Paritätischer Wohlfahrtsverband - Armut in Deutschland auf Rekordniveau

Mi 29.06.22 | 18:38 Uhr | Von Sigrid Hoff
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Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer vom Paritätischen Gesamtverband, stellt im Haus der Bundespressekonferenz den Paritätischen Armutsbericht für das Jahr 2021 vor. (Quelle: dpa/Jörg Carstensen)
Audio: rbb24 Inforadio | 29.06.22 | Sigrid Hoff | Bild: dpa/Jörg Carstensen

Die Corona-Folgen werden zunehmend sichtbar: Noch nie gab es soviel Armut in Deutschland wie zur Zeit. In Berlin ist fast jeder Fünfte betroffen, im Speckgürtel um die Hauptstadt sieht es besser aus. Von Sigrid Hoff

Die Zahlen sind bedrückend: Mit einer Quote von 16,6 Prozent hat die Armut in Deutschland im zweiten Pandemiejahr ein neues Rekordniveau erreicht. Jeder Sechste ist mittlerweile betroffen, so das Fazit des Paritätischen Armutsberichts, den der Gesamtverband am Mittwoch in Berlin vorstellte.

Die Situation einzelner Gruppen beschrieb Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Verbandes, als besonders dramatisch: Man habe einen traurigen neuen Höchststand bei der Kinderarmut, jedes fünfte Kind sei arm, sagte er. Ebenso gebe es "einen traurigen Rekord bei Rentnerinnen und Rentnern, da sind es auch mittlerweile über 17 Prozent, aber - das ist neu - wir haben auch besonders starke Zuwächse bei Beschäftigten", so Schneider.

Nach zwei Jahren Corona vor allem mehr Selbstständige betroffen

Vor allem bei Selbstständigen sei die Armut sprunghaft angestiegen von neun auf jetzt über 13 Prozent. Empfehlungen wie kürzlich von Bundesfinanzminister Christian Lindner, die aktuelle Inflationsrate von 7,9 Prozent würde alle zwingen, die Gürtel enger zu schnallen, findet Ulrich Schneider zynisch: "Deutschland ist ein tief gespaltenes Land. Zu sagen, die Inflation trifft uns alle, ist völlig falsch."

Bei vielen Haushalten spiele die Inflation im Alltag überhaupt keine Rolle. Diese Haushalte würden weniger sparen können als bisher, denn erstaunlicherweise sei neben der Armut auch die Sparquote in Deutschland auf einem Rekordniveau. Das zeige die Spaltung der Gesellschaft.

Im Berliner Speckgürtel weniger Armut

Auch die regionalen Unterschiede in der Armutsverteilung in Deutschland sind erheblich. Problemregion Nr. 1 ist das Ruhrgebiet, der größte Ballungsraum der Bundesrepublik. Hier ist die Rate von Hartz IV-Empfängern extrem hoch, vor allem bei Kindern. In Gelsenkirchen und in Essen beläuft sie sich auf 39 Prozent, das heißt vier von zehn Kindern sind dort abhängig von Hartz IV.

Aber auch in Thüringen und Berlin sind die Zahlen der von Armut betroffenen Menschen rasant gestiegen. So ist in der Hauptstadt mit 19,6 Prozent fast jeder Fünfte von Armut betroffen. Das Schlusslicht im Ranking bildet jedoch Bremen mit 28 Prozent.

Zu den Aufsteigern hingegen zählen Länder wie Mecklenburg-Vorpommern und auch Brandenburg (14,5 Prozent). Hier verzeichnen die Regionen im Berliner Speckgürtel Havelland-Fläming (13,9 Prozent) und Oder-Spree (13,4 Prozent) eindeutig die niedrigsten Armutsquoten.

Ein Ost-West-Gefälle, so Schneider, lässt sich 30 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr feststellen.

Verband: Entlastungspaket verschärft Spaltung

Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert das von der Bundesregierung aufgelegte Entlastungspaket, das nach dem Gießkannenprinzip Geld verteile: "Damit vertieft man die Spaltung", urteilt Ulrich Schneider, "man vergrößert den Abstand zwischen Arm und Reich, und davor warnen wir sehr."

Der Geschäftsführer fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen zu konzipieren, die nachhaltig sind und bei den Betroffenen auch ankommen. So schlägt er eine dauerhafte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung um 200 Euro vor, sowie eine Verbesserung des Bafögs und des Wohngeldes, um auch diejenigen zu erreichen, die wenig mehr als die Grundsicherung haben.

"Wir hätten die Möglichkeit, mit diesen Reformen die Armut dauerhaft zu bekämpfen und damit unsere Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen gegen Krisen wie Corona oder Preissteigerungsraten", so Schneider. Die steigenden Lebenshaltungskosten als Folge des Kriegs in der Ukraine würden die Situation der Betroffenen im Jahr 2022 zusätzlich verschärfen. Schon jetzt sei die höchste Inflationsrate in 50 Jahren zu verzeichnen.

Das würde zwar nicht automatisch bedeuten, dass die Zahl der Armen steige, doch die Kaufkraft schwinde zusehends. Dadurch verwandele sich soziale Not in soziales Elend. Ulrich Schneider warnt: "Darauf müssen wir uns einstellen, deshalb muss die Regierung jetzt rasch reagieren."

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.06.22, 16:40 Uhr

Beitrag von Sigrid Hoff

67 Kommentare

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  1. 67.

    Im anderen Kommentar geben Sie 30% Sparrate an, die habe ich hier auch drin. Kurz-,mittel-,langfristig für Urlaub, Auto, Alter. Wofür spart 'Ihr' 3000er?

    Ansonsten ist das hier ein fiktives Beispiel zur Verdeutlichung, dass man als Single mit 3k nicht reich ist. Man kann wohl gut leben, aber sicherlich nicht luxuriös.

    @jasa, nochmals sorry

  2. 66.

    Der sägt doch nicht an dem Ast auf dem er selbst sitzt - das ist wie die Partei DIE LINKE, die nie das Wohnungsproblem lösen wird, weil sie dann überhaupt keiner mehr wählen würde, weil auch das letzte Thema futsch wäre.

  3. 65.

    Das stimmt, man kann sich selbst checken, aus der Praxis kann ich berichten, dass ein 30jähriger bei 3.000 EUR monatlich netto sein Budget wie folgt optimalerweise einteilen sollte:
    max. 60% für fixe und variable Ausgaben
    max. 10% für Absicherung
    mind. 30% Sparen (kurz-/mittel-langfristig)

  4. 64.

    Sie sollten sich mal einem Finanzberater anvertrauen, weil hier ihr Konsumverhalten zu hoch ist, das ist eindeutig zu viel bei 3.000 Euro monatlich! "(..)500 für Versicherungen/Vorsorge, 500 für Mobilität, 500 für Lebensmittel(..)" In Summe für Gegenwartskonsum inkl. Miete und Absicherung nicht mehr als 40% wären "gesund".

  5. 63.

    Selten, aber dieses Mal teile ich ihre Ansicht. Arbeitsplätze sind vorhanden, z.B. am Flughafen, in der Gastronomie oder im Restaurant.

  6. 62.

    Okay, dann habe ich Sie doch richtig verstanden.
    "... - beide - ..." aus meinem Kommentar sollten Sie dann bitte auch beachten.

  7. 61.

    Sie haben OMG geantwortet, und sein Beitrag war eine Antwort auf # Anrea, und die wiederum auf #OMG und dann wieder #Andrea, und noch etwas weiter rzurück, dann findet man den Anfang .

  8. 60.

    Sorry, können Sie mir auf die Sprünge helfen?
    Kann Ihren Kommentar nicht wirklich deuten.

  9. 59.

    Tja, so ist es jedes mal, das eigenliche engefasste Thema wird im Forum immer ausgeweitet, und um überhaupt mitzubekommen, wo es den Anfang nahm, muss man alle entsprechende Beiträge zurückverfolgen.
    Auch hier könnte es sich für die jenigen, denen es nicht passt lohnen.

  10. 58.

    "Die Grundlage dafür schaffen aber die Berufstätigen, auch im Niedriglohnsektor!"
    Das ließe sich sicherlich auch über eine vernünftige Besteuerung von Kapitalerträgen finanzieren.

    @Jasa, sorry

  11. 57.

    Sie wissen aber - beide - schon, dass es hier um ARMUT geht?
    Ich könnte ja fast Mitleid mit Ihnen haben

  12. 56.

    Warum stellt man immer nur den kleinen Leuten die Frage, wozu sie mehr Geld benötigen?
    Warum bekommen nur diese Leute Ernährungs- und Freizeitvorschläge von oben?
    Die Unterschicht soll mit Lohn um die Armutsgrenze zufrieden sein?
    Alles nicht so schlimm?
    Armut nur relativ, weil ja viele andere steinreich sind?
    Na das ist ja wirklich eine sensationelle Argumentationslinie der Besserverdienenden.

  13. 55.

    Oh, 500 für Kleidung, Urlaub/Freizeit und sonstige Anschaffungen hatte ich eher für zu gering gehalten. Aber das ist natürlich auch individuell.
    Zumindest reich sind wir wohl beide nicht, wenn wir uns über die Verteilung unseres Gehaltes Gedanken machen und wissen, wofür wir was ausgeben ;)
    Ein Partner, mit dem gewisse Kosten geteilt werden können, ist auch immer hilfreich, Kinder verzerren die Rechnung dann wieder zusätzlich. Kann also durchaus sein, dass meine Hochrechnung in den allgemeinen Singlehaushalt nicht ganz passt.

  14. 54.

    Halte ich trotzdem für sehr sehr hoch gegriffen. Ich kenne niemanden, der pro Monat 500€ zurücklegt für Kleidung und/oder Urlaub. Das wären ja in 6 Monaten schon 3000€. Und Restaurantbesuche kosten bei mir auch bestimmt nicht 250€ im Monat. Vorsorge - ja, das schon eher. In die Vorsorge stecke ich auch monatlich 450€ und mein Aktiendepot ist auch ganz absehnlich. Und ob man ein eigenes Auto hat oder nicht, macht natürlich viel aus, da gebe ich Ihnen recht. Das muss dann jede/r selbst entscheiden, ob das Monatsgehalt dafür reicht.

  15. 53.

    Vielleicht könnte man das folgende Problem lösen, indem man Familien anbietet, in solchen Fällen das komplette "Management" in Form eines Internats zu übernehmen. Dann kann man gezielt die Gruppe der Kinder fördern und fordern und produziert nicht einfach wieder nur eine weitere Armutsgeneration aufgrund der erlebten Vorbilder. Dann gehören solche Meldungen bald der Vergangenheit an und unsere Kinder haben eine faire Chance anstatt, dass jedes 5. Kind von Kinderarmut betroffen ist. Ein einfach nur mehr Geld wird es nicht richten, wer das glaubt ist naiv.

  16. 52.

    Selbst mein Frisör sagt mittlerweile, dass die Leute aufgrund der staatlichen Gelder zu bequem geworden sind. Vielleicht sollte man sich bei der Grundversorgung wieder auf die Menschen konzentrieren, die nicht mehr arbeiten können und nicht die mit einbeziehen die nicht mehr arbeiten wollen. Leuchttürme zu dem Thema, dass der Kreis der Bezugsberechtigen überprüft und ausgedünnt gehört, sind übrigens die in Berlin lebenden Clanfamilien. Da kauft doch ein 21jähriger Neffe einfach mal für über 7.000.000 EUR die Villa von Bushido, die anderen fahren dicke Karren und bekommen Stütze, weil die Autos Ihnen ja nicht gehören. Schlucken über 10l/100km, aber hey, das geht schon mit dem Geld. Wer einmal in Afrika war, weiss, was wirkliche Bedürftigkeit bedeutet.

  17. 51.

    Wie es wohl den Imbissen, Dönerbuden und Kiosken in dieser Stadt gehen wird wenn die vermeintlichen Hartz Empfänger dort nicht mehr einkaufen? Wird sicherlich halb so schlimm, da jeder innerhalb kürzester Zeit auf IT Ingenieur oder Atomkraftwerkskonstrukteur umschulen kann.
    "Fachkräftemangel" und Hartz IV Empfänger in einen Hut zu werfen können nur Leute, die mit der aktuelle Realität nicht viel am Hut haben und die paar Verweigerer als Bild für alle Armen nehmen.

  18. 50.

    Da muss ich zustimmen.
    Die Menschen müssen mit ihrem Wohnort flexibler werden.
    Sachsen hat Probleme, Arbeitskräfte zu finden, obwohl die Arbeitgeber viel anbieten. Es wird nach Personal regelrecht gebettelt. Preiswerten Wohnraum gibt's dazu.

  19. 49.

    Das man hier Alle in einen Topf geschmissen hat, habe ich nie verstanden.
    Hartz4 soll ja durch Arbeitsaufnahme irgendwann enden, aber Jemand, der alt oder krank ist, hat keine Chance, jemals ein einigermaßen, würdevolles Leben zu führen.

  20. 48.

    Ich schrieb Versicherungen/Vorsorge, das beinhaltet die private Altersvorsorge.
    Mobilität beinhaltet Wertverlust/Ansparung eines Fahrzeugs und Sprit, nicht nur ein Abo.
    Lebensmittel beinhalten auch den Restaurantbesuch.
    500 für Kleidung, Urlaub, sonstiges sind in meiner ganz groben Rechnung auch drin.

    Und klar, wenn Sie an einer Stelle sparen, haben Sie an anderer Stelle mehr. Wenn Sie beispielsweise kaum Geld in bestimmte Altersvorsorgeprodukte investieren, bleibt es eben auf dem Girokonto liegen.

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