Aussagen, aber Klabe verweist auf positive Ansätze. "Dazu gehört zum Beispiel, dass man die Genehmigung einer Baustelleneinrichtung auf Nebenstraßen künftig nicht mehr beantragen muss, sondern dass unterstellt wird, dass diese Genehmigung da ist." Das hätte zur Folge, dass man nicht mehr ein halbes Jahr auf die Genehmigung zur Straßennutzung warten müsse, um einen Kran aufzustellen.
Bleibt die Frage, ob Berlin die 200.000 Wohnungen am Ende wirklich benötigen wird. Hier legt sich die Vertreterin der Immobilienwirtschaft nicht fest. Dies hänge maßgeblich davon ab, wie sich der weitere Zuzug in die Stadt entwickele. Seriös könne man die Frage erst beantworten, wenn der "Stadtentwicklungsplan Wohnen" überarbeitet worden sei. Auch dies hat sich die wahrscheinlich künftige Koalition schon auf ihrer To-Do-Liste notiert.
Sendung: Abendschau, 16.12.2021, 19:30 Uhr