Einschätzungen für Arbeitsmarkt - Brandenburg trifft es hart, Berlin noch härter
Seit der Finanzkrise steigt die Zahl der Beschäftigten, in Berlin und in Brandenburg ging es aufwärts. Bis die Corona-Krise kam. Unüberschaubar viele Arbeitsplätze sind schon verloren oder gefährdet. Besonders stark betroffen ist Berlin. Von Vanessa Klüber
Seit der Finanzkrise gibt es ständig Erfolgsmeldungen: Die Zahl der Beschäftigten in Deutschland wächst und wächst. Seit 2008 ging es mit der Wirtschaft kontinuierlich bergauf. "Hier ist wirklich die Post abgegangen", so formuliert es Doris Wiethölter. Sie beobachtet die Situation am Arbeitsmarkt und forscht beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für Berlin und Brandenburg. Gute 14 Prozent ging es demnach in Brandenburg aufwärts, und sensationelle 40 Prozent in Berlin bei durchschnittlich 20 Prozent mehr Beschäftigten in ganz Deutschland.
Jetzt, in der Corona-Krise, bricht der deutsche Arbeitsmarkt ein. Und bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten trifft es Berlin besonders schlimm – was an der wirtschaftlichen Struktur und der Struktur der Erwerbstätigen des Landes liegt.
"Systemische Krise" denkbar, aber derzeit nicht berechenbar
Auch Teile des Brandenburger Arbeitsmarkts treffen die wirtschaftlichen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise hart, aber die negativen Effekte für Arbeitnehmer sind voraussichtlich weniger stark als in der Bundeshauptstadt.
Zugrunde gelegt sind allerdings die jetzt beschlossenen Lockerungen der Corona-Maßnahmen, die wieder zurückgenommen werden können. Das macht die Einschätzungen so unsicher. "Es kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass die Situation in der Weltwirtschaft zu einer systemischen Krise eskaliert." So steht es in einem Text von Enzo Weber et al. [IAB], der am 29. April für die Situation der Arbeitnehmer in Deutschland verfasst wurde und die drastische Überschrift "Arbeitsmarkt in der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte" trägt. Eine "systemische Krise" wird den folgenden Einschätzungen aber nicht zugrunde gelegt, weil sie demnach eintreten kann und die Folgen zum jetztigen Zeitpunkt unberechnbar wären, aber nicht eintreten muss.
Was sich dennoch sagen lässt: dass es einige Bundesländer härter treffen wird als andere, darunter eben Berlin.
Struktur der Arbeitnehmer
IAB-Expertin Wiethölter beschreibt es so: In Berlin habe es bei der Beschäftigung vor allem einen Zuwachs bei der Teilzeitarbeit gegeben; seit der Finanzkrise von 2008 111 Prozent mehr. Auch Brandenburg hat seitdem 93 Prozent mehr Menschen in Teilzeitarbeit. Dort vor allem Frauen, Ausländer und Menschen ohne formale Ausbildung. Berlin habe außerdem überdurchschnittlich viele Arbeitnehmer, die Hilfstätigkeiten verrichteten, zum Beispiel in der Gastronomie und der Reinigung. Und genau diesen Arbeitnehmern werde zuerst gekündigt. "Die im Beschäftigungssystem schwächsten Akteure sind am ehesten betroffen", so Wiethölter.
Dagegen sei davon auszugehen, dass viele versuchen werden, ihre qualifizierten Kräfte so lange wie möglich zu behalten, da der Fachkräftemangel vor der Krise enorm war. Der Anteil an diesen Fachkräften sei in den vergangenen Jahren in Berlin aber nicht überdurchschnittlich stark gewachsen. Wenn sie ihre Arbeit verlieren würden, würde dies also auch nicht überdurchschnittlich stark ins Gewicht fallen.
In Berlin hätten seit 2008 auch die Experten und Spezialisten "enorm" zugenommen, wie die Expertin es beschreibt. Für ihre Situation Jobsituation ließen sich jetzt aber kaum Aussagen treffen.
Arbeitsmarktstruktur
Gerade für Berlin lässt sich sagen, dass die Schnittmengen zwischen den besonders hart getroffenen Branchen und den Branchen, die Berlin in den letzten Jahren besonders viele Arbeitnehmer dazugewonnen haben, große Überschneidungen gibt.
Dem IAB-Bericht für Deutschland zufolge gibt es einen nahezu "vollkommenen Ausfall der Wirtschaftstätigkeit" bei Gastgewerbe, Messen, stationärer Handel (ohne Lebensmittel, Kraftstoffe und Apotheken sowie ohne Berücksichtigung bundeslandspezifischer Sonderregeln), Kultur, Unterhaltung, Erholung, Tourismus, Erziehung und Unterricht, Kinos, Bäder, Friseure und Ähnlichem.
Laut Wiethölter sind genau das die Bereiche, "die in Berlin auch eine wesentliche Rolle spielen."
Gastronomie und Hotellerie
In Berlin sind laut Wiethölter beispielsweise rund 80.000 Menschen im Gastgewerbe beschäftigt, das ist ein Anteil von über fünf Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Hauptstadt. In Brandenburg sind es mit einem Anteil von 3,6 Prozent 31.000 Beschäftigte.
"In Berlin sind es 80.000 Beschäftigte, die jetzt mit am stärksten Betroffen sind, wenn man allein diese Branche nimmt", so Wiethölter. Minijobber sind da noch nicht eingerechnet, oder Selbstständige.
Noch größer wird die Zahl derjenigen, die im Gastgewerbe ihren Job verloren haben oder verlieren könnten, wenn zum Beispiel Geringverdiener eingerechnet werden.
Thomas Lengfelder, der Hauptgeschäftsführer des Berliner Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga, rechnet damit, dass es "ein Minimum von 30 Prozent von Verlusten der Betriebe" geben wird, wie er rbb|24 sagt. Als Vertreter des Arbeitgeberverbands mahnt er, dass die Situation für die Betriebe mit über zehn Mitarbeitern besonders problematisch sei, weil diese keine Soforthilfe, sondern nur Kredite bekommen hätten – fraglich, ob diese jemals wieder zurückgezahlt werden können.
Kultur, Kunst, Unterhaltung
Es finden keine Ausstellungen statt, Veranstaltungen sind abgesagt und Lockerungen dort liegen in weiter Ferne, Künstler können ihre Arbeit kaum vor Publikum zeigen. Nach Einschätzung der IAB-Expertin sind im Bereich Kultur und Museen in Berlin 23.000 Menschen beschäftigt, in Brandenburg 8.300, die jetzt in einer problematischen Situation sind und um ihren Job fürchten oder bereits nicht arbeiten können.
Auch hier zählt das IAB auch zum Beispiel die vielen Freiberufler nicht mit.
Der Vorsitzende der Berlin Music Commission, die eine sehr heterogene Musikszene von der Digitalwirtschaft, die Vertriebe über die Clubs und Veranstalter bis hin zu Solo-Selbstständigen und Freelancern unter einem Dach vereint, prognostiziert gegenüber rbb|24: "Ohne ein umfassendes Hilfsprogramm für die deutsche Musikwirtschaft muss damit gerechnet werden, dass bis Jahresende rund die Hälfte der ausübenden Künstler und der Unternehmen der Branche zahlungsunfähig werden."
Die großen Veranstaltungshäuser in Berlin wie Mercedes Benz Arena, Velodrom, Tempodrom, Friedrichstadtpalast – alle hätten sie von einem Tag auf den anderen keine Einnahmen, aber eher noch Rücklagen als die Kleinen und kämen derzeit irgendwie hin. "Drei Monate wird man überstehen, mit Müh und Not vielleicht auch sechs. Darüber hinaus wird’s schwierig." Und dann stünden auch in weiter Zukunft noch viele Arbeitsplätze auf dem Spiel.
Ein Lichtblick für Berlin
Erziehung und Unterricht ist laut Wiethölter in Berlin auch ein wesentlicher Wachstumsbereich. Dieser leide nun auch enorm, zum Beispiel neben Kita Schule und Universität auch andere Bildungseinrichtungen.
Lediglich ein Lichtblick für Berlin bei der Informations- und Kommunikationstechnologie. Diese sei auch stark gewachsen und dürfte jetzt profitieren.
Viele Brandenburger haben Totalausfälle
Bei den Dienstleistungen gibt es auch in Brandenburg in den letzten Jahren immer mehr Beschäftigte. "Ich empfinde es so, dass in den Bereichen, in denen es starke Zuwächse gab, jetzt eine Vollbremsung eingetreten ist", erklärt Wiethölter. Das trifft in Brandenburg vor allem auch Tourismus, wenngleich nicht so stark wie in Berlin. Trotzdem haben auch viele Brandenburger hier Totalausfälle. Vor einer "Pleitewelle" warnte der Gastro-Verband Dehoga Brandenburg Anfang des Monats.
Zudem wird in dem Text des IAB Bund "ein Stillstand für große Teile des Verkehrs- und Lagereisektors (zum Beispiel im Personenflugverkehr) sowie ein vorübergehender Produktionsstopp in der Automobilindustrie angenommen".
Hiervon werde auch Brandenburg im stärkeren Maße betroffen sein. "Das verarbeitende Gewerbe, hier die Automobil- und Luftfahrtbranche, vor allem im Süden Brandenburgs, leidet unter der aktuellen Situation", so Wiethölter. Weil die Produktion hier aber langsam wieder anlaufe, sei die Situation nicht ganz so problematisch.
Nach Einschätzung der Expertin ist in Brandenburg zum Beispiel auch der Bereich Verkehr und Logistik zwischen 2008 und 2019 überdurchschnittlich stark gewachsen.
Für die Logistik gibt es positive und auch negative Nachrichten: Für Brandenburg (und auch Berlin) sei der Frachtverkehr über den Flughafen nur eingeschränkt möglich. Andererseits würden die Güterverkehrszentren in Brandenburg profitieren können. "Wenn im Moment etwas läuft, dann sind es der Güterverkehr unter anderem zur Versorgung der Supermärkte und die Lieferdienste", so Wiethölter. Arbeitnehmer in der Logistik in Brandenburg dürften insgesamt und im Durchschnitt nicht so stark betroffen sein.
Beim Baugewerbe trifft es zur Zeit zum Beispiel die kleineren Handwerksbetriebe, deren Mitarbeiter wohl weniger in die Wohnungen ihrer Kunden gerufen werden. Die Aufträge könnten aber möglicherweise nachgeholt werden.
Sendung: Brandenburg aktuell, 30.04.2020, 19.30 Uhr