Rekordinvestitionen in Berliner Start-ups - Sexy - und gar nicht mehr so arm

Eine Rekordsumme von mehr als 10 Milliarden Euro floss allein 2021 an junge Unternehmen in der Hauptstadt. Es sind nicht nur die Hipster-Bars, die Berlin zunehmend zu einem Super-Standort für Start-ups machen. Von Hasan Gökkaya
Es ist eine Summe, von der die Berliner Regierung nur träumen kann: 10,5 Milliarden Euro investierten Geldgeber allein 2021 in die Start-up-Szene der Hauptstadt. Das ist Rekord, wie jüngst die Beratungsgesellschaft Ernst & Young [ey.com] festgestellt hat.
Demnach steht Berlin deutschlandweit auf Platz 1 - mit einem Marktanteil von 60 Prozent. Wieso aber boomt die Start-up-Szene hier viel stärker als im Rest der Bundesrepublik?
Alternative Szene zieht Kapital an
Ein großer Faktor sei die nach wie vor ungebrochene Anziehungskraft der Stadt, sagt Thomas Prüver von Ernst & Young im Gespräch mit rbb|24. Gut ausgebildete Menschen, die nach Deutschland kommen, würden lieber nach Berlin wollen. "Die Diversität, die Sprachen, die Kunstszene, die alternative Kultur, das alles zeichnet die Stadt aus", sagt Prüver, selbst Berliner. Dieses Setting mache die Hauptstadt eben zu keinem traditionellen Wirtschaftsstandort. "Und das zieht Investoren wie auch Unternehmer derzeit an."
Tatsächlich haben Start-ups - nach dem ersten Pandemiejahr - weltweit Rekordsummen von Investoren eingeworben. Laut einer Studie der Beratungsgesellschaft KPMG flossen fast 590 Milliarden Euro Risikokapital in junge Firmen: Das ist fast doppelt so viel Geld wie im Coronajahr 2020. Demnach profitierte Deutschland mit 17,4 Milliarden Euro Risikokapital - ein Plus von 229 Prozent - überdurchschnittlich stark von dem Boom. Und in Deutschland wiederum profitierte Berlin besonders stark.
Laut der vom Land Berlin betriebenen Seite startup-map.berlin listet die Hauptstadt aktuell 2.824 verifizierte Startups auf, die seit 2012 gegründet wurden. In der "Heatmap" der Webseite startupsandplaces.com hat Berlin London überholt und belegt den ersten Platz als attraktivster Start-up-Standort.
Start-ups zahlen gut
Die Anziehungskraft Berlins hängt aber nicht nur mit den gruftigen Hipster-Bars in Neukölln, den Bioläden im Prenzlauer Berg und den authentischen Pho Bo-Suppen an der Kantstraße zusammen. Es gehe auch um das "qualitative Ökosystem", sagt Prüver. Was er meint: Das Geld stimmt.
Dem Experten zufolge sind die in Berlin gezahlten Gehälter inzwischen konkurrenzfähig mit anderen europäischen Standorten. "Als ich mit der Uni fertig war, wollten in der Regel alle ins Investmentbanking oder in die Strategieberatung einsteigen. Inzwischen ist das anders. Heute betrachten die besten Absolventen der besten Universitäten Berliner Start-ups als einen wirklich validen Karriereweg."
Ruf von RKI und Charité helfen
Ähnlich sieht das Jochen Möbert von Deutsche Bank Research. Er hebt hervor, dass die Entwicklung der Forschungs- und Entwicklungslandschaft ein noch wichtigerer Faktor sei "als das gesamtwirtschaftliche Umfeld" der Stadt, das sich ebenfalls in den vergangenen Jahren verbessert habe. "Berlins Universitäten zählen in nationalen Rankings oftmals zu den Besten, auch das RKI und die Charité haben einen exzellenten Ruf", sagt Möbert. Wenn es um die Innovationskraft gehe, belege Berlin bei internationalen Vergleichen Spitzenplätze. "Die Berliner Startup-Szene ist eng verzahnt mit dem Forschungsstandort. Sie hat diesen mit geprägt und profitiert ebenso kräftig von diesem."
In Deutschland konzentrierten sich 2021 die Finanzspritzen nach Berlin größtenteils nur noch auf Bayern - dort erhielten Unternehmen laut Ernst & Young rund 4,4 Milliarden Euro, das entspricht einem Marktanteil von 26 Prozent. Die restlichen 14 Prozent verteilten sich auf die übrigen Bundesländer.
Auch die meisten Platzhirsche sind in Berlin Zuhause: Demnach war die größte Transaktion in Deutschland 2021 eine Geldspritze von 861 Millionen Euro für den Berliner Schnelllieferdienst Gorillas. Der Münchner Software-Anbieter Celonis bekam 830 Millionen Euro, dahinter stehen wieder zwei weitere Berliner Start-ups: die Online-Bank N26 und der Broker Trade Republic. KPMG zufolge gehört aber auch der Berliner Lieferdienst Flink mit einer Summe von mehr als 650 Millionen Euro zu den Start-ups mit den höchsten Finanzierungsspritzen.
Viel freies Geld im Markt - den Rest erledigen Videocalls
Diese Zahlen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pandemie das Geschäft für viele Start-ups erschwert. Das zeigt etwa das Beispiel des jungen Unternehmens Heycater, das Catering-Anbieter und Kunden aus der Veranstaltungsbranche zusammenbringt. Weil vergangenes Jahr kaum Events stattfanden, brach das Geschäft ein. Laut der Berliner Wirtschaftsverwaltung erhielten 2020 und 2021 rund 180 Startups die sogenannten "Coronahilfen für Start-ups", es flossen mehr als 125 Millionen Euro.
Vergrößert sich der Blickwinkel aber, glauben Experten, dass die Pandemie die Szene vorwärts gebracht hat. "Home-Office hat vieles befeuert", sagt Prüver. "Mir sagen Investoren, früher sei es ein No-Go für sie gewesen, zu investieren, ohne das Management-Team der Start-ups einmal oder mehrmals zu treffen." Inzwischen gebe es dieses strenge Prinzip nicht mehr. "Heute wird unkompliziert auf Videotelefonie gesetzt und alles geklärt. Da ist ein völlig neuer Zugang zu Investoren entstanden." Prüver hebt aber hervor, dass wegen der weltweiten Niedrigzinsen zudem viel Geld im Markt schwimme.
Während in Berlin, Hamburg und München über eine mögliche Immobilienblase diskutiert wird, ist er sicher, dass Berlin in der Welt der Start-up-Investoren künftig weiterhin eine große Rolle spielen wird. "Die Start-up-Szene in Berlin ist die derzeit dynamischste in ganz Europa. Was die Gesamtsumme angeht, ist London zwar vorne, aber die Dynamik in Berlin ist eine ganz andere." Auch KPMG geht davon aus, dass das Wagniskapital deutschlandweit im neuen Quartal hoch bleibt.
Finanzaufsicht ordnet Expansionsbremse an
Dass so viel Geld in die Start-up-Szene fließt, hält Prüver an sich nicht für problematisch. Im Gegenteil: Start-ups seien unerlässlich für die Wirtschaft. Es bräuchte für gesellschaftliche Forderungen nach Klimaneutralität, Co2-Reduktion oder dem Umstieg auf Elektromobilität Kräfte, die konkret nach Lösungen suchten. "Und so schnell, so agil wie Start-ups Lösungen entwickeln, schafft das kein etabliertes Unternehmen."
Das Tempo mit dem populäre Start-ups wachsen, wird vermutlich nicht so schnell nachlassen. Wie gut das unter der Pyramidenspitze ankommt, ist aber ein andere Frage.
Der Schnelllieferdienst Gorillas etwa machte zuletzt in der Hauptstadt Schlagzeilen, weil Teile der Belegschaft gegen die Arbeitsbedingungen protestierten und ihre Arbeit niederlegten; einzelne Warehouses wurden vorübergehend geschlossen während das Unternehmen expandiert.
Die Berliner Internetbank N26 musste zuletzt mehr als vier Millionen Euro Strafe an die Finanzaufsicht Bafin zahlen. Sie sei unzureichend gegen Fälle von Geldwäsche-Verdacht nachgegangen, hieß es. Wegen Mängeln im Risikomanagement verdonnerten die Finanzaufseher N26 zuletzt auch noch dazu, die Expansion zu bremsen: Die Bank darf zunächst maximal "nur" noch mit 50.000 Neukunden pro Monat wachsen.
Sendung: Inforadio, 13.01.2022, 12 Uhr