Viele Hürden für Geflüchtete - Der lange Weg in den Arbeitsmarkt

Di 20.06.23 | 06:08 Uhr | Von Linh Tran
Nabil Allahham, Radsportler und IT-Spezialist aus Syrien, in einer Fahrradwerkstatt in Berlin (Quelle: rbb / Linh Tran).
Video: rbb|24 | 20.06.2023 | Nachrichten | Bild: rbb / Linh Tran

Bevor Geflüchtete in Deutschland arbeiten können, müssen sie viele Hindernisse überwinden. Zwei Beispiele aus Berlin zeigen, was alles nötig ist, damit Integration auf dem Arbeitsmarkt gelingen kann. Von Linh Tran

"Wer heute gekündigt wird, kann morgen arbeiten. Egal wo, man muss nur die richtigen Leute kennen", sagt Nabil Allahham, und das fasst ziemlich gut seine Einstellung zum Leben zusammen. Mit Sonnenbrille auf der Nase sitzt er auf einer Bank an der Spree. Schon als kleiner Junge in Syrien, erzählt Allahham, habe er davon geträumt, in Deutschland zu wohnen und bei Mercedes-Benz zu arbeiten. "Ich bin ein wenig verrückt nach Autos," sagt der 30-Jährige schmunzelnd. Dass er nun tatsächlich in Deutschland wohnt, hätte der kleine Junge damals nicht gedacht. An Autos werkelt er zwar nicht - dafür an Fahrrädern.

Allahham studiert als junger Mann BWL in Damaskus, nebenbei wird er Teil der syrischen Fahrrad-Nationalmannschaft. Er ist Leistungssportler, hat ein Ziel vor Augen - er weiß, wie man darauf hinarbeitet. Diese Eigenschaften werden ihm später in Berlin entscheidend helfen. MIt seinem Vierer-Team trainiert er regelmäßig, nimmt an Rennen auch im Ausland teil. Als sich 2015 der Bürgerkrieg zwischen dem syrischen Assad-Regime und den Rebellengrupppen verschärft, beschließen Nabil Allahham und seine Teamkollegen, das Land zu verlassen. Er habe nicht in Assads Armee kämpfen wollen, noch dazu sei die wirtschaftliche Situation aussichtslos geworden, sagt Allahham heute. Über Libanon, Türkei, Griechenland, Serbien, Ungarn, Österreich kommt er im September 2015 schließlich nach Deutschland, erzählt Nabil Allahham. Er entscheidet sich, zu bleiben und sich hier ein neues Leben aufzubauen.

Nabil Allahham, Radsportler und IT-Spezialist aus Syrien, in einer Fahrradwerkstatt in Berlin (Quelle: rbb / Linh Tran).
Heute schraubt Nabil Allahham nur noch an Wochenenden an Rädern herum - hauptberuflich hat er inzwischen woanders Fuß gefasst. | Bild: rbb / Linh Tran

Fast zwei Jahre dauert es bis zum Bescheid

Beim Landesamt für Gesundheit und Soziales steht Nabil Allahham 2015 wie so viele tagelang an, um einen Antrag auf Asylverfahren zu stellen: "Wir standen täglich von 7 bis 21 Uhr dort in der Reihe. Wer Glück hat, schafft es an diesem Tag. Wer nicht, muss am nächsten Tag wiederkommen. Und wir waren zwei Wochen dort, bis wir unseren Antrag stellen konnten", sagt er.

Wie gut die Chancen auf eine gelungene Integration sind - auch in den Arbeitsmarkt -, hängt unter anderem von der Bleibeperspektive ab. Erst nach dem Asylverfahren wird deutlich, ob die Geflüchteten in Deutschland eine Zukunft haben. Je nachdem, woher sie kommen und in welchem Bundesland der Antrag bearbeitet wird, kann es sieben Monate oder auch bis zu 51 Monaten dauern. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung vom März 2023 hervor.

Nabil Allahham wartet insgesamt fast zwei Jahre, bis über seinen Antrag entschieden worden ist: Er darf bleiben. In der Zwischenzeit lernen er und seine früheren Teamkollegen aus Syrien die deutsche Sprache. Und sie fangen wieder mit dem Radsport an. Im Velodrom in Friedrichshain trainieren sie mit der Unterstützung von Berliner Rennradprofis. Später wird er Nabil Allahham von einem seiner neuen Bekannten bei einem Fahrradladen in Potsdam empfohlen. Für Allahham ein kostbares Stück Alltag nach dem Chaos der vergangenen Jahre: Knapp 18 Monate, nachdem er 2015 in Deutschland angekommen ist, fängt er in einem Fahrradladen als Mechaniker an, erzählt er. Erst als Aushilfe, dann in Teilzeit, dann in Vollzeit.

Wir sind nicht alle perfekt. Es gibt Leute, die können nicht arbeiten, es gibt Leute, die wollen nicht arbeiten. Und es gibt Leute, die wollen richtig was machen.

Nabil Allahham (30)

Drei Monate Warten - dann dürfen viele Geflüchtete arbeiten

Im Schnitt ist die Hälfte der Geflüchteten, die seit 2013 nach Deutschland gekommen sind, nach fünf Jahren erwerbstätig. Das geht aus einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hervor [iab.de]. Ein weiteres Ergebnis: Die meisten Geflüchteten, die die Möglichkeit haben, in Deutschland zu bleiben, wollen auch arbeiten. Dazu gehört aber auch: Ein Asylverfahren abzuwarten, Deutsch zu lernen, eine Wohnung zu finden und eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. All das braucht Zeit.

Ob und wie viel Geflüchtete arbeiten dürfen, hängt in Deutschland von ihrem Status ab. In der Regel gilt: In den ersten drei Monaten sind sie vollständig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, so ist es gesetzlich geregelt [arbeitsagentur.de]. Erst ab dem vierten Monat dürfen sie in bestimmten Anstellungsverhältnissen ihr eigenes Geld verdienen. Wenn sie keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, sondern eine Duldung, muss dem Job erst von der Ausländerbehörde und der Bundesagentur für Arbeit zugestimmt werden. Erst nach ungefähr vier Jahren können Geflüchtete jeder Arbeit nachgehen. Nabil Allaham war also vergleichsweise schnell dran.

Mittlerweile haben alle aus seinem Rad-Team einen Job, erzählt Allahham. Aber er kennt auch Menschen, die noch nicht arbeiten, auch junge Leute. Wo das Problem liegt, verstehe er nicht, sagt er. Er selbst habe mit 18 Jahren sofort studiert, um so schnell wie möglich mit einem guten Abschluss eine Karriere zu beginnen. Er kenne auch einen älteren Mann, der sich nicht zuletzt über Arbeit sehr gut integriert habe. Aber es gäbe nun mal Faule, so wie überall, sagt er. "Wir sind nicht alle perfekt. Es gibt Leute, die können nicht arbeiten, es gibt Leute, die wollen nicht arbeiten. Und es gibt Leute, die wollen richtig was machen", sagt Allahham. Im Gespräch mit ihm wird schnell klar, dass er sich zur letzteren Gruppe zählt. Er bringt dafür aber auch bessere Voraussetzungen mit als viele andere.

Sprache als eine der Haupthürden

Nicht alle, die nach Deutschland kommen, haben die gleichen Möglichkeiten wie Allahham. Während er sich bei seiner Ankunft schon auf Englisch verständigen kann und studiert hat, können andere nur vereinzelte Wörter. Wieder andere hatten ihr ganzes Leben nicht einmal die Möglichkeit, Lesen oder Schreiben zu lernen. Die Sprache ist eine der Haupthürden, die Geflüchtete überwinden müssen, sagt Yuliya Kosyakova. Sie leitet den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB). Zusammen mit ihrem Kollegen Herbert Brücker leitet sie die repräsentative Langzeitstudie, bei der die Lebenssituation von Geflüchteten systematisch erfragt wird. So entsteht ein umfassendes Bild, das über Alltagsanekdoten beim Thema Geflüchtete hinausweist.

Im Gegensatz zu anderen Zuwander:innen, die sich aktiv dazu entscheiden, nach Deutschland einzureisen und dementsprechend auch Vorbereitungszeit hatten, stünden Geflüchtete vor der Herausforderung, sich ganz plötzlich zurechtfinden zu müssen, erklärt Yuliya Kosyakova: “Sie haben keine Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen oder Informationen zu sammeln oder überhaupt Dokumente mitzunehmen.”

Diejenigen, die schon eine Ausbildung gemacht oder studiert haben, können sich diese Qualifikation in Deutschland anerkennen lassen. Theoretisch. In der Praxis gar nicht so einfach. Das BWL-Studium von Nabil Allahham sei in Deutschland zum Beispiel nur als Ausbildung anerkannt worden, sagt er. Nicht selten machen deshalb auch gut ausgebildete Menschen nach ihrer Flucht noch unbezahlte Praktika. 2017 ergreift auch Nabil Allahham diese Chance: Er versucht sich bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (pwc).

Mariam AlMuhammed, medizinische Laborassistentin aus Syrien, in ihrer Wohnung in Berlin (Quelle: rbb / Linh Tran).Mariam AlMuhammed wollte eigentlich so schnell wie möglich arbeiten und Geld verdienen, wie sie sagt. Aber es wurde dann kompliziert.

"Ich war richtig enttäuscht"

So ähnlich ging es auch Mariam AlMuhammed. In Damaskus war sie neun Jahre als medizinische Laboratoriumsassistentin tätig. Nach ihrer Flucht in den Nordirak arbeitet sie zwei weitere Jahre in dem Job. In Deutschland werden ihr Studium und ihre Berufserfahrungen aber nur teilweise anerkannt. Ihr wird empfohlen, eine Zusatzschulung zu machen. Die Kosten: 5.500 Euro. Das kann sie nicht bezahlen. "Ich dachte, ich bekomme die Erlaubnis und kann gleich arbeiten. Ich war richtig enttäuscht danach", erinnert sich die heute 44-Jährige.

Eine Erfahrung, die viele Geflüchtete in Gesprächen schildern: Sie wollen loslegen und möglichst schnell Geld verdienen, nicht zuletzt, um Angehörige in ihren Heimatländern unterstützen zu können - aber verstehen dann oft nicht, warum sie erstmal durch die Bürokratie ausgebremst werden. "Training on the job" ist in anderen Ländern üblicher, also mit einer ersten Anstellung in der Tasche berufsbegleitend die Lücke zwischen dem erlernten Wissen und dem, was der Arbeitsmarkt im neuen Land genau erfordert, zu schließen.

Problem: Familienfreundliche Sprachkurse

Als Mariam AlMuhammed 2012 vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat Syrien Richtung Nordirak flieht, hat sie nicht viel dabei: ihre drei Kinder an der Hand, ein ungeborenes im Bauch, den Ehering am Finger und eine kleine Tasche: Darin Pässe, Impfausweise und eine Handvoll Fotos. Geld gehört nicht dazu. 2016 kommt sie nach Deutschland, wohin ihr Ehemann bereits geflohen ist. Er hat Familienzusammenführung beantragt. Für Mariam AlMuhammed steht fest: Sie will wieder in ihrem Fachbereich arbeiten. Doch immer wieder gibt es Hindernisse.

Einen Sprachkurs zum Beispiel kann sie erst machen, wenn jemand auf ihre zweijährige Tochter aufpasst. Ihr Mann arbeitet Vollzeit. Solange AlMuhammed keinen Kitaplatz findet, ist sie unflexibel, kann nur schwer zu Sprachschulen fahren. Und ohne Sprachkenntnisse kommt sie unmöglich wieder in den medizinischen Fachbereich.

Zu ihrem Glück kommt ihr das Heim entgegen, in dem sie damals wohnt: AlMuhammed wendet sich zusammen mit zwei, drei anderen Frauen an den Leiter und bittet ihn: Ob sie nicht auch dort eine Sprachlehrerin oder einen- lehrer einladen könnten? Der Mann ist einverstanden. AlMuhammed lernt noch in der Unterkunft Deutsch auf B1-Level. Das ist das Niveau, das Zuwander:innen am Ende eines Integrationskurses in einem Test erreichen sollen. In der Regel genügt es erst einmal, um in vielen Jobs loslegen zu können. In AlMuhammeds Fall ist B2 nötig.

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Besonders Frauen mit kleinen Kindern tun sich auf dem Arbeitsmarkt schwer

Mit viel Eigeninitiative ist es Mariam AlMuhammed gelungen, sich von den Hindernissen nicht aufhalten zu lassen. Aber vor allem geflüchtete Frauen mit kleinen Kindern wie sie haben es schwer, im deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Von den Menschen, die seit 2013 nach Deutschland geflüchtet sind, arbeiten heute 60 Prozent der Männer, aber nur 28 Prozent der Frauen [doku.iab.de]. "Auf Frauen kommen zusätzliche Hürden zu. Sie haben häufig Bildungsabschlüsse, die sehr spezifisch für ein Land sind", sagt die Forscherin Kosyakova. Auch Kinder seien ein Faktor, der bei der Förderung von Geflüchteten berücksichtigt werden müsse. Kosyakova schlägt als eine mögliche Lösung Online-Sprachkurse vor, die auch von zu Hause aus absolviert werden könnten.

"Wir sind so Personen, wir können ohne Arbeit nicht leben, mein Mann und ich", sagt Mariam AlMuhammed. Doch trotz des Ziels vor Augen fällt es ihr schwer, alles von selbst zu schaffen. Dann lernt sie die "Türöffner" kennen, einen Verein von Union Berlin, der sich als Netzwerk für Geflüchtete versteht und bei der Vermittlung von Ausbildungsplätzen oder Jobs hilft.

Grit Driewer, damals Geschäftsstellenleiterin von "Türöffner e.V." ist AlMuhammed eine Riesenhilfe: "Wenn ich keine Motivation mehr hatte, hat sie gesagt: Doch, du schaffst das", erzählt AlMuhammed. Driewer geht mit ihr zum Bürgeramt, zum Notariat, wieder zum Bürgeramt. Auch als sie nur eine Teilanerkennung ihrer Qualifikation bekommt, bleibt Driewer am Ball, erinnert sich AlMuhammed. Und dann die Erleichterung: AlMuhammed findet einen Arbeitgeber, der die Kosten für die Zusatzschulung übernimmt.

"Bei hochqualifizierten Berufen wie dem von Mariam AlMuhammed ist es problematisch und kostenintensiv", sagt Grit Driewer. Es gebe nur wenige Anbieter, die diese Umschulungen anböten. Ein bestimmtes Sprachniveau sei erforderlich - und meistens auch Arbeitgeber, die diese Schulungen übernehmen. AlMuhammed sei da kein Einzelfall gewesen.

Mariam AlMuhammed, medizinische Laborassistentin aus Syrien, in ihrer Wohnung in Berlin (Quelle: rbb / Linh Tran).
"Wenn ich keine Motivation mehr hatte, hat sie gesagt: Doch, du schaffst das": Mariam AlMuhammed über ihre ehrenamtliche Unterstützerin Grit Driewer.Bild: rbb / Linh Tran

Schnell angepasst - durch Netzwerke in die deutsche Gesellschaft

AlMuhammed ist drangeblieben, auch wenn sie mit den deutschen Vorgaben zu kämpfen hatte. Es gibt viele andere Beispiele von Geflüchteten, die diesen Anschluss nicht geschafft haben. Mariam AlMuhammed und Nabil Allahham hatten neben ihrer Vorbildung auch das Glück, nicht von Krieg und Flucht traumatisiert worden zu sein. Sie konnten sich schnell anpassen - nicht zuletzt, weil sie schnell Verbindungen zu Deutschen aufbauen konnten. "Man braucht ein bisschen Motivation", sagt AlMuhammed und scheint den "Türöffnern" sehr dankbar zu sein. Sie ist gut ausgebildet und motiviert nach Deutschland gekommen, hat Fähigkeiten und Eigenschaften, die der deutsche Arbeitsmarkt eigentlich dringend gebrauchen kann. Holprig wurde es erst mit der deutschen Bürokratie.

Damit Menschen in einem neuen Land richtig ankommen können, braucht es neben Eigeninitative eine Sprachförderung, eine Anerkennung der beruflichen Fähigkeiten und individuelle Unterstützung durch Netzwerke in die deutsche Gesellschaft. Nabil Allahham hat diese Unterstützung über das Radfahren bekommen, Mariam AlMuhammed hat sie sich bei einem Verein von ehrenamtlichen Helfer:innen geholt. Im Juli hat sie nun ihre letzte Prüfung ihrer Zusatzschulung.

Nabil Allahham arbeitet mittlerweile als fest angestellter IT-Spezialist bei PricewaterhouseCoopers, an Fahrrädern schraubt er nur noch am Wochenende, auch aus alter Leidenschaft. Er ist verheiratet und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Demnächst will er nochmal studieren, sagt er: "Ich bin der Typ, der immer eine Baustelle im Leben haben will."

Sendung: rbb|24, 20.06.2023, 16:00 Uhr

Beitrag von Linh Tran

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