Ungewöhnliche Szenen auf den Straßen West-Berlins: Pferde ziehen Kutschen über den Kurfürstendamm, Kinder laufen die Straße entlang und die Schöneberger Sängerknaben radeln singend durch die Stadt.

Nur vereinzelt ist am 25. November 1973 - selbst auf der Stadtautobahn – ein Auto oder Bus zu sehen. Und nicht nur in West-Berlin: Die Straßen und Autobahnen der gesamten Bundesrepublik Deutschland unterliegen an vier Sonntagen im November und Dezember einem Fahrverbot.

Ursache ist das Embargo der Organisation der Erdöl exportierenden Staaten (OPEC) vom 17. Oktober 1973. Auf der Konferenz in Kuweit beschließen die arabischen Länder, ihre Exporte in die westliche Welt zu drosseln und die Preise zu erhöhen. Sie wollen damit pro-israelisch eingestellte Staaten dazu bringen, im Jom-Kippur-Krieg (6. bis 24. Oktober 1973) Position für die arabische Seite zu beziehen.

Folge ist, dass nach Panikkäufen manche Tankstellen schließen und die sozial-liberale Bundesregierung unter Willy Brandt in einem "Energiesicherungsgesetz" drastische Sparmaßnahmen anordnet. Sie verhängt neben Tempolimits auch Fahrverbote.

Den Berlinern und Berlinerinnen gefällt der autofreie Tag: Den Sonntagsausflug nutzen viele zum Spaziergang auf den leeren Fahrbahnen, andere spielen Fußball oder holen ihre Fahrräder aus dem Keller.

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz (Mitte mit Brille) nimmt den Bus. Der Sozialdemokrat fährt von Steglitz mit seiner Frau Heide – und Hund - in die Innenstadt.

Was die Schöneberger Sängerknaben auf dem Kurfürstendamm wohl gesungen haben?

Andere, wie diese Familie, fahren zum Kontrollpunkt Dreilinden - an der Transitstrecke in die Bundesrepublik gelegen - und finden leere Straßen vor.

Auch in anderen europäischen Staaten finden autofreie Tage statt. In der Schweiz werden die drei Sonntage zu einem regelrechten Volksfest. In den Niederlanden, die durch ihre Beziehung zu Israel besonders vom Embargo betroffen ist, dürfen die Bürger ab dem 4. November 1973 an zehn Sonntagen auf der Autobahn Rollschuhfahren.

Und in Norwegen nimmt König Olav die Straßenbahn, um zum Skifahren zu fahren. Die Fahrkahrte hat bereits ein Mitarbeiter bezahlt.

Im Dezember findet die EU-Gipfelkonferenz in Kopenhagen statt. Sie steht im Zeichen der Ölkrise, von der die Mitgliedsländer unterschiedlich betroffen sind. Am 15. Dezember 1973 wird eine gemeinsame, aber recht allgemein gehaltene, Erklärung über die "Europäische Identität", in der die Gemeinschaft erstmals Grundprinzipien ihres außenpolitischen Handelns festlegt, veröffentlicht.

Die Ölkrise ist ein Schock. Sie offenbart den Europäern schlagartig ihre Abhängigkeit von Öl aus dem Nahen Osten und die Energieressourcen werden diskutiert. Die Bundesregierung, die bisher fünf Atomkraftwerke betreibt, verabschiedet noch im Dezember 1973 ein Sechs-Milliarden-Mark-Programm für den Bau von 40 Kernkraftwerken. Und Ende Dezember 1973 beschließen die OPEC-Staaten, die Ölproduktion wieder zu steigern.

Die Schilder werden nach dem vierten autofreien Sonntag, dem 16. Dezember 1973, wieder abmontiert. Die Tempolimits von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und 80 Stundenkilometern auf Landstraßen bleiben für weitere fünf Monate bestehen.

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