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Gewalt gegen Kinder - Symbolbild | Quelle: imago stock&people

80 Prozent im Home-Office

So stellen sich Berliner Jugendämter auf die Corona-Krise ein

Experten erwarten, dass durch die Corona-Krise die Fälle häuslicher Gewalt steigen. Im Jugendamt Marzahn-Hellersdorf versucht das Kriseninterventionsteam, sich bestmöglich darauf einzustellen – und gibt rbb|24 Einblicke in seine Arbeit. Von Robin Avram

Nicht nur Kitas und Schulen sind seit gut einer Woche geschlossen - auch Jugend-, Familienzentren und Abenteuerspielplätze mussten ihre Angebote einstellen, ebenso die Sportvereine. "Na klar wird es bei vielen Familien zu einer ungewohnten Situation führen, vielleicht auch zu Stress- und Konfliktpotential", sagt der Jugendstadtrat von Marzahn-Hellersdorf, Gordon Lemm (SPD).

So berechtigt die Corona-verlangsamenden Maßnahmen aus Sicht der Virologen und Amtsärzte sind – für Sozialpolitiker, insbesondere in den sozialen Brennpunkten Berlins, ist es eine gefährliche Mixtur: Potentiell mehr Fälle häuslicher Gewalt – bei gleichzeitig weniger Jugendamt-Mitarbeitern, die sich darum kümmern können. Aus Infektionsschutzgründen sollen nur noch 20 Prozent der Mitarbeiter in den Jugendämtern der Stadt anwesend sein. Der Rest arbeitet im Home-Office.

Es sind herausfordernde Zeiten für Jugendstadtrat Lemm. Noch stellten seine Mitarbeiter keinen Anstieg häuslicher Gewalt fest. Er beteuert zudem: "Kinderschutz, Erziehungshilfen und psychisch-soziale Betreuung sind bei uns jederzeit gewährleistet. Es sind immer Kollegen vom Kriseninterventionsteam im Dienst." Doch wie geht es jenem hausintern KIT genannten Team von engagierten Sozialarbeitern, die jede neue Meldung über Kindeswohlgefährdung sofort bearbeiten und klären sollen?

Heike Haacke, Regionalleiterin der KIT-Teams, hat rbb|24 Einblick in ihre Arbeit gewährt. Jugendstadtrat Gordon Lemm steuert seine Sicht der Dinge bei.

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"Das beschleunigt die Gewaltspirale"

   

Kein Karate-Training mehr - Jugendliche üben lautstark zu Hause

Heike Haacke: Noch herrscht hier die Ruhe vor dem Sturm, aber wir fürchten schon, dass wir mehr Fälle von Kindervernachlässigung oder -misshandlung gemeldet bekommen. Die neue Situation setzt viele Familien unter zusätzlichen Stress. Ein Beispiel: Am Montagabend haben Nachbarn die Polizei gerufen, weil sie laute Schreie von nebenan gehört haben. Sie fürchteten, dass ein dort lebender alleinerziehender Vater seinen drei pubertierenden Kindern Gewalt antut. Wir sind am Dienstag hingefahren und haben uns ein Bild von der Situation gemacht. Die Kinder sind zu Hause und können weder in die Schule noch zum geliebten Karatetraining, sie waren traurig darüber, nun auch nicht zum geplanten Trainingslager fahren zu können.

Es gab daher aus Langeweile mehr Streit zwischen den Kindern und auch dem Vater – deshalb wurde es in den letzten Tagen öfter laut. Die Kinder waren ganz verständig, sie machten nicht den Eindruck, dass der Vater sie geschlagen habe – zeigten auch keine Spuren von Gewalteinwirkungen. Daher haben wir den Vater und die Kinder beraten, wie der Tag besser strukturiert und aktiv ausgestaltet werden kann.

Gordon Lemm: Wir haben mit den freien Trägern, Kinder- und Familienzentren die Verabredung, dass sie über Telefon oder Videochats weiterhin für die Familien da sind und versuchen, diese zu beraten. Viele Träger tun dies dankenswerterweise auch. Wo es im Einzelfall notwendig ist, statten sie Vorortbesuche ab. Zudem haben wir auf unserer Jugendamt-Webseite umfangreiche Tipps veröffentlicht, um mal aufzuzeigen: Was kann man eigentlich machen, wenn man 24 Stunden am Tag mit seinen Kids alleine ist? Wenn man da Unterstützung von Ämterseite gibt, ist das sicher ein gutes Signal.

Versuch, der Ex-Frau das Kind vorzuenthalten - weil sie Krankenschwester ist

Heike Haacke: Dass die Schulen geschlossen haben, setzt viele Eltern, die arbeiten müssen, unter Stress. Da eskalieren schon mal Konflikte, wenn der eine an den anderen die Anforderung stellt: Du hast das Kind jetzt zu betreuen. Oder getrennt lebende Menschen verweigern, das Kind zum Partner zu geben, weil sie sich vor Ansteckung fürchten. So war es bei einer Krankenschwester, die sich das Sorgerecht mit ihrem Ex-Mann teilt. Er fürchtete, dass seine Ex-Frau sich in der Klinik ansteckt - und dann auch das gemeinsame Kind.

Wir haben dem Mann in dem Fall geraten: Sprechen Sie mit der Kindesmutter oder schreiben Sie ihr einen Brief, und formulieren Sie Ihre Sorgen. Dadurch reflektierte er seine Befürchtungen noch einmal. Zudem haben wir die Frau gebeten, ihren Ex-Mann über die Vorsichtsmaßnahmen aufzuklären, die in der Klinik getroffen werden. Die Lösung der Eltern sah dann so aus, dass das Kind zur Mutter erstmal keinen persönlichen Kontakt hat, aber weiter über Skype und Briefe mit ihr in Verbindung bleibt.

Tipps für Eltern

Beschäftigungsideen, Basteln, Home-Office mit Kindern: Das Jugendamt Marzahn-Hellersdorf hat hier für Eltern eine umfangreiche Linkliste zusammengestellt.

Angst vor Platzmangel in Kriseneinrichtungen und Pflegefamilien

Heike Haacke: Auch bei uns sind Mitarbeiterinnen im Home-Office, aber vieles lässt sich ja auch telefonisch erledigen – etwa, wenn es darum geht, Einrichtungen abzutelefonieren, um einen Platz zu finden. Wenn es um Kinder geht, bei denen eine akute Gefährdung aufgrund von Gewalt oder Vernachlässigung vermutet wird, gehen unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch weiterhin zu den Familien in die Wohnungen.

Wir haben zum Glück gerade eine Lieferung mit Mundschutzen und Handschuhen erhalten, so dass sich unsere Mitarbeiter in solchen Situationen schützen können. Auch die Polizei reagiert weiterhin schnell, wenn wir sie anfordern müssen. Noch können wir alle Kinder, die wir aus ihrer familiären Situation herausholen müssen, auch in Kriseneinrichtungen oder Pflegefamilien vermitteln. Wir haben aber ein bisschen Angst davor, was passiert, wenn wir keine Plätze mehr finden sollten.

Gordon Lemm: Wir als Bezirke verfügen ja nicht selbst über Plätze zur Unterbringung. Das läuft alles mit freien Trägern. Da gibt es - Stand jetzt - ausreichend freie Plätze. Sollten wir jetzt einen ganz großen Anstieg von Inobhutnahmen sehen, dann muss man mit den freien Trägern sprechen, ob sie zusätzliche Plätze zur Verfügung stellen können, was in Zeiten von Kontaktverboten auch nicht ganz leicht ist. Weil das Thema Kinderschutz immer eine Riesen-Priorität hat, bin ich sicher, dass wir da in Abstimmung mit dem Land auch dann Regelungen finden und zusätzliche Plätze schaffen könnten.

Beitrag von Robin Avram

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