Psychiatrie für Straftäter - Chefarzt des Berliner Maßregelvollzugs reicht Kündigung ein

Fr 19.04.24 | 19:11 Uhr
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Symbolbild: Maßregelvollzug in der Oranienburger Straße. (Quelle: dpa/Schoening)
Video: rbb|24 | 20.04.2024 | Material: rbb24 Abendschau | Bild: dpa/Schoening

Seit Jahren berichten Mitarbeitende von einer Zunahme der Gewalt in der überfüllten Klinik für psychisch kranke Straftäter. Nun bittet der Chefarzt des Maßregelvollzugs die Senatsverwaltung für Gesundheit um die Aufhebung seines Arbeitsvertrags.

  • Ärztlicher Leiter des Maßregelvollzugs, Sven Reiners, kritisiert mit Blick auf die Klinik "katastrophalen Zustand ohne konkrete Perspektive"
  • Durch Überbelegung und Personalmangel seien Ausbruchversuche zu befürchten
  • Chefarzt Reiners und der Präsident der Berliner Ärztekammer, Peter Bobbert, kritisieren fehlende Initiative der Senatsverwaltung für Gesundheit

Der Ärztliche Leiter des Berliner Maßregelvollzugs, Sven Reiners, hat die Kündigung eingereicht. In seinem Schreiben an die Geschäftsleitung und die Gesundheitssenatorin, das dem rbb aus Verwaltungskreisen zugespielt wurde, begründet er das mit einem "katastrophalen Zustand ohne konkrete Perspektive" in der von Überbelegung und Personalmangel betroffenen Einrichtung für psychisch kranke Straftäter.

"Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere aber die letzten zwölf Monate, haben zu Zuständen geführt, die ich in keinerlei Hinsicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren kann", begründet Reiners seine Entscheidung. Die Unterbringung einzelner Patienten sei menschenunwürdig. Junge Ärzte in Ausbildung unter diesen Umständen dort arbeiten zu lassen, sei nicht zu verantworten.

Reiners hatte seit 2011 im Krankenhaus des Maßregelvollzugs in Reinickendorf gearbeitet und die ärztliche Leitung vor drei Jahren übernommen.

Psychisch kranke Straftäter in normaler JVA

Derzeit würden Straftäter abgewiesen, die eigentlich im Maßregelvollzug untergebracht und therapiert werden müssten, sagte Reiners dem rbb. Die abgewiesenen Straftäter würden stattdessen im Regelvollzug untergebracht, also in einem normalen Gefängnis. Zu befürchten seien Ausbruchversuche von psychisch kranken, gefährlichen Straftätern aus dem überfüllten Maßregelvollzug, so Reiners weiter.

Reiners, der möglichst nach einem geordneten Übergang spätestens Ende Juni aufhören will, kritisierte die Rolle der Gesundheitsverwaltung. Seiner Überzeugung nach sei eine kurzfristige Entlastung auf dem Gelände der Anstalt möglich gewesen. Er habe den Eindruck, die Politik wolle aber lieber bis zur nächsten Wahl warten. Die zwischenzeitlich getroffene Kompromisslösung, bei der psychisch kranke Straftäter nicht im Maßregelvollzug, sondern in Haft untergebracht werden, sei rechtswidrig. Er könne nicht mehr Teil dieses schweren Organisationsversagens sein, sagte Reiners dem rbb.

Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Peter Bobbert, schloss sich der harten Kritik an. "Seit Monaten warnen wir davor, vor unseren Augen kollabiert ein Krankenhaus", sagte Bobbert dem rbb. Die Verantwortung dafür trage die Politik, weil sie seit Jahren nichts unternehme. "An der Spitze der Verantwortlichkeit steht der Regierende Bürgermeister Kai Wegner - er ist jetzt in der Pflicht." Die Beschäftigten müssten tagtäglich eine Gefahr für ihre Gesundheit eingehen, weil die Sicherheit im Maßregelvollzug nicht gewährleistet sei. Betroffen sei aber auch die Sicherheit der Stadt. Funktioniere die Sicherheit des Krankenhauses nicht, "dann ist die Sicherheit für jede Bürgerin und für jeden Bürger in Gefahr". Die Gesundheitsverwaltung war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Brandbriefe von Ärzten und Pflegekräften

In der Vergangenheit hatte das Personal Brandbriefe an die Politik geschrieben und die Zustände angeprangert. Ärzte nannten die Zustände in der Vergangenheit menschenunwürdig. Der rbb hatte darüber tagesaktuell und in längeren Reportagen ausführlich berichtet.

Der Personalrat der Klinik und andere Beschäftigte hatten rbb|24 bereits im vergangenen Sommer berichtet, dass die Situation in der überfüllten Klinik außer Kontrolle geraten sei. Nach internen Zahlen sollen Meldungen körperlicher Gewalt mit psychischen Folgen für Beschäftigte massiv zugenommen haben.

Gleichzeitig kritisierte der Personalrat eine lückenhafte interne Dokumentation "besonderer Ereignisse", zu denen auch Übergriffe auf das Personal zählten. Aufgrund fehlender Meldungen sei die Senatsverwaltung für Gesundheit als zuständige Dienstaufsicht zeitweise nicht über das wahre Ausmaß der Missstände im Bilde gewesen.

Zudem hatten externe Psychologen, die Ex-Patienten des Maßregelvollzugs betreuen, gegenüber rbb|24 angeprangert, dass zunehmend instabile Patienten aus der überfüllten Klinik in offenere Wohngruppen verlegt worden sein sollen.

Im Krankenhaus des Maßregelvollzugs sitzen psychisch kranke, verurteilte Straftäter ein. Die Häuser auf dem Gelände der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf und in der Außenstation in Berlin-Buch sind besonders gesichert. Reiners war rund drei Jahre Chefarzt und Vollzugsleiter des Krankenhauses des Berliner Maßregelvollzugs.

Sendung: rbb24 Abendschau, 19.04.2024, 19:30 Uhr

65 Kommentare

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  1. 65.

    Ich gebe Dir Recht, dass der Maßregelvollzug in Berlin schon sehr lange rückständig ist, zunehmend leidet. Aber in der Reihenfolge war zu allererst Frau Katrin Lompscher, Die Linke, von 2006 bis 2011 ignorant gegenüber den Bedürfnissen des KMV. Den Gipfel der Ignoranz, ja man kann sagen der kompletten Verleugnung eigener Verantwortung für den Maßregelvollzug, stellte aber Frau Dilek Kajaici, SPD, (2016 - 21) auf. Schon unter ihrer Verantwortung warf die Vorgängerin des jetzt wiederum resgnierten ärztl. Leiters das Handtuch. Der einzig engagierte Politiker der sich in den letzten 40 Jahren mit seiner ganzen Autorität der Verantwortung seines Amtes gestellt hat, war und bleibt der 2020 verstorbene Herr Detlef Orwath, CDU. 1991 - 98, trotz seiner eigentlich subalternen Funktion als Staatssekretär im Gesundheitssenat. Ihm ist es noch heute zu verdanken, dass das KMV damals mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet wurde und basale Strukturen geschaffen wurden, die Therapie ermöglichten.

  2. 64.

    Haben Sie das Interview mit dem ärztlichen Leiter gesehen /gehört?

    Ich für meinen Teil habe keinerlei Zweifel an der Betroffenheit, Redlichkeit und Begründung von Sven Reiners.
    Also auch keinen Grund an seiner Begründung zu Zweifeln: "Ich kann und will nicht mehr die Verantwortung für dieses organisierte Versagen übernehmen"

    Zudem sollte Ihnen die Zustimmung des Präsidenten der Ärztekammer Berlins, die Brandbriefe von Pflegekräften und Ärzten - seit Monaten(!) - verbieten, derart denunziatorische, ehrabschneidende und die katastrophalen Verhältnisse relativierenden Vermutungen anzustellen.

  3. 63.

    Richtig. Weshalb die Zustände nach der Wahl 2016 AUCH RRG anzulasten sind. Obwohl RRG viel zu kurz im Amt war, um auch diese Baustelle der Totsparpolitik ausreichend zu bearbeiten.

    Aber "Michi" findet diese Zustände ja richtig, weil ihm die Einhaltung von Grundgesetz, Strafvollzugs- und Maßregelsvollzugsgesetz zu teuer ist. Bzw. dahinter "Sozialromantik" "Kuscheljustiz" und "Hotelvollzug vermutet.
    Er befindet sich also im vollem Einklang mit denen, die mit ihrer faktischen, praktischen Politik die Verantwortung anzulasten ist. Egal welcher Partei, oder welchem Senat sie angehörten.
    Weshalb sein Argument also reine Demagogie ist. Am SACHverhalt vorbei.

  4. 62.

    Es gibt da nichts "durchzurechnen":

    Menschen, die straffällig geworden sind, gleich erstmal, was sie taten, sind nach wie vor Menschen mit Menschenrechten, wobei der notwendige Teil davon ihnen eingeschränkt ist. Wer sie aufgrund ihrer Taten hingegen aus dem Menschsein entlässt, handelt aus Rache, aus Vergeltung und aus dem Gedanken einer Aburteilung heraus.

    Damit stellt sich eine Gemeinschaft - die doch eigentlich klüger sein sollte - unterhalb des Fehlverhaltens eines Einzelnen.

    Ohne Ihnen dabei zu nahe treten zu wollen: Diejenigen, die am Lautesten nach Aburteilung rufen, sind zumeist Diejenigen, die am Nächsten an der Tat dran sind.

  5. 61.

    Ich gebe Dir Recht, dass der Maßregelvollzug in Berlin schon sehr lange rückständig ist, zunehmend leidet. Aber in der Reihenfolge war zu allererst Frau Katrin Lompscher, Die Linke, von 2006 bis 2011 ignorant gegenüber den Bedürfnissen des KMV. Den Gipfel der Ignoranz, ja man kann sagen der kompletten Verleugnung eigener Verantwortung für den Maßregelvollzug, stellte aber Frau Dilek Kajaici, SPD, (2016 - 21) auf. Schon unter ihrer Verantwortung warf die Vorgängerin des jetzt wiederum resgnierten ärztl. Leiters das Handtuch. Der einzig engagierte Politiker der sich in den letzten 40 Jahren mit seiner ganzen Autorität der Verantwortung seines Amtes gestellt hat, war und bleibt der 2020 verstorbene Herr Detlef Orwath, CDU. 1991 - 98, trotz seiner eigentlich subalternen Funktion als Staatssekretär im Gesundheitssenat. Ihm ist es noch heute zu verdanken, dass das KMV damals mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet wurde und basale Strukturen geschaffen wurden, die Therapie ermöglichten.

  6. 60.

    Die Zustände sind sehr wohl seit langem bekannt und wurden durch die Arbeitsebene immer wieder geschildert. Die Hausleitungen der vergangenen Perioden haben nicht reagiert, egal ob rot oder grün. Ist ja auch kein Thema mit Glamour.

  7. 59.

    "Berlin wurde bis Anfang 2023 von Rot-Grün-Rot regiert.
    Und da waren die Zustände im Maßregelvollzug schon prekär."

    So weit, so dumm. Die Zustände sind nicht RRG anzulasten, im Gegenteil. Die Zustände waren schon unter Heilmann und Czaja prekär. Das sind die Verantwortlichen die gespart haben "bis es quietscht".

  8. 58.

    Mit den ersten Teil des Komentares gehe ich durchaus mit. Hilfe und Härte trifft es aber nicht wirklich , es geht hier hauptsächlich um zwei Paragraphen 64 und 63.Die 64 könnten durchaus im Strafvollzug behandelt werden wofür sich sehr viele Maßregelvollzüge in Deutschland aussprechen. Die Straftäter /Patienten mit Paragraph 63 möchte ich unbehandelt in keiner WG haben , das ist auch nicht die Hilfe die gebraucht wird.

  9. 57.

    Ich werde Ihnen doch nicht die Arbeit abnehmen einmal Ihre reaktionären Vorstellungen von Strafvollzug, die Folgekosten und Kollateralschäden reaktionärer Zuchthaus-Romantik durchzurechnen und darzulegen.
    Ist Ihr Job, schicken Sie sich an Grundgesetz, Strafvollzugs-, Maßregvollzugsgesetz, die gesetzliche Verpflichtung zur Resozialisierung als Vollzugsziel ausser Kraft setzen zu wollen. Dafür müssen SIE eine Gesetzesinitiative gegen geltendes Gesetz einbringen. Die Strafrechts- und Strafvollzugsreform von 1977 ist eine der wesentlichen konstituierenden Errungenschaften des Rechtsstaates BRD. Bewusster Bruch mit der Zuchthausgeschichte Deutschlands. Dabei auch Bruch mit der Vollzugspraxis der DDR.
    Zudem oh Wunder oh Überraschung, reduziert die gesetzliche Resozialisierungspflicht die Folgekosten und Rückfallquote.
    Falls man sich nicht rechtswidrig und rechtsstaatsfeindlich vorstellt, Straftäter der Tendenz nach lebenslang in Straflager und Zuchthaus zu begraben

  10. 54.

    Geht es den Opfern besser wenn es den Tätern schlecht geht? Sollte den Opfern nicht mehr geholfen werden? Was wäre die Lösung wenn die Allgemeinheit nicht für die Kosten aufkommt? Todesstrafe ? Fakt ist das der Maßregelvollzug wie auch viele andere Einrichtungen des Öffentlichendienstes in Berlin seit Jahrzehnten vernachlässigt wurden egal welche Regierung gerade an der Macht war. Hier geht es aber um unhaltbare Zustände die für ALLE gefährlich sind !!!

  11. 53.

    Ob Parteienbashing was bringt? Wer in der Gesellschaft hat denn wirklich ernsthaft Interesse an guter professioneller pflegerischer und medizinischer Versorgung? Wir Tätigen im Gesundheitssystem können (in Notwehr und Eigenschutz) gehen. Was ist die unmittelbare Konsequenz? Wie sieht Krankenversorgung ohne Personal aus? Insbesondere im Maßregelvollzug? Oder auf einer Onkologie? Wer geht mit uns auf die Straße, wenn wir für bessere Bedingungen kämpfen? Kaum jemand, betrifft ja immer die anderen…

  12. 52.

    Was hier nicht ganz klar ist: Will er einen für ihn möglichst vorteilhaften Aufhebungsvertrag verhandeln (warum sollte sich die Senatsverwaltung darauf einlassen?), oder hat er tatsächlich schon seine Kündigung ausgesprochen?

  13. 51.

    Wenn es um ein Weltbild simpler ABurteilung geht, die erfolgen müsste, kann der Kreis der tatsächlich psychisch Erkrankten eben nur relativ klein sein, damit diese "Rechnung" stimmt.

  14. 49.

    Die Grünen mit ihrer Klientelpolitik die Verwaltung machen lassen was sie will. Personalkosten, wie in Charlottenburg gehen durch die Decke. Leistung bekommt der Senat dafür aber nicht. Unsichtbare Schlüsselelemente wie der Maßregelvollzug bekommen einfach kein Geld. Risko/Nutzen Abwägung nur in Bezug der öffentlichen Wahrnehmung(Pressstellen).
    Die berliner Verwaltung kümmert sich in der Hauptsache um die berliner Verwaltung(Zuständigkeitsspiel). Der Bürger hat dafür Fahradstrassen, Parklets und Genderrichtlinien bekommen. Schuld für offensichtliches Versagen ist dann immer der Personalmangel,.... und den gibt es gar nicht, die einen können nicht , die anderen wollen nicht.

  15. 48.

    Natürlich haben die Grünen mit ihrer Klientelpolitik die Verwaltung machen lassen was sie will. Personalkosten, wie in Charlottenburg gehen durch die Decke. Leistung bekommt der Senat dafür aber nicht. Unsichtbare Schlüsselelemente wie der Maßregelvollzug bekommen einfach kein Geld. Risko/Nutzen Abwägung nur in Bezug der öffentlichen Wahrnehmung(Pressstellen).
    Die berliner Verwaltung kümmert sich in der Hauptsache um die berliner Verwaltung. HPR und die örtlichen PRs sind die eigentliche Macht im Lande. Der Bürger hat dafür Fahradstrassen, Parklets und Genderrichtlinien bekommen. Schuld für offensichtliches (jahrzehntelanges) Versagen ist dann immer der Personalmangel,.... und den gibt es gar nicht, die einen können nicht , die anderen wollen nicht.

  16. 47.

    Zumal insbesondere seit die vielen Jahren im linksgrünen Milieu des Westens erdachten Politikkonzepte ihre Wirkung gerade so richtig entfalten, sehen wir, dass sich da Massen an Experten und Vordenkern GEWALTIG GEIRRT zu haben scheinen.

  17. 46.

    So pauschal nicht korrekt.
    Die psychische Erkrankung als Ursache für die Straftat zu sehen, widerspricht jeglichen Inklusionsansätzen.
    Eine Straftat kann NEBEN einer psychischen Erkrankung unabhängig von dieser begangen werden.
    Psychisch Kranke sind zudem meist friedlicher als der Bevölkerungsdurchschnitt.
    Psychische Erkrankungen können zudem auch erst NACH begabgenen Straftaten entstehen.
    Schuld, zu milde Bestrafung, Erosion des eigenen Gerechtigkeitsempfindens.
    Gut wäre ein Behandlungsmix aus Hilfe und Härte.
    Und auch die Leute zu trennen - also individuelle Behandlung.
    Der eine wäre besser im Normalknast gut aufgehoben - der andere im betreuten Wohnen.

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