Neurowissenschaft - Der Krieg in Nahost bei Social Media und wie Menschen damit umgehen

Mo 23.10.23 | 07:09 Uhr | Von Kira Pieper
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Menschen inspizieren ein zerstörtes Gebäude nach einem israelischen Luftangriff auf die Gaza-Stadt. (Quelle: Mohammad Abu Elsebah)
Bild: dpa/Mohammad Abu Elsebah

Social Media ist voller blutiger Bilder und Videos aus Nahost. Vor allem bei jungen Menschen hinterlässt das Spuren. Warum das so ist und wie Eltern sie unterstützen können, erklärt Neurowissenschaftler Sven Sebastian. Von Kira Pieper

  • Bilderflut bei Social Media zum Krieg in Nahost überfordert vor allem junge Menschen
  • Neurowissenschaftler Sebastian: Sie können Emotionen schon gut wahrnehmen, aber noch nicht ausreichend einordnen
  • Helfen kann eingeschränkter Konsum
  • Eltern können helfen, indem sie Andock-Möglichkeiten schaffen

Weinende Menschen, zerstörte Gebäude und viel Blut auf den Straßen: Öffnet man derzeit Social-Media-Plattformen, wird man zwangsläufig mit Bildern des Kriegs im Nahen Osten konfrontiert. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Bilder und Videos von Journalisten, sondern auch um Inhalte von Bürgern vor Ort, von Opfern und sogar von Tätern. Teilweise Videos und Fotos mit unverpixelten, grausamen Details und ohne Trigger-Warnung.

Und: Konsumenten treffen mitunter auch auf Bilder, die aus dem Zusammenhang gerissen, alt oder gefälscht sind. Von Menschen aus Unwissenheit ge- oder repostet - oder um tatsächlich bewusst aufzuhetzen.

Gehirn bei Jugendlichen in der "Umbauphase"

Im Gespräch mit dem rbb berichteten Schüler und Schülerinnen eines Gymnasiums in Berlin-Friedenau in dieser Woche, wie massiv sie in den vergangenen Tagen bei Social Media mit Bildern des Nahost-Konflikts konfrontiert wurden, wie sehr sie das belastet und wie schwer es für sie ist, einen richtigen und guten Umgang damit zu finden.

Für Neurowissenschaftler Sven Sebastian aus Berlin ist die Reaktion der Schüler keine Überraschung. Das Gehirn von jungen Menschen befinde sich noch in einer "Umbauphase", erklärt er im Gespräch mit rbb|24. Heißt: Emotionen werden stark wahrgenommen, aber den Umgang und die Reflexion mit ihnen schaffe das noch wachsende Gehirn noch nicht.

Junge Generation erlebt eine Krise nach der anderen

Weltweite Krisen – und davon gebe es in jüngster Zeit einige mit der Klimakrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und nun noch der Nahost-Krieg – führen deswegen vor allem bei jungen Menschen zu psychischen Belastungen, so Sebastian.

Das belegen auch Studien aus der – wenn auch noch sehr jungen – Resilienzforschung: Junge Menschen haben noch keine ausgeprägte Widerstandskraft in Krisensituation entwickelt, können Gefühle noch nicht gut einordnen und haben deswegen auch noch keine Strategien entwickelt, wie sie mit Krisen umgehen können. Experten vermuten deswegen, dass Ausnahmesituationen bei ihnen eher psychische Folgen nach sich ziehen als bei älteren Menschen [Leibniz-Institut für Resilienzforschung].

Informationen ausschließlich über Social Media

Erschwerend kommt hinzu, dass sich vor allem junge Menschen heutzutage vor allem mit Hilfe oder teilweise sogar ausschließlich via Social Media informieren. So zeigen die Ergebnisse der "#UseTheNews"-Studie, die im April 2021 vorgestellt und vom Leibniz-Institut für Medienforschung erstellt wurde: Journalistische Angebote sind demnach vor allem für junge Menschen nur noch eine von vielen genutzten Informationsquellen. Zusätzlich gewinnen die sozialen Netzwerke an Relevanz [leibniz-hbi.de].

Auch in einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom vom Februar dieses Jahres gaben mehr als die Hälfte der unter 30-Jährigen an, dass sie ohne soziale Medien nicht wüssten, was in der Welt passiere [bitkom.org]. Konkret: Für 78 Prozent der unter 30-Jährigen in Deutschland ermöglichen Facebook, Instagram, Tiktok und Co. den schnellsten Zugang zum aktuellen Weltgeschehen. Bei den Befragten über 30 Jahren sagten dies 59 Prozent.

Keine Einordnung oder Reflexion

Und noch etwas brachte die Bitkom-Umfrage zu Tage: 43 Prozent der Befragten zwischen 16 und 29 Jahren sagten, soziale Netzwerke hätten einen Einfluss auf ihre politische Meinung. Von den über 30-Jährigen stimmten 20 Prozent dieser Aussage zu. Social Media beeinflusst also die Meinung vor allem von jungen Menschen.

Diese Entwicklung betrachtet Neurowissenschaftler Sven Sebastian mit Sorge. Denn Social-Media-Kanäle arbeiteten vorrangig mit Emotionen, sagt er. Durch die Algorithmen würden Emotionen wie zum Beispiel Angst also noch verstärkt. Einordnung oder Reflexion finde indes nicht statt. Und vor allem Jugendliche könnten dies oft noch nicht ausreichend leisten.

Eigenes Info-Sammeln hinterfragen

Wie also der aktuellen Informationsflut begegnen? Der Neurowissenschaftler empfiehlt: "Zunächst sollte man sich hinterfragen, warum man diese Informationen über den Krieg überhaupt sammelt. Macht man das aus einem Wissensdrang heraus? Weil man für seine Arbeit oder sein Studium die Zusammenhänge verstehen möchte? Oder macht man das vielleicht, weil man den Thrill braucht?"

Und dann solle man sich fragen, was einem das bringe. "Bringt es mich in meinem Alltag weiter? Möchte ich den Menschen vor Ort helfen? Wenn ja, wie kann ich das machen?" Und man solle sich immer wieder fragen, was die Infos mit einem machten und wie es einem damit gehe.

Wenn es einem nicht gut damit gehe, sei es okay, Stopp zu sagen und den Nachrichten- und Social-Media-Konsum auszusetzen. Grundsätzlich rät Sebastian: Man solle klare Grenzen setzen. "Am besten die Informationen am Tag beschränken: drei Quellen raussuchen, ab besten journalistische, und fünf Minuten am Tag zu einem Thema konsumieren. Und dann das Smartphone weglegen."

Andock-Möglichkeiten bieten

Da junge Menschen noch nicht so gut im Reflektieren und Hinterfragen seien, könnten Erwachsene sie unterstützen, rät Sebastian. Allerdings nicht mit einem pauschalem Social-Media-Verbot.

Vielmehr sollten Erwachsene versuchen, mit dem Nachwuchs ins Gespräch zu kommen. "Beim Abendbrot oder beim Frühstück, wenn man zusammensitzt, den Nahostkonflikt ansprechen und fragen: Wie geht es dir damit?" Kinder und Jugendliche also einladen, "anzudocken", wie Sebastian es nennt.

Reflektieren mühsam lernen

Die kognitive Leistung des Hinterfragens und Reflektierens sei das, was uns Menschen von künstlichen Intelligenzen unterscheide, sagt Sebastian. "Das ist elementar, muss allerdings auch mühsam gelernt werden." Und da sich immer mehr junge Menschen ihre Meinungen auf Grundlage von Social Media bildeten, habe er große Bedenken, dass diese Leistung irgendwann auf der Strecke bleibe.

Beitrag von Kira Pieper

4 Kommentare

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  1. 4.

    Hat der rbb auch Bombendrohungen bekommen, momentan werden ja Rundfunksender und Schulen massiv attackiert. Aber von wem? Überall steht, es gäbe einen Hamas Bezug, ich würde gern wissen, ob Medien und Bildungseinrichtungen vom Terror bedroht werden, denn dann ist es ein Angriff und eine Einschüchterung unserer liberalen Gesellschaft, vielleicht darüber mehr aufklären.
    Trauriger Tiefpunkt ist, dass dieser Menschenhass wieder auf unseren Straßen in dieser Dimension unterwegs sein kann, wie kam es dazu?
    Noch trauriger ist es, wenn das Vertrauen in jüdische Opfer und Augenzeugen diskutiert werden muss, hier, weitab vom Grauen. Vertrauen wir einfach den Opfern. Das Menschsein leben.
    Haltung, wir sollten millionenfach auf der Straße sein, gegen Terror und Menschenhass. Wer will unser ganzes System bedrohen? Wieso lassen wir das zu?
    Ich bin traurig, unendlich traurig.

  2. 3.

    Manipulierte Bilder, Videos und Texte gibt es leider schon immer und jetzt halt besonders auf den sog. Sozialen Medienkanälen. Das Problem, dass eine falsche Nachricht viele, zu viele erreichen kann, macht es so schwierig.

  3. 2.

    "Eigenes Info-Sammeln hinterfragen" Gute Idee! Die Hamas-Terroristen und von denen kontrollierte Medien von zu vielen aber leider immer wieder als seriöse Informationsquelle angesehen und dabei der gesunde Menschenverstand ausgeblendet.

  4. 1.

    Das ist extrem schwer. Denn selbst wir Erwachsenen haben damit zu kämpfen, wie wir damit umgehen. Jeder erlebt es eben anders. Gut sind die dran, die sich nicht groß einen Kopf machen. Mir persönlich geht's damit nicht so gut. Hängt auch damit zusammen, dass wir Großeltern sind. Da macht man sich schon viele Gedanken um Kinder und Enkel. Furchtbar traurig!

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