Meinung | Pro und Contra Lieferdienste - Contra: Für unsere Faulheit müssen andere schuften

Digitale Lieferdienste versprechen uns mehr Freizeit und Komfort. Den Preis für unsere Bequemlichkeit zahlen nicht nur die Fahrer:innen. Auch wir verlieren etwas, wenn wir unsere Einkäufe nie wieder selbst erledigen. Von Efthymis Angeloudis
Langweilig, zeitraubend, anstrengend: So würden wohl die meisten ihre Einkäufe im Supermarkt oder beim Discounter beschreiben. Man läuft bzw. fährt hin, nimmt sich einen Einkaufswagen oder Korb, irrt minutenlang in den Gängen herum, um alle Sachen vom Einkaufszettel abzuhaken und vergisst am Ende sowieso wieder das Nötigste. Die lange Schlange an der Kasse und den mühsamen Nachhauseweg muss ich an dieser Stelle wohl nicht erwähnen.
Wäre es da nicht verlockend, sich den Stress zu sparen und die Einkäufe über eine App zu erledigen? Ja, klar. Nach einem langen Tag im Home-Office oder im Büro, will man eigentlich nur noch was kochen und sich einen Film reinziehen: App auf, Artikel ausgewählt, klick. In wenigen Minuten ist irgendein armer Schlucker zu einem nach Hause geradelt, in den vierten oder fünften Stock gestiegen und steht mit dem Einkauf vor der Haustür. "Sechster Stock? Kein Problem", lautet der Spruch von Lieferdienst Flink. So ein bisschen Mitleid kann man da schon haben. Dafür gibt es dann zwei Euro Trinkgeld. Das schlechte Gewissen gibt Ruhe - alles gut gemacht.
"Demokratisierung der Faulheit" für manche
"Demokratisierung der Faulheit" nennt das Turancan Salur, General Manager des Lieferdienstes Getir in Großbritannien. Doch für unsere Faulheit muss irgendjemand schuften. Und viele der Rider(um nicht die überwältigende Mehrheit zu sagen), die für Hungerlöhne und unter der ständigen Angst einer Kündigung arbeiten müssen, haben Migrationshintergrund oder kommen aus Ländern des globalen Südens. Unsere angeblich so antirassistische Gesellschaft findet das okay.
Nach dem Start-up-Alltag, dem Think-Tank-Posten oder eben der Redakteurs-Tätigkeit darf uns der Student aus Indien oder die Architektin aus Chile den Einkauf bringen. Die jungen Professionellen gegen die jungen Prekären – ein Lebensstil mit progressiven Hashtags und Moralappellen, solange man seinen eigenen Dreck nicht selbst anschleppen muss. Beschönigen kann man das Ganze mit ein bisschen Fahrrad-Romantik: die offene Straße, das flinke Rennrad. Seltsam nur, dass nicht mehr junge Deutsche berufsbedingt den Drang nach Freiheit auf den Pedalen verspüren und lieber in gut bezahlten, angenehmen Büro-Jobs bleiben.
300 Mitarbeiter gefeuert
Mit einem Lieferdienst, der sich faire Löhne und Arbeitsverhältnisse auf die Fahne schreibt, wäre es aber auch nicht getan. Es liegt in der Natur der Sache, Start-ups, besonders solche, die an die Börse gehen wollen, auf Gewinnmaximierung und Effizienz zu trimmen. Ein Betriebsrat könnte schließlich Investoren und Kapitalspritzen abschrecken. Nicht von ungefähr entließ der Lieferdienst Gorillas diese Woche 300 Mitarbeiter in Berlin. Anfang des Jahres plante der Firmenchef Kagan Sümer noch eine Finanzierungsrunde. Doch inzwischen ist Kapital aufgrund erwarteter Zinserhöhungen der Notenbanken schwerer zu bekommen.
Aber die Fahrer*innen brauchen doch die Jobs, könnte jemand entgegnen. Sicherlich nicht, wenn der Fachkräftemangel in der deutschen Wirtschaft einen neuen Höchststand erreicht hat, würde ich argumentieren. Immerhin fehlen allein in den naturwissenschaftlich-technischen Berufen rund 320.000, in der Altenpflege 120.000 und in der Erziehung 300.000 zusätzliche Fachkräfte. Tausende junge Menschen in prekären Gig-Jobs zu halten, wenn man sie dringend in besser bezahlten und stabilen Arbeitsplätzen braucht, erscheint töricht. Sie gut auszubilden und ausländische Berufsabschlüsse in Deutschland anzuerkennen, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Isolation statt Freizeit
Alles schön und gut, aber wieso sollte uns das vom Online-Shoppen abhalten? Immerhin sparen wir dadurch kostbare Zeit. Doch für was genau verwenden wir diese Zeit? Um noch mehr Zeit auf denselben Apps zu verbringen? Denn was uns als "Demokratisierung der Faulheit" verkauft wird, ist ein schleichender Prozess der Isolation – das genaue Gegenteil von Demokratie. Was übrig bleibt ist das Ich und seine Wünsche.
Eine neue Generation gewöhnt sich daran, alles, was sie will, On-Demand geliefert zu bekommen. Unterhaltung, Lebensmittel, Liebe: Netflix, Gorillas und Tinder haben Millionen Menschen geschaffen, die nur noch ihren eigenen Wunsch(artikel) vor Augen haben und dabei manches andere aus den Augen verlieren. Auch wenn es nur der Rider ist, der sich die Treppen hoch quält.
Hier lesen Sie das Pro: "Wir holen uns kostbare Zeit zurück".