Streit bei Lieferando - Wenn die Betriebsratswahl vor Gericht endet

Fr 23.09.22 | 14:50 Uhr
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Lieferando-Mitarbeiter:innen protestieren vor der Lieferando-Zentrale in Berlin. (Quelle: dpa/Michael Kuenne)
Audio: rbb24 Inforadio | 23.09.2022 | Bild: dpa/Michael Kuenne

Nachdem die Fahrer:innen am Berliner Lieferando-Standort einen Betriebsrat gewählt haben, soll mehreren Mitgliedern des Wahlvorstandes gekündigt werden. Ein Betroffener wirft Lieferando systematische Behinderung vor. Der Fall geht jetzt vors Arbeitsgericht.
Von Simon Wenzel

Es muss schon eine skurrile Situation gewesen sein, in der sich der neu gegründete Betriebsrat von Lieferando in Berlin kurz nach seiner Gründung befand. Eine der ersten Aufgaben des Betriebsrats waren die Anträge des Unternehmens auf Kündigung von Betriebsratsmitgliedern. Viele von ihnen sollten also ihrer eigenen Kündigung zustimmen. Das taten sie (verständlicherweise) nicht. Deshalb gehen die ersten Fälle nun vors Arbeitsgericht, bereits am Montag steht der erste Termin an.

Betroffen sind Betriebsratsmitglieder, die zuvor im Wahlvorstand waren, also die Betriebsratswahl organisiert haben. Insgesamt zehn solcher Kündigungsanträge gibt es nach Informationen von rbb|24, Lieferando wollte auf Anfrage nur bestätigen, dass es mehrere Verfahren gegen Wahlvorstände gibt, ohne eine genaue Zahl zu nennen. Anfang September hatte die Zeitung "Neues Deutschland" zuerst über den Fall berichtet.

Lieferando wirft dem Wahlvorstand Arbeitszeitbetrug vor

Laut Lieferando sollen die elf Wahlvorstände für ihre Arbeit, die Organisation der Betriebsratswahlen, unverhältnismäßig viele Stunden – insgesamt 6.000 – abgerechnet und das Unternehmen damit um Arbeitszeit betrogen haben. Eine Unternehmenssprecherin teilte schriftlich mit, dass dies ein Vielfaches des üblichen Aufwandes für eine klar definierte Aufgabe sei. Auch die Größe des Wahlvorstandes außergewöhnlich gewesen. Der erhöhte Aufwand sei dem Unternehmen nicht plausibel erklärt worden, gegenüber Lieferando würden die Betroffenen jegliche Auskunft verweigern.

Moritz W., ein Mitglied des ehemaligen Wahlvorstandes, das auch in den Betriebsrat gewählt wurde, schildert allerdings gegenüber rbb|24, dass Lieferando ihm und seinen Kolleg:innen die Arbeit als Wahlvorstand erheblich erschwert und Prozesse ausgebremst haben soll. Er und sein Anwalt vermuten dahinter System, sagen sie.

Hintergrund ist, dass Mitglieder von Wahlvorständen nach dem Gesetz einen besonderen Kündigungsschutz genießen. Bis sechs Monate nach der Wahl können sie nur außerordentlich wegen eines schwerwiegenden Grundes gekündigt werden. Der Verdacht des Arbeitszeitbetrugs, mit dem Lieferando die Kündigungsanträge begründet, ist ein solcher.

Wie lange darf man für die Wahlorganisation brauchen?

Sebastian Riesner von der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG), die öfter mit Arbeitskämpfen bei Lieferdiensten zu tun hat, sagt zum aktuellen Fall bei Lieferando zwar: "Das Handeln zeugt davon, dass der Arbeitgeber keinen Betriebsrat haben möchte." Allerdings stellt er auch fest, dass die Zahl der abgerechneten Stunden im Vergleich in der Tat hoch wirke. Das, so Riesner, könne aber mit der Größe des Wahlvorstandes und der Struktur des Unternehmens zusammenhängen.

Ein Rechenbeispiel: Wenn eine gemeinsame Sitzung aller elf Wahlvorstände acht Stunden andauern würde, könnten nur an einem Tag fast 90 Stunden abzurechnende Wahlvorstandsarbeit entstehen. Die Vorbereitung der Betriebsratswahl lief über Monate, Meetings sollen nach Schilderungen von zwei ehemaligen Mitgliedern des Wahlvorstandes regelmäßig und teilweise mehrsprachig stattgefunden haben.

Wahlvorstandsmitglied Moritz W. begründet unter anderem damit den entstandenen Zeitaufwand. Die Notwendigkeit einzelner Meetings und deren Dauer lässt sich von außen freilich kaum beurteilen. Was ein üblicher Aufwand für Betriebsratswahlen ist, dafür gibt es keine eindeutige Regelung. Zu unterschiedlich sind die Aufwände bei verschiedenen Unternehmensgrößen und Organisationsformen.

Wahlvorstand wirft Lieferando vor, Prozesse verlangsamt zu haben

Bei Lieferando erschwerte die hohe Fluktuation unter den Fahrer:innen die Organisation. Moritz W. sagt, die Mitarbeiterzahl habe sich zwischen dem Beginn der Planungen und der tatsächlichen Wahl stark verändert, von über 2.000 Lieferando-Fahrer:innen auf rund 1.400 in der Wahlwoche. Dadurch hätten Mailverteiler für Informationen zur Wahl mehrfach aktualisiert werden müssen. Insbesondere bei den Wahleinladungen dürften keine Fehler passieren, denn sonst wäre die Wahl dadurch womöglich juristisch anfechtbar, davor habe man sich bestmöglich schützen wollen, sagt Moritz W.

Bei dieser laufenden Aktualisierung des E-Mail-Verteilers soll es Verzögerungen vonseiten des Unternehmens gegeben haben. Aktualisierte Personallisten seien Anfang Juni erst mit Verspätung und nach Androhung einer einstweiligen Verfügung zugesandt worden. Ein Mailverlauf, der rbb|24 vorliegt, belegt das – und dass es sich bei der Verspätung allerdings nur um wenige Tage handelte.

Lieferando teilt zu diesem Thema auf Anfrage mit, die Listen der wahlberechtigten Mitarbeitenden seien den Wahlvorständen "kurzfristig bereitgestellt" worden, außerdem habe man auf Wunsch des Wahlvorstandes Excel-Listen statt automatisierte Mail-Verteiler bereitgestellt, was einen höheren Aufwand für das Unternehmen erforderte.

Lähmende Kommunikation als Strategie?

Die Kommunikation mit dem Unternehmen soll Moritz W. zufolge wiederholt mühsam gewesen sein. Er wirft Lieferando sogar vor, die Organisationsprozesse des Wahlvorstands damit bewusst verlangsamt zu haben.

Auch dafür gibt es einen beispielhaften Mailverkehr als Beleg. Auf eine ausführliche Nachricht mit mehreren inhaltlichen Fragen, die der gesamte Wahlvorstand unterzeichnet hatte, kam vom zuständigen Lieferando-Mitarbeiter zunächst nur eine Antwort, in der es hieß, dass einzig der Vorsitzende des Wahlvorstandes das Recht habe, eine Erklärung abzugeben. Lieferando wolle deshalb erst auf die Fragen in der Mail antworten, wenn sich der Vorsitzende als Verfasser melden würde. Sein Name stand – neben denen der anderen Wahlvorstände – allerdings bereits unter der ursprünglichen Mail. rbb|24 konnte den Mailverlauf einsehen. Laut Moritz W. kein Einzelfall.

Lieferando teilt auf Anfrage seinerseits mit, dass die Kommunikation mit dem Wahlvorstand "außerordentlich schwierig" gewesen sei. Die Mitglieder wären telefonisch nicht erreichbar gewesen, hätten auf E-Mails nur selten reagiert und auch Angebote zu persönlichen Treffen seien nicht wahrgenommen worden.

Während also Lieferando dem Wahlvorstand in seinen Anträgen auf Kündigung vorwirft, zu lange für die Organisation der Wahl gebraucht zu haben und dies nicht plausibel erklärt zu haben, beklagt der Wahlvorstand, dass das Gremium in seiner Arbeit verlangsamt und behindert worden sei, wodurch es eben zu den Verzögerungen gekommen wäre.

Anwalt äußert den Verdacht des "Union Busting"

Für den Berliner Anwalt für Arbeitsrecht, Martin Bechert, der bis auf einen alle Wahlvorstände und den Betriebsrat inzwischen vertritt, ist diese Konstellation kein Zufall. Er spricht von einer Behinderung des Wahlvorstands und unterstellt dem Unternehmen sogar System: "Ich hatte den Verdacht, dass das "Union Busting" ist und sich Lieferando auch tatsächlich entsprechendes Personal dafür besorgt hat", sagt Bechert.

Unter Union Busting versteht man die systematische Behinderung von Gewerkschaften oder Betriebsräten. Bechert ergänzt: "Da sollen Betriebsratsmitglieder belastet werden, psychisch, damit sie ihr Amt niederlegen oder der Betriebsrat nicht mehr richtig funktioniert."

Lieferando widerspricht dem Vorwurf, dass es sich bei den Kündigungsverfahren um sogenanntes "Union Busting" handele, damit habe das "nichts zu tun", schreibt eine Sprecherin. Einzelne Mitarbeitende stünden im Verdacht des Arbeitszeitbetrugs. Das sei eine reine Personalangelegenheit, die sich nicht gegen den Betriebsrat richte. Grundsätzlich begrüße das Unternehmen betriebliche Mitbestimmung.

Ob Absicht oder nicht: Betriebsratsmitglied Moritz W. fühlt sich trotz seines besonderen sechsmonatigen Kündigungsschutzes eingeschüchtert durch das Verfahren. "Das trifft einen schon existenziell", sagt er. Es gehe dabei schließlich um seinen Arbeitsplatz, "das ist in der gegenwärtigen Situation mit steigenden Preisen und Mieten schon beängstigend." Sein Termin vor dem Arbeitsgericht ist für Ende Oktober angesetzt. Rechtsanwalt Bechert, der Moritz W. und acht weitere Wahlvorstände in den Verfahren vertritt, sagt, aus seiner Sicht sei an den Anschuldigungen Lieferandos "nichts dran". Er sei optimistisch, dass er die Fälle gewinnen kann. Ob das so ist, muss sich zeigen.

Auch die Wahl wird angefochten

Dass es Probleme mit Betriebsratsgründungen bei Lieferdiensten und plattformbasierten Unternehmen gibt, ist derweil nichts Neues. Sebastian Riesner von der NGG spricht von einer "grundsätzlich betriebsratsfeindlichen Branche". Ins Bild passt da ein weiterer Schritt Lieferandos, der zumindest nicht als Unterstützung des neuen Betriebsrats zu werten ist. Auch die Wahl an sich wurde inzwischen von Lieferando beim Arbeitsgericht angefochten. Das stehe allerdings nicht in Zusammenhang mit den Vorwürfen wegen Arbeitszeitbetrugs gegen die Wahlvorstände, teilt eine Unternehmenssprecherin auf Anfrage mit.

Für Moritz W. war diese zusätzliche Anfechtung keine Überraschung, sagt er. Darauf habe man sich vorbereitet. Unter anderem deshalb sei der Wahlvorstand bei der ständigen Aktualisierung der Mitarbeiterlisten so penibel gewesen. Womit wir wieder bei der Frage des Zeitaufwandes wären. Die versucht nun ab Montag das Arbeitsgericht zu klären.

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 23.09.2022, 13:40 Uhr

16 Kommentare

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  1. 16.

    Pizzafahrer bekommen bestimmt woanders etwas. Es sei man hat keine Ausbildung gemacht. Außerdem sind solche Angebote total überflüssig. Braucht keen Mensch in einer Großstadt

  2. 15.

    Ein äußerst dümmlicher Kommentar. Wozu jemand etwas braucht darf dieser selbst entscheiden. Angebot und Nachfrage. Basta.

  3. 14.

    Dann fangen Sie an keinen Strom mehr zu nutzen denn dieser wird mit Gas aus Staaten geliefert welche Menschenrechte mit Füßen treten. Ah, soweit wollen Sie aber bestimmt auch wieder nicht als vollkommener Gutmensch gehen

  4. 13.

    Völlig verdrehte Meinung. Der Kunde hat doch nicht Schuld, wenn ein Unternehmer sich nicht an Arbeitnehmerrechte und Gesetze hält und hier Willkür walten lässt. Der Arbeitgeber steht einem Betriebsrat feindlich gegenüber und das allein ist der Schuldige in dieser Situation, wenn es schon um Schuld geht. Aber der arglose Konsument beschäftigt sich doch nicht mit den Zuständen in dieser Branche, in unserem Land geht man davon aus, dass das alles im Bereich der gesetzlichen Vorgaben geschieht.
    Oder kaufen Sie auch keine Lebensmittel mehr ein, weil der Brummi-Fahrer unterbezahlt ist und ausgebeutet wird, vom Betriebsrat ganz zu schweigen?
    Auch Tesla hat einen Betriebsrat, dort sitzt nämlich ein Leitungsmitglied, ganz tolle Sache, steht Betriebsrat drauf und ist Führung drin. Sind wir jetzt alle Schuld oder sollten wir lieber solidarisch gegen das Aushöhlen der Rechte der Arbeitnehmer eintreten?

  5. 12.

    Ja, die Betriebsratsgründung war sehr wichtig, aber der Wille alleine reicht nicht, ergo, eine rechtsichere Begleitung ist unabdingbar, zumal wenn man keine Ahnung hat.
    Die zuständige Gewerkschaft sorgt dafür, dass die Gründung eines Betriebsrates rechtssicher ablaufen kann, natürlich muss man ein Mitglied sein, und sich an seine Gewerkschaft wenden..

  6. 11.

    Nee, das nennt sich Verantwortung übernehmen für die Welt in der wir alle leben wollen. Nicht wegschauen, sondern aktiv mitgestalten - in diesem Fall durch Verzicht auf einen Anbieter!

  7. 10.

    Niemand braucht Lieferando. Früher hatten Restaurants eigenes Botenpersonal, das funktioniert auch. Dazu schlägt Lieferando Geld pro Gericht drauf, also insgesamt machte Lieferando alles teurer. Lieferando beutet seine Mitarbeiter aus. Man kann alternativ selbst abholen, im Restaurant essen gehen oder selbst was kochen - wozu braucht irgendjemand diesen Lieferquatsch, sofern man körperlich nicht eingeschränkt ist?

  8. 9.

    Das Lieferando seine Mitarbeiter schlecht behandelt ist bekannt. Ich bestelle aus diesem Grund nix mehr dort und es gibt ja Alternativen.

  9. 8.

    Das ist eine Förderung welche gleich nach Weltfrieden kommt. Das einzig richtige war die Betriebsratsgründung

  10. 6.

    Die Konsumenten machen sich hier mit schuldig. Man sollte einfach in Bestellboykott treten bis sich etwas ändert.

  11. 5.

    Hauptsache der CEO von Lieferando hat eine Eigentumswohnung in Berlin in bester Lage. Das ist kein StartUp mehr daher pro Betriebsrat

  12. 4.

    Das Arbeitsgesetz sieht vor, dass auf Behinderung von Betriebsräten auch Freiheitsstrafen verhängt werden können. Vielleicht sollte mal so ein Achtungszeichen gesetzt werden. Es reicht langsam, was die sich rausnehmen!

  13. 3.

    Lieferando und Co. scheinen ja nicht nur bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen echte Scheißvereine und Sklaventreiber zu sein sondern haben wohl auch übehaupt keinen Dunst vom deutschen Arbeitsrecht und Mitbestimmungsrechten ihrer ArbN*Innen. Es wird also höchste Zeit, dass solchen Strolchen von den Arbeitsgerichten mal so richtig was ins Stammbuch geschrieben wird, denn diese ArbG können hier nicht einfach machen, was ihnen in den Kram paßt!

  14. 2.

    Dass Lieferando kein Engel ist, sollte wohl allen hinlänglich bekannt sein. Dass ein Betriebsrat Gift für dieses Unternehmen ist, ist zu erwarten. Schon allein aus diesem Grund, dass man erwarten muss, dass das Unternehmen gegen den Betriebsrat vorgehen wird, ist völlig nachvollziehbar, dass man die Arbeit sehr akribisch durchführen muss, um rechtlich sicher zu sein. Ich hoffe, dass Gewerkschaften in diesem Fall unterstützend mit eingreifen, um den Mitarbeitenden zu helfen, dass das Torpedieren des BR erfolglos bleibt.

  15. 1.

    Die Konsumenten sollten aufhören, hier zu bestellen!

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