rbb exklusiv | Gutachten zu Windkraft in Berlin - Wie der Senat den Bau von Windrädern jahrelang blockierte

Windräder passen nicht zur Metropole - das war über Jahre das Mantra der Berliner Politik. Dem rbb liegt jedoch exklusiv eine Senats-Studie vor, die schon 2005 genau das Gegenteil zeigte. Das Gutachten aber verschwand in der Schublade. Von Jan Menzel
Die Zahlen, Karten und Analysen in dem Senats-Papier sind Wind auf die Mühlen von Frank Vach. Der Ingenieur ist einer der Windrad-Pioniere Berlins. Als andere noch an die Atomkraft glaubten oder von günstigem russischem Gas im Überfluss träumten, hatte Vach mit seinem Projektbüro längst das Potential der erneuerbaren Energien erkannt. Gegen alle Bedenken und Widerstände bauten er und seine Mitstreiter 2008 das erste Berliner Windrad im Norden Pankows. Bis heute hat Vachs Firma "umweltplan" 30 solcher Anlagen in Ostdeutschland an den Start gebracht.
Davon drehen sich aber nur ganze drei auf Berliner Stadtgebiet. "Wir haben auf Senatsebene sehr viele Hürden kennengelernt, die uns sehr enttäuscht haben, weil dort nach meinem Verständnis wenig Wille und Bereitschaft da war, die notwendige Energiewende und den Klimaschutz einzuleiten", sagt Vach. Er zeigt auf eine Broschüre der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz aus dem Jahr 2011: "Für große Windkraftanlagen ist in der Stadt kein Platz", heißt es da kurz und knapp.
Studie sieht für Wartenberger Feldmark keine "Tabu-Kriterien"
Verantwortliche Senatorin war damals die Linken-Politikerin Katrin Lompscher, die mit dieser klaren Absage die Linie fortsetzte, die schon Vorgängerin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) als Senatorin für Stadtentwicklung vorgegeben hatte.
Dabei fällt in Junge-Reyers Amtszeit ein Gutachten von 2005, das zur Blaupause für den Ausbau von Windenergie in Berlin hätte werden können. "Expertise zur Nutzung von Windenergie in Berlin" ist die Studie überschrieben, die dem rbb exklusiv vorliegt.
Mögliche Standorte für Windräder in Berlin laut Senats-Studie

Das beauftragte Planungsbüro analysierte darin neun Gebiete mit einer Größe von insgesamt etwas mehr als 1.000 Hektar. Diese Flächen liegen ausnahmslos am Stadtrand, die meisten direkt an der Landesgrenze zu Brandenburg. Eine sehr klare Empfehlung geben die Gutachter für das untersuchte Areal in Buchholz (Bezirk Pankow) ab. Hier blieben nach Abzug von Teilen eines Landschafts- und Naturschutzgebiets immer noch 15 Hektar übrig, auf denen Windnutzung möglich sei.
Im Bereich der Wartenberger Feldmark (Bezirk Lichtenberg) sind es sogar 47 Hektar, die als Windeignungsgebiet eingestuft werden könnten, weil dem keine "Tabu-Kriterien" entgegenstünden. Zu diesen Tabus zählen nahe Wohnbebauung, Lebensräume geschützter Tier- und Pflanzenarten oder der Luftverkehr.
Windenergienutzung halten Autoren "ohne Weiteres" für denkbar
Als mit Abstand größte Fläche wird in der Studie die Krummendammer Heide unweit des Müggelsees auf ihr Potenzial abgeklopft. Das 323 Hektar große Areal sei zwar bewaldet, allerdings handele es sich um "wenig strukturierten Kiefernforst", der nur eine geringe Vielfalt aufweise. Auch die unmittelbare Landschaftskulisse schließe Windräder nicht aus. Die Windenergienutzung halten die Autoren daher "ohne Weiteres" für denkbar, indem "punktuell und randlich" Flächen zur Verfügung gestellt werden. Die Entscheidung sei aber eine Abwägung, die Verwaltung und Politik vornehmen müssten, betonen sie.
Ähnlich schätzen die Gutachter die Möglichkeiten im Schmöckwitzer Werder ganz im Süden Treptow-Köpenicks ein. "Spielräume auf kleinen Teilflächen" sehen sie noch in Arkenberge (Pankow), während der Forst Kanonenberge zwischen Müggelsee und Dahme ausscheide. Dieses intakte, hochwertige Waldgebiet mit seiner Funktion als Erholungsfläche sei mit Windnutzung "nicht vereinbar". Zum gleichen Urteil kommt die Studie im Fall des Bucher Forsts in Pankow. Auch hier sollten sich nach Auffassung der Autoren keine Windräder drehen.
Ein alter Konflikt rückt in den Fokus
Bei zwei anderen Arealen haben sich seit 2005 wesentliche Kriterien derart geändert, dass eine Neubewertung erforderlich ist. Für den Tegeler Forst (54 Hektar) und die Rieselfelder im Spandauer Ortsteil Gatow (23 Hektar) hatten die Gutachter seinerzeit Windräder wegen der Nähe zum Flughafen kategorisch ausgeschlossen. Mit dem Ende des Flugbetriebs in Tegel fällt dieses Totschlagargument jedoch weg. Die Rieselfelder und der Wald in Tegel kommen damit wieder als mögliche Windeignungsgebiete in Frage.
Damit rückt ein Konflikt in den Fokus, um den sich alle zuständigen Senatorinnen und Senatoren in den vergangenen Jahrzehnten herumgemogelt haben. Selbst die grüne Umwelt- und Klimaschutzsenatorin Bettina Jarasch wollte von Windrädern in der Stadt noch zu Jahresanfang nichts wissen. Unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine, der Energiekrise und weil ihr Bundeswirtschaftsminister und Parteifreund Robert Habeck im Nacken sitzt, kündigte Jarasch vor kurzem die 180-Grad-Drehung an.
Naturschützer kritisieren jüngsten Kurswechsel des Senats
"Ohne Scheuklappen" müssten Standorte für Windenergie geprüft werden, erklärte sie überraschend in einer Senatspressekonferenz und zählte neben Gewerbegebieten, Kraftwerksstandorten und den Randbereichen von Bundesfernstraßen auch Landschaftsschutzgebiete und Forsten auf. Auch wenn die beiden letzteren nicht erste Wahl seien, ließ die Grüne keine Zweifel aufkommen, dass sie Ergebnisse sehen will: "Ich meine das schon ernst!"
Naturschützer wie Rainer Altenkamp reagieren fassungslos auf diesen radikalen Kurswechsel. "Das letzte, was wir im Berliner Wald gebrauchen können, ist eine zusätzliche Belastung durch den Bau von Windenergieanlagen", warnt der Vorsitzende des Naturschutzbunds Nabu. Schon jetzt seien die Berliner Forsten durch Hitze und Trockenheit extrem belastet. Als passionierter Greifvogel-Schützer fürchtet Altenkamp zudem, dass die Rotorblätter für Vögel und Fledermäuse zur Todesfalle werden.
"In Wäldern und Landschaftsschutzgebieten haben Windräder nichts suchen", hat sich der Nabu-Vorsitzende Altenkamp deshalb festgelegt. "Industriegebiete kann ich mir dagegen gut vorstellen, weil diese Bereiche durch Lärm und Versiegelung schon vorbelastet sind." Konkrete Überlegungen in diese Richtung stellt der Chef eines anderen großen Umweltschutz-Verbandes schon etwas länger an. Tilman Heuser vom BUND Berlin hat sogar ein paar konkrete Vorschläge für neue Windkraft-Standorte in der Stadt.
BUND: Bis zu 40 Windräder müssten in Berlin gebaut werden
Den CleanTech Park in Marzahn, das Areal am Kraftwerk Ruhleben, den Wissenschaftspark Adlershof und das Industriegebiet am Autobahndreieck Neukölln sieht Heuser als potentielle Flächen für Windenergie. Er fordert, dass sich Experten, Verwaltungen, Unternehmen, Wirtschafts- und Umweltverbände nun sehr zügig an einen Tisch setzen, damit zielorientiert Entscheidungen für konkrete Standorte getroffen werden können. Eine gewisse Beweglichkeit lässt dabei Heuser erkennen: Auch wenn Industrie- und Gewerbeflächen für den BUND die erste Wahl bleiben, schließt er grüne Freiflächen nicht von vornherein aus.
Berlin kann sehr wahrscheinlich auch auf einen Bonus des Bundes hoffen. Während die großen Flächenländer zwei Prozent ihrer Fläche für die Windenergie bereitstellen sollen, müssen die Stadtstaaten wohl "nur" 0,5 Prozent ihre Fläche für Windkraft zu reservieren. Das wäre auf Berlin bezogen in etwa das Areal des Flughafens Tegel. Die 0,5 Prozent entsprechen auch fast genau den 414 Hektar potentiellen Windeignungsflächen, auf die die Senats-Gutachter schon 2005 gekommen waren, damals noch ohne die Gebiete in Gatow und im Tegeler Forst.
Angesichts der Vorgaben für die Erneuerbaren in Ballungsräumen warnt BUND-Chef Heuser vor übertriebenen Sorgen und Horrorszenarien. Je nach Größe müssten zwischen 20 und 40 Windräder in ganz Berlin gebaut werden. "Das ist doch eine sehr überschaubare Zahl", findet er.
Windrad-Pionier Frank Vach sieht das ähnlich. Ihn treibt aber die Sorge um, dass Berlin wie schon 2005, als die Studie fertig war, eine Chance vertut. "Ich hoffe, dass man jetzt nicht wieder einfach nur wegguckt und sagt: 'Es wird sich alles beruhigen und wir können es im Land Berlin lassen, wie es ist."
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.06.2022, 10 Uhr