Feiern in Berlin nach der Wende - "Alles und alle waren frei, ob allein oder miteinander"

Di 03.10.23 | 11:54 Uhr
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Tanzen im "Suicide" (Bild: rbb/solo:film)
rbb/solo:film
Video: Exzess Berlin - Hauptstadt der Clubs (2) | ARD Mediathek | | Bild: rbb/solo:film

Oliver Marquardt, aka DJ Jauche, ist seit mehr als drei Jahrzehnten in der Berliner Clubzene unterwegs. Im Gespräch erzählt der Techno-Musiker über Ost-West-Beziehungen auf der Tanzfläche und warum er sich im heutigen Nachtleben eingeengt fühlt.

rbb|24: Oliver Marquardt, Sie sind im Ostberliner Stadtteil Pankow aufgewachsen. Wie war es, in der DDR auszugehen?

Oliver Marquardt:
Wo ich gelebt habe, gab es einmal im Monat im Kino eine Disco. Und da konnte ich mich dann schon mit zwölf oder 13 reinschummeln, denn die war auch um 22 Uhr vorbei. Auf der Bühne stand ein Discjockey und vor der Bühne wurde getanzt. Später waren es dann Nacht-Boutiquen, die Nachtclubs. Man hat oft immer wieder die gleichen Leute in verschiedenen Clubs getroffen, weil das Ausgehen in der DDR wichtig war. Damals gab es noch ein anderes soziales Konzept als heute. Man musste sich treffen und hat sich nicht auf Twitter kennengelernt.

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Oliver Marquardt aka DJ Jauche. (Quelle: Marie Röder/rbb)
Marie Röder/rbb

DJ Jauche

Oliver Marquardt, aka DJ Jauche, wurde 1969 in Berlin-Pankow geboren. Der Techno-Musiker, DJ und Produzent ist der Bruder des Berghain-Türstehers Sven Marquardt. Am 6. Oktober erscheint sein neues Album "Let me Dance".

War das Ausgehen für Sie auch ein Ausbrechen aus der Enge der DDR?

Als Kind und Teenager habe ich die Enge der DDR nur in der Schule zu spüren bekommen. Wir hatten West-Verwandtschaft. Das hat dazu geführt, dass ich in der Schule in den Gruppenrat musste, ich glaube so hieß das. Für jede Klasse gab es fünf, sechs Leute, die verschiedene Aufgaben zu erfüllen hatten. Und ich war der Agitator und musste die politische Wandzeitung machen, damit ich nicht zu weit vom Weg abkomme, vom sozialistischen Prinzip.

Im Nachtleben ist mir das nicht begegnet. Deswegen kann es schon sein, dass man dahin geflüchtet ist. Für mich war auch ein wichtiger Fluchtpunkt, Breakdance zu machen. Weil es so weit weg war von der Realität, in der wir gelebt haben. Da eine Identifikation zu finden, das war ganz eindeutig die Flucht und ein Gegenargument zu den Jugendkulturen, die der Staat sich gewünscht hätte.

Archivbild: DDR, Berlin, Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee Ecke Wichertstraße, Menschenschlange vorm Cafe Nord, Juli 1986. (Quelle: imago images/stock)
Beliebte Disko zu DDR-Zeiten: Das Cafe Nord in der Schönhauser AlleeBild: imago images/stock

Wie erinnern Sie den Mauerfall?

Lustigerweise war ich in der Disko, als das passiert ist, im Café Nord auf der Schönhauser Allee. Ich stand gerade auf der Tanzfläche und hatte ein Getränk in der Hand. Und dann hat der DJ durchgesagt, dass die Mauer offen sei. Mich hat das zuerst gar nicht so tangiert. Aber mein Freund, mit dem ich da war, hat gesagt: 'Wir müssen gucken gehen!' Wir sind vom Café Nord zur Bornholmer Straße gelaufen. Und da waren dann extrem viele Menschen, die schnellen Schrittes Richtung Grenze unterwegs waren. Das war alles wie im Rausch. Es war so surreal. Wir sind dann nach Westberlin gelaufen und haben einen U-Bahnhof gefunden und sind zum Kudamm. Und als wir da ankamen, war der Kudamm leer. Ich muss einer der ersten Menschen gewesen sein, der da rübergegangen ist.

Wie hat sich die Clubszene nach der Wende verändert?

Es hat vielleicht ein halbes Jahr gedauert, dann gab es die ersten illegalen Veranstaltungen in irgendwelchen Locations – Kulturhäusern oder leerstehenden, unbenutzten Hallen. Es war dann halt Brachland. Es war wie ein Eldorado. Du konntest neben einem Polizisten stehen und kiffen. Habe ich damals zwar nicht. Aber es war für zwei, drei Jahre eine sehr intensive Zeit mit wenig Regeln in Berlin. Und ich selbst habe 1990 dann angefangen Partys in einem Jugendclub zu veranstalten – nachdem ich dann einen Plattenspieler und Platten kaufen konnte. Und so ist das dann gewachsen.

Hat es eine Rolle auf der Tanzfläche gespielt, ob man aus dem Westen oder Osten kam?

Das war im Nachtleben ohne Bedeutung. Es war natürlich interessant, wenn man sich vermischt hat. Aber es waren eigentlich nicht so die Themen, über die man gesprochen hat. Es ging um die Musik, um das Ausgehen, um das gemeinsame Erleben. Um das Feiern dieser neu angebrochenen Zeit. Wir sind auf der Tanzfläche schnell eine gemeinsame Masse geworden. Es war auch nicht wichtig, ob du jung oder alt warst oder schwul.

Vermissen Sie diese Zeit?

Ich vermisse die Leichtigkeit, die damals stattgefunden hat. Die ist heute seltener zu spüren. Das hat aber, glaube ich, auch mit den Themen zu tun, mit denen wir uns generell heute in der Gesellschaft auseinandersetzen müssen. Es gibt viele Dinge, die früher besser waren, aber am Ende waren sie nur anders und nicht wirklich besser.

Wie unterscheidet sich in Ihren Augen die heutige Feierszene von früher?

Damals war die ganze Angelegenheit neu. Heute ist es eher wie ein ausgelatschter Turnschuh. Mir fällt immer wieder auf, dass wir eine auf Musik basierte Jugendkultur hatten. Man merkt manchmal, dass die jungen Leute heute der Musik nicht so viel beimessen, sondern eher dem Drumherum. Manchmal denke ich, wir waren die letzte Jugend, die nochmal einen guten Soundtrack bekommen hat. Seitdem wiederholt sich alles immer nur noch aus meiner Sicht.

Das Nachtleben unterscheidet sich heute zu früher auch durch deutlich mehr Regeln. Ich fühle mich heutzutage dann oftmals doch eingeengt durch so viele Regeln. Oftmals finden Veranstaltungen statt, bei denen darauf hingewiesen wird, dieses oder jenes nicht zu tun. Das war anders damals: Alles und alle waren frei, ob allein oder miteinander und ohne Regeln. Die Menschen in den Clubs - trotz aller Unterschiedlichkeiten – hatten einen ähnlichen Blick auf viele Dinge oder haben diesen zumindest durch das nächtliche Miteinander gelernt. Respekt und Akzeptanz waren immer ein wichtiger Bestandteil bei allem und man musste niemandem sagen: 'Benimm Dich!' Das hat sich durch den "Mainstream Faktor" verändert. Mehr Menschen erfordern auf einmal mehr Regulierungen in allen möglichen Bereichen.

Fühlen Sie sich trotz dieser Veränderungen im Nachtleben noch zuhause?

Ich fühle mich in der Musik zuhause. Im Nachtleben fühle ich mich in Teilen zuhause – überwiegend, wenn ich arbeite. Weil ich dann die Möglichkeit habe, den Menschen was mitzugeben. Ich erlebe es heute noch, dass Leute mit Anfang 20 zu mir kommen, wenn ich vier, fünf Stunden aufgelegt habe und sagen: Das war das Tollste, was sie bisher im Nachtleben erlebt haben. Das heißt jetzt nicht, dass ich außergewöhnlich super bin. Aber ich habe einen gewissen Anspruch. Ich möchte den Leuten eine schöne Zeit mit der Musik geben. Und zwar mit Musik, die dir nicht direkt ins Gesicht springt, sondern die hintenrum kommt und die Emotionen auslöst, es soll ein Gesamtkonzept sein. Solange ich Menschen so erreiche und so ein Feedback bekomme, fühle ich mich auch zuhause.

Vielen Dank für das Interview

Mit DJ Jauche sprach Marie Röder für rbb|24.

Sendung: Exzess Berlin - Hauptstadt der Clubs (2), ARD Mediathek

12 Kommentare

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  1. 12.

    Ich schätze, der 2. Versuch war erfolgreich und beruhte auf Eigeninitiative. Das Schöne daran ist, man hat es allein geschafft und muss heute niemanden dankbar dafür sein. Sowas schärft die Sinne und ist und bleibt ein Erfahrungsschatz, über den Sie wie die "Altwestberlinerin" mit Kindern und Freunden reden sollten, so wie sie es auch macht. Teilen von Anekdoten aus einer Zeit, die anders war und dabei lachen können mit anderen und über sich selbst :-) bei der Musik von damals.

  2. 11.

    Sie haben vollkommen recht!
    Diesen ganzen Mist wollte ich auch in keiner Weise in Abrede stellen.
    Mir ging es mehr um "in den Gruppenrat musste" und dann noch als Agitator + Wandzeitung.
    "Reine Mitgliedschaft" bei Pionieren/FDJ hätte evtl. auch gereicht ;-)

    P.S. Mir wurde EOS verwehrt ... Arbeiterkind vor Intelligenzkind ... zum Glück lange, lange her

  3. 10.

    Liebe Altwestberlinerin, es freut mich sehr, dass Sie so charmant und melancholisch von Ihren Erinnerungen schwärmen, darüber schreiben und hoffentlich nicht nur mich auf eine kleine Zeitreise schickten. Dankeschön und liebe Grüße aus Brandenburg. :-))

  4. 9.

    Ja, waren echt "glory days", damals, in Berlin. Ich schwatze immer mit meinem Friseur über diese Zeiten, die er im damaligen Ost Berlin erlebte. Wir entdecken so viele Gemeinsamkeiten :-) und nur in diesen freien, offenen 80ern konnte sowas wie eine friedliche Wende passieren. Vieles wäre heute nicht mehr möglich. Eine Polonaise über den Kudamm um DIE Uhrzeit? Undenkbar. Wenn ich meinem Kind heute von damals erzähle, ernte ich zum Teil ungläubige Verwunderung ;-)

  5. 8.

    Es geht ja um Musik und Menschen, die sich in der Nacht nicht auch noch mit Politik befassen wollen, eher ausbrechen aus dem oft tristen Alltag. Was man 1975 und danach in der Schule "musste", sollte oder bleiben ließ, konnte auch böse Folgen für die Zukunft haben z.B. kein Abitur machen zu dürfen und dann erst über Umwege studieren zu können, weil Linientreue Voraussetzung war, sogar mit Sippenhaft. Da weichen Ihre Erfahrungen stark von meinen ab. Es gibt reichlich Personen, denen die berufliche Karriere versaut wurde und bei Männern, die nur 1½ Jahre Grundwehrdienst leisten wollten, statt "freiwillig" 3 Jahre, kam Keule Nr.2 gleich hinterher, es sei denn sie entschieden sich für ein Medizinstudium.
    Zitat des Chefs der Betriebsparteileitung:" Unseren Kollegen, die unserer Partei angehören, stehen vielfältige Qualifizierungsmöglichkeiten bereit."
    Antwort: "Lieber ohne Glied im Puff als Mitglied in der Partei." Das war's dann und zwar abschließend. Gut, dass es vorbei ist.

  6. 7.

    Sorry, aber irgendwie kommen ich mit diesem "Interwiew" nicht ganz klar.
    Die Fragen und Antworten sollen bitte WAS ausdrücken bzw. deutlich machen?
    Ich bin eine Ost-Birne (und bleibe es wohl), hatte gefeiert und die vergangenen Woche damit verarbeitet.
    Aber "Café Nord"-Konsumenten waren Schicki-Micki hatten devinitiv nichts mit der "normalen" Club-Szene im Osten zu tun.
    Mit 12/13 schaffte er es garantiert nicht sich da einzuschummeln.

    "War das Ausgehen für Sie auch ein Ausbrechen aus der Enge der DDR?" - gerade bei der Frage gefällt mir besonders das SIE-zen!

    Wenn auch von dieser Person so erlebt, erfahren, bewertet - wenn so gewesen hätte es keine Wende/Wiedervereinigung gegeben!

  7. 5.

    Oliver Marquardt, aka DJ Jauche, wurde 1969 geboren.
    Also ca. 1975 den Pionieren beigetreten "worden".

  8. 3.

    Ach jaaa... "Manchmal denke ich, wir waren die letzte Jugend, die nochmal einen guten Soundtrack bekommen hat." das stimmt auffallend. Auch hatten wir für JEDE"Szene " in unserem Leben die passende Hintergrundmusik! Undenkbar, ein Date, das erste Mal zu Hause, und KEINE Musik! Musik war wie im Film der Verstärker der Situation, der Szene, nur deswegen gibt es diesen "Soundtrack " des Lebens überhaupt.

  9. 2.

    Die "Pflicht" im Gruppenrat aktiv zu sein, stelle ich in Frage.
    Ca. 1975 musste man auch nicht mehr zwingend bei Pionieren noch in der FDJ sein.
    Meine Erfahrung!

  10. 1.

    Insbesondere letzten Absatz unterstreiche ich. Überhaupt ein sehr interessantes Interview. Meine Zeit als DJ vor der Wende in Berliner“Diskotheken“ verlief so ähnlich. Mein Höhepunkt als DJ war folgendes Erlebnis. Wenn zu der Live Aufnahme zu Brick House v.d.Commodors morgens um 6 Uhr ausgelassen fröhlich an die 100 Tanzenden eine Polonaise bilden um geschlossen einmal raus aus der Disko u.wieder hinein zu tänzeln.
    Leider mußte ich ausgerechnet bei der Maueröffnung erkältet das Bett hüten. Verfolgte daher das Geschehen übers TV.

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