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Video: rbb aktuell | 12.12.2017 | Quelle: dpa/Soeren Stache

Verkehrssenatorin Günther für blaue Plakette

Hohe Stickoxid-Werte in Berlin: "Wir müssen handeln"

Stickoxid-Messungen von rbb|24 und TU haben ergeben, dass in Berlin die Grenzwerte an vielen Orten überschritten werden. Das facht die Debatte um Fahrverbote in der Stadt neu an. CDU-Politiker Oliver Friederici ist strikt gegen Verkehrsbeschränkungen.

Angesichts der Stickoxid-Messungen von rbb|24 und der TU Berlin, bei denen flächendeckend hohe Werte in der Stadt festgestellt wurden, betonte Verkehrs- und Umweltsenatorin Regine Günther am Dienstag die Dringlichkeit für Verbesserungen: "Wir müssen handeln", sagte die parteilose Poltikerin dem rbb. Die Ergebnisse von rbb und TU seien zwar nicht direkt vergleichbar mit den Jahresmittelwerten der Stadt, aber: "Die Tendenz, dass wir viel zu viele und viel zu hohe Werte haben, verändert sich dadurch [...] nicht."

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"Wir gucken, wie weit wir damit kommen"

Allerdings lasse die Bundesregierung die Kommunen, darunter auch Berlin, mit dem Problem Luftverschmutzung alleine: Die Städte hätten die Schwierigkeiten, aber keine Handhabe. Nur der Bund könne die Hersteller zu Hard- und Software-Updates verpflichten. Und nur der Bund könne durch eine blaue Plakette Fahrverbote durchsetzen, ohne dass es Klagewellen gibt, so Günther. "Rechtssichere Fahrverbote halte ich für sehr schwierig durchsetzbar."

Wenn man jedoch die Autos auf der Straße lasse, müssten sie "nachgerüstet werden", sagte Günther am Dienstagabend in der rbb-Abendschau. Die Kosten dafür müssten die Auto-Hersteller tragen: "Sie haben den Verbraucherinnen und Verbrauchern etwas verkauft, was nicht einhält, was sie versprochen haben." Dies einzufordern, sei Aufgabe der Bundesregierung, ergänzte die Umweltsenatorin.

Dennoch versuche Berlin, auch auf eigene Faust gegen die hohen Stickoxid-Werte anzugehen: mit dem Umstieg auf E-Busse oder E-Mobilität insgesamt. "Wir gucken, wie weit wir damit kommen." Sollten durch Gerichtsentscheidungen Fahrverbote möglich werden, "dann werden wir auf sie zukommen", so Günther.

Günthers Sprecher Matthias Tang hatte am Dienstagmorgen betont, die Verkehrsverwaltung wolle Fahrverbote nach Möglichkeit umgehen. "Wir versuchen das zu vermeiden, weil Fahrverbote natürlich die treffen, die in gutem Glauben einen Diesel gekauft haben, dass dieser Diesel auch sauber ist", sagte Tang der rbb-Welle radio Berlin 88,8.

"Fahrverbote sind für Berlin wahrscheinlicher geworden"

Daniel Buchholz, umweltpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, zeigte sich nach Veröffentlichung der Messwerte von rbb und TU allerdings überzeugt: "Fahrverbote sind damit leider auch für Berlin wahrscheinlicher geworden." Dem rbb sagte er am Dienstag. "Wir müssen sehen, dass die Gerichte inzwischen sehr hart urteilen und sagen: Wenn Ihr die lokalen Luftreinhaltemaßnahmen nicht komplett umsetzt, wenn Ihr nicht alles tut, was man tun kann, dann werden auch Fahrverbote verhängt."

Auch Buchholz forderte die Bundesregierung auf, den Druck auf die Autohersteller zu erhöhen. Fahrverbote könnten nur verhindert werden, wenn die Hersteller Dieselfahrzeuge so schnell wie möglich auf eigene Kosten nachrüsten würden. "Wir brauchen dringend eine blaue Plakette, die die größten Stinker-Fahrzeuge auch identifizierbar macht", so Buchholz.

Ähnlich äußerten sich die Verkehrsexperten der Grünen, Harald Moritz, und der Linken, Harald Wolf. Bevor es Fahrverbote gebe, so Wolf, müssten erst die Kriterien geklärt werden - also die Frage nach einer neuen Plakette. "Insofern glaube ich nicht, dass es kurzfristig zu Fahrverboten kommen wird." Auch danach werde es Übergangsfristen geben. Daher sei es wichtig, dass Berlin schon vorher Maßnahmen ergreife, seien es E-Fahrzeuge oder Tempo-30-Zonen. "Die Untersuchung hat ja jetzt gezeigt, wie groß das Problem ist – und das Problem löst man nicht durch aussitzen."

Quelle: rbb/Viktoria Kleber

CDU-Politiker Friederici schlägt Umsiedlungsprämie vor

Für Oliver Friederici, den verkehrspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion, hingegen sind Fahrverbote keine Option. Statt den Autoverkehr einzuschränken, müsse ihm Platz gegeben werden, forderte Friederici: Rot-Rot-Grün dürfe nicht weiter "bewusst Stau erzeugen". Mit besseren Straßen, einer verlängerten A100 und "offenporigem Asphalt, der auch Schadstoffe schluckt" könnte man ein Ergebnis erreichen, das Fahrverbote verhindert. "Wir werden nicht auf ein Fahrverbot hinauslaufen - es muss andere Maßnahmen geben."

Bewohnern in besonders stark betroffene Wohnungen schlug Friederici spezielle Fenster oder Luftreinigungsanlagen vor. "Oder man bietet ihnen eine Umsiedlungsprämie an."

Auch Henner Schmidt, umweltpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, ist gegen eine Einschränkung des Verkehrs: "Fahrverbote wären übertrieben", teilte er am Dienstag mit. "Allgemeine Maßnahmen" wie E-Busse, Nachrüstung der Reduzierung des Durchgangs-Schwerverkehrs würden ausreichen. Für Punkte, wo rbb und TU deutlich erhöhte Stickoxidwerte gemessen hätten, empfahl Schmidt eine "bessere Lenkung des Verkehrsflusses oder städtebauliche Maßnahmen". "Ich glaube, dass der Grenzwert von 40 Mikrogramm auch gut erreichbar ist, auch ohne dass man Fahrverbote verhängt", sagte er dem rbb.

Der AfD-Abgeordnete Frank Scholtysek bilanzierte: "Letzten Endes müssten wir schon zu einer Verringerung des Verkehrs kommen." Es dürften jedoch nicht die Bürger vorschnell durch ein Fahrverbot bestraft werden. Eine Alternative sei ein gut funktionierender Öffentlicher Nahverkehr oder z.B. die Umrüstung von BVG-Bussen, die viel Diesel verbrauchen. Und natürlich müsse der Gesetzgeber die Autoindustrie in die Pflicht nehmen.

Quelle: Martina Springmann

Stickoxid entsteht u.a. in Verbrennungsmotoren von Autos. Es gilt als gesundheitsschädlich und belastet Herz, Kreislauf und Atemwege. Wissenschaftler gehen davon aus, dass in Deutschland durch die Belastung jährlich mehr als 10.000 Menschen vorzeitig sterben. Vor allem in Städten überschreiten die Stickoxid-Werte deutlich den gesetzlich erlaubten Grenzwert.

Umwelthilfe: Berlin kommt um ein Fahrverbot nicht herum

Messungen von rbb|24 in Kooperation mit der TU Berlin an 110 Standorten hatten gezeigt, dass die Stickoxid-Werte in Berlin vielerorts zu hoch sind. Demnach werden die zulässigen EU-Grenzwerte an 73 Berliner Straßen überschritten, an mehr als einem Dutzend Straßen um über 50 Prozent.
 
Laut Deutscher Umwelthilfe (DUH) zeigen die Ergebnisse, dass die Maßnahmen des Senats bei Weitem nicht reichen, um die Belastung unter den gesetzlichen vorgeschriebenen Grenzwert zu senken. "Der Berliner Senat wird durch diese Veröffentlichung stärker unter Druck kommen", sagte DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch rbb|24. Die Nachrüstung der Kommunal-Fahrzeuge und Busse bringe vielleicht eine Absenkung um fünf bis zehn Prozent. "An vielen Stellen müssen wir die Werte aber um 50 Prozent herunterbringen. Das geht nur über das Aussperren von schmutzigen Diesel-Fahrzeugen", so Resch.

Im Interview mit der rbb-Welle Radioeins zeigte sich Resch am Dienstag überzeugt: "Die Fahrverbote kommen entweder Anfang nächsten Jahres oder im Laufe des nächsten Jahres."

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Grundsatzentscheidung steht an

Die Deutsche Umwelthilfe verklagt das Land Berlin und rund 60 weitere Kommunen, weil die EU-Grenzwerte nicht eingehalten werden. Voraussichtlich im Frühjahr 2018 wird die Klage gegen das Land Berlin verhandelt - wenn das Bundesverwaltungsgericht (BVG) zuvor grünes Licht dafür gibt, dass Kommunen Fahrverbote einführen können. Im Februar soll eine entsprechende Grundsatzentscheidung fallen.

In der Verhandlung gegen den Berliner Senat will die DUH nun auch die rbb|24-Messergebnisse einbringen und eine amtliche Nachuntersuchung von besonders belasteten Orten wie dem Görlitzer Bahnhof erzwingen. Die DUH klagt bereits in 16 Städten für saubere Luft. In der Hälfte der Fälle liegen bereits Entscheidungen vor, alle Verfahren wurden von der DUH gewonnen. Sollte das Gericht auf ein Fahrverbot entscheiden, wären rund 300.000 Besitzer von Diesel-Autos betroffen.

Bei der Messreihe von rbb und TU wurde die höchste Belastung mit 77 Mikrogramm pro Kubikmeter am Görlitzer Bahnhof in Kreuzberg gemessen. Das ist fast doppelt so hoch wie der gesetzlich zulässige Jahresmittelwert.

Radioeins sagte DUH-Geschäftsführer Resch am Dienstag, die Krise bei der Luftreinhaltung und ein möglicher Umbau des Verkehrs könne auch eine Chance sein: "Wir werden eine hohe Dynamik erleben und zum Schluss feststellen: Die Stadt hat doch weiter funktioniert und sie ist sehr viel lebenswerter geworden."

Alle Messergebnisse erfahren Sie auf unserer interaktiven Karte - und auch, wie hoch die Belastung in ihrer Nähe ist.


Jeder Punkt entspricht einer Messstelle. Wenn Sie einen Punkt anklicken, erhalten Sie den Stickstoffdioxid-Wert. Sie können nach Adressen suchen und so nahegelegene Messstationen finden. Dazu Straßennamen + Hausnummer eingeben. Sie können sich auch nur die Messstellen oberhalb des Grenzwerts oder nur die landeseigenen Messungen anzeigen lassen. Wichtiges zu Messmethode und Datenauswertung finden Sie in der Infobox am Ende des Beitrags.

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