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Quelle: rbb|24/Margarethe Neubauer

Stichprobe Brandenburg | Bad Freienwalde

Arm sein, wo andere Urlaub machen

Sie gilt als Oderlandidyll zwischen Kuhweiden und Moor: die Kurstadt Bad Freienwalde. Touristen erklettern den Eulenturm, steigen ins Torfbad, kaufen Wildsalami für 34 Euro. Doch einigen Einwohnern fehlt das Geld für die Bockwurst im Freibad. Von Margarethe Neubauer

Am 1. September 2019 haben mehr als zwei Millionen Brandenburgerinnen und Brandenburger die Möglichkeit, den neuen Landtag zu wählen. Doch wie sieht das Leben in der Mark abseits des Berliner Speckgürtels aus? Was bewegt die Menschen? Wir haben uns im Land umgeschaut. Entstanden ist die Serie "Stichprobe Brandenburg".*

Kein Kaugummi klebt auf den Bürgersteigen, in den Blumenkästen am Rathaus blühen Geranien. Am Marktplatz in Bad Freienwalde verkündet ein Wegweiser: Kurviertel, Freibad, Aussichtsturm. Vier Fahrradminuten entfernt liegt die Scheunenstraße: Lottoladen, Discounterparkplatz, Getränkemarkt. Zum Haus Nummer Sieben gibt es keinen Wegweiser. Trotzdem ist der Ort gut besucht, denn hier öffnet die Tafel ihre Türen.

Quelle: rbb|24/Margarethe Neubauer

Ein Stück Käsekuchen für 40 Cent

Der Laden versorgt Menschen, für die der Einkauf im Lebensmittelmarkt zu teuer ist. Wer dort kauft, zahlt einen kleinen Unkostenbeitrag, der aber nur einen Bruchteil des eigentlichen Ladenpreises ausmacht. Hierher kommen auch diejenigen, die sich die Cafés im Kurort nicht leisten können. Kaffee: 50 Cent. Käsekuchen: 40 Cent.

Hinter Joghurt und laktosefreier Mascarpone lugt Cindy Chudzinski hervor. Die Frau mit den streichholzkurzen Haaren steht täglich hinter der Theke. Sie sortiert Brötchen, kocht Kaffee, putzt, berät. Gespräche über Senf und private Sorgen. "Ich kann mich in meine Kunden hineinversetzen", sagt Cindy Chudzinski. "Mir geht es ähnlich. Auch wir müssen jeden Cent zweimal umdrehen." Die Mutter von vier Töchtern lebt selbst von Hartz-IV, unterstützt die Tafel als Bundesfreiwillige – und hört zu.

Die Sorgen der Stadt sind nicht die Sorgen der Bürger

Eine Kundin in Blumenbluse kommt mit dem Rollator. Sie ist frisch zugezogen – und fühlt sich einsam. "In diesem Viertel fehlen Bänke. Wo soll man denn sitzen, ins Gespräch kommen? Die Kurstadt, ja, das ist eine schöne Fassade." Dass die marode Betonbrücke Bad Freienwalde den Titel "Kurstadt" kosten könnte, ist hier kein Topthema. Rund um die Scheunenstraße prägen Plattenbauten das Stadtbild. Graue Betonklötze mit Balkongeländern aus Wellblech.

Vor drei Jahren entdeckte Cindy Chudzinski dort zufällig die Tafel. "Ich hatte sehr große Hemmungen, hinzugehen. Auf andere angewiesen zu sein - das kannte ich gar nicht", sagt die gebürtige Wriezenerin. Eigentlich wollte sie damals in einer Bäckerei arbeiten, machte ein Praktikum. Doch sie wurde nicht übernommen. "Weil ich kleine Kinder hatte. Die Betriebe erwarten, dass man jederzeit einsatzbereit ist, nie ausfällt. Außerdem haben die ihre eigenen Leute, suchen oft nur Aushilfen." So sei es üblich, hier im Kurort.

Schloss und Moor schaffen keine Arbeitsplätze

Kurort, das ist ein Wort, das sie zögerlich ausspricht. Viel werde in den Gesundheitstourismus investiert, doch die Arbeitsplätze wachsen nicht im Moor. 8,8 Prozent der Einwohner in Bad Freienwalde sind arbeitslos. So der Stand im Monat Juni 2019 zur Erntesaison. Im Winter waren es annähernd elf; das ist deutlich mehr als der Durchschnitt im Land Brandenburg (5,6 Prozent). Cindy Chudzinskis Kundenstamm wächst – an diesem Tag kommen dreißig Menschen. Eine serbische Mutter, ein älterer Herr im Kapuzenpullover. Cindy Chudzinski spricht die meisten mit Vornamen an.

Auch Rick Seltenheim und seine Freundin Michaela beziehen Hartz-IV, je 408 Euro – das reicht kaum für das Nötigste. Käsebrötchen, Würste, Fruchtquark, Schokolade – das Paar verstaut einen 5-Euro-Wochenendeinkauf in seinen Rucksäcken. "Wir kaufen alles bei der Tafel und schämen uns dafür überhaupt nicht", sagt der gelernte Zimmermann. Sie wollen weiterhin zur Scheunenstraße radeln, wenn sie demnächst nach Bralitz ziehen. Aus der Stadt in das Dorf seiner Eltern, acht Kilometer nördlich von Bad Freienwalde – zur Gurkenernte.

Tafel Bad Freienwalde - Rick Seltenheim und Freundin | Quelle: rbb|24/Margarethe Neubauer

Wer sich langweilt, greift zur Flasche

Sicher, auf dem Bau gebe es auch in der Kurstadt etwas zu tun. Aber Rick Seltenheim sträubt sich gegen den Ort. "Selbst wenn wir Geld hätten – es gibt hier ja nüscht", sagt der 32-Jährige. Die Kurlichtspiele – das alte Kino – sind vor acht Jahren aus der Bad Freienwalder Flaniermeile verschwunden, Geschäfte stehen leer.

Darunter leide das Stadtklima: "Die Leute sitzen am Bahnhof rum, trinken aus Langeweile, nehmen Drogen. Cannabis, Speed. Das habe ich in meinem Freundeskreis erlebt. Die stürzen ab. Weil sie nichts zu tun haben."

Bei der Landtagswahl am 1. September will er für die AfD stimmen: "Denen gebe ich eine Chance, weil sie neu sind, etwas in Deutschland verändern wollen. Die alten Parteien bleiben auf ihrer Rille, und es ändert sich nichts." Sein Frust richtet sich gegen die Politik, nicht gegen die "Neubürger". So nennen sie bei der Tafel Geflüchtete, die in der Kurstadt leben.

"Die meisten unserer Kunden sind Neubürger. Sie kaufen sehr viel Gemüse und Obst, vor allem Zitronen", sagt Cindy Chudzinski. Wer ihren Laden besucht, spricht deutsch mit ihr – oder versucht es. Der alte Mann aus dem Nachbarhaus, die Frau mit Kopftuch, die nun im Ortsteil Schiffmühle wohnt.

Oft mühsam: die Tour zur Tafel

Die Tafel ist der Treffpunkt der Einsamen. An einem runden Plastiktisch vor dem Haus sitzt ein Mann in der Sonne. Zuletzt habe er nach der Wende gewählt, dann nie wieder. "Ich bin ehrlich zu Ihnen – gäbe es die Tafel nicht, wäre ich schon verhungert." Um 2,70 Euro für ein Bahnticket zu sparen, ist er zehn Kilometer mit dem Rad gefahren. Nicht jeder ist so mobil. Rentner, die in der südwestlichen Waldstadt leben, können den Laden momentan schlecht erreichen. Die Bundestraße B158 ist teilweise gesperrt, der Bus fährt nicht. Deshalb soll bald das Tafelauto regelmäßig rausfahren. Auch bis hoch an die Oder.

Cindy Chudzinski lebt selbst in einem kleinen Ort nahe der polnischen Grenze. Ein abgelegener Hof mit Schweinen, Schafen, Enten. Sie hat keinen Führerschein. Wenn ihr Freund sie nicht mitnehmen kann, radelt sie die 15 Kilometer nach Bad Freienwalde. Sie liebt die Region. Dennoch: "Jungen Leuten würde ich raten, wegzuziehen. Dorthin, wo die Möglichkeiten besser sind, es Ausbildungsplätze gibt." Ob sie im September wählen geht, weiß Cindy Chudzinski noch nicht.

Tafel-Mitarbeiterin Cindy Chudzinski | Quelle: rbb|24/Margarethe Neubauer

*"Stichprobe Brandenburg" ist ein Projekt des 12. Volontärsjahrgangs der Electronic Media School ems in Zusammenarbeit mit rbb|24. Weitere Reportagen aus den Landkreisen finden Sie hier.

Beitrag von Margarethe Neubauer

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