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Video: Abendschau | 20.04.2020 | Quelle: imago images/F. Boillot

Debatte um Demos vor Berliner Volksbühne

"Hier wird in zwei Grundrechte eingegriffen"

Jeden Samstag das gleiche Bild am Rosa-Luxemburg-Platz: Hunderte Menschen fordern ein, was jedem Bürger nach Artikel 8 des Grundgesetzes zusteht: sich zu versammeln, zu demonstrieren. Die Polizei greift ein. Doch ist das verhältnismäßig? Von Jo Goll

Es ist eine krude Mischung von Menschen, die sich jeden Samstag über das Internet auf dem Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne im Berliner Bezirk Mitte verabreden: Aktivisten und Extremisten von links und rechts, Verschwörungstheoretiker, bibeltreue Christen, Impfskeptiker, Trump-Fans, Normalos. "Corona-Spinner" – so werden sie von der Hauptstadt-Presse gerne bezeichnet. 

Doch sie alle haben ein gemeinsames Anliegen: Sie wollen ihr Recht zu demonstrieren, sich zu versammeln, durchsetzen. Egal worum es geht. Das, so sagen sie, dürfe ihnen der Staat nicht einfach nehmen, auch nicht in Zeiten der Corona-Krise. Deshalb halten viele das Grundgesetz in die Höhe und skandieren: "Grundgesetz, Grundgesetz". Oder auch weniger einfallsreich: "Wir sind das Volk".

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Beschränkung von Grundrechten

Die Demonstranten eint, dass ihrer Meinung nach durch die Corona-Erlässe die Grundrechte in Deutschland unangemessen und in drastischer Weise eingeschränkt werden. Unter manchen Demonstranten grassieren dazu wilde Verschwörungstheorien: Das Coronavirus existiere gar nicht, es sei nur ein Hebel, um endgültig einen Polizeistaat zu etablieren. Manche befürchten düstere Verstrickungen von Pharmaindustrie und Politik. Aber es gibt auch die, die sich ganz einfach die Frage stellen, ob die Exekutive nicht zu weit geht. Ob der Staat, der Berliner Senat auf Grundlage einer Landesverordnung (Abstandsgebot) Grundrechte wie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht einfach außer Kraft setzen darf?

Nein, so einfach gehe das natürlich nicht, sagt Michael Knape, Polizeidirektor im Ruhestand. Auch Knape, der bis heute an der Polizeiakademie in Oranienburg junge Beamte in polizeilicher Einsatzlehre schult, ist am Samstag auf den Rosa-Luxemburg-Platz gekommen. Er will beobachten, wie seine ehemaligen Kollegen die Lage meistern. Knape sieht, wie die Personalien einzelner Teilnehmer von den rund 260 Beamten aufgenommen und einzelne Demonstranten weggetragen werden. Schließlich registriert er auch, wie die rund 400 Demonstranten unter Verweis auf das Infektionsschutzgesetz nach und nach in Seitenstraßen gedrängt werden und die Versammlung schließlich aufgelöst wird. 

Zur Person

Michael Knape war bis 2014 leitender Polizeidirektor der Polizeidirektion 6 und hat als ranghoher Polizeiführer in Berlin zahlreiche Großeinsätze etwa bei Demonstrationen geleitet. Außerdem hat er unter anderem an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) gelehrt. 

Einsatz sei nicht verhältnismäßig

Doch Knape ist nicht wirklich zufrieden mit dem Vorgehen seiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen. "Missfallen hat mir die rigorose Vorgehensweise der Polizei und die äußerst niedrige Einschreitschwelle gegen die Versammlungsteilnehmer, die teilweise auch mit Mundschutz ausgestattet waren und versuchten, den Abstand einzuhalten", sagt Michael Knape. Dem erfahrenen Einsatzleiter ging das Vorgehen der Berliner Polizei am Samstag viel zu schnell. Mehr oder weniger habe die Polizei unmittelbar nach ihrem Eintreffen vor der Volksbühne auf eine sofortige Auflösung der Veranstaltung hingewirkt. 

Auch in Zeiten des gefährlichen Coronavirus, so Knape weiter, müsse sich das Handeln der Polizei stets am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren. "Die Maßnahmen der Polizei habe ich teilweise als sehr hart wahrgenommen. Und ich habe letztendlich den Dialog vermisst. Die Szenen, die sich da abgespielt haben, die Freiheitsentziehungen und das Rollen auf der Straße, das hätte man durch eine besonnene, durch eine auf Kommunikation ausgerichtete Vorgehensweise anders regeln können", fasst Knape den Einsatz zusammen.

Polizei: Spontandemo mit weniger Teilnehmern sei nicht organisierbar gewesen

Für Knape steht fest, dass der Einsatzleiter die Versammlung unter Auflagen, wie zum Beispiel eine deutliche Reduzierung der Teilnehmer, hätte laufen lassen können. Es müsse unbedingt mit Augenmaß vorgegangen werden, sagt Knape. Denn: "Hier wird in zwei Grundrechte eingegriffen, in die Versammlungsfreiheit und die Meinungsfreiheit. Das sind zwei Grundrechte von konstituierender Bedeutung."

Die Berliner Polizei wollte sich auf rbb-Anfrage nur schriftlich zu den Vorwürfen äußern. Eine Spontandemo mit weniger Teilnehmern sei nicht organisierbar gewesen, hieß es. Auch hätte die Polizei auf der Demo keinen Versammlungsleiter gefunden.

Bundesverfassungsgericht fordert Einzelfallprüfung

Das Bundesverfassungsgericht hatte jüngst entschieden, dass Demonstrationen trotz Corona-Verordnungen nicht grundsätzlich untersagt werden dürfen [bundesverfassungsgericht.de]. Auslöser waren mehrere Demonstrationsanmeldungen in Gießen, die die Stadt mit Hinweis auf die hessische Landesverordnung untersagt hatte.

Die Verfassungsrichter monierten, dass ein generelles Versammlungsverbot nicht ausgesprochen werden dürfe, stattdessen über Demonstrationsanmeldungen immer "unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls" entschieden werden müsse. Die Stadt Gießen musste über den Antrag neu entscheiden, die Kundgebung ist inzwischen gestattet. Die Demonstration wurde auf eine Teilnehmerzahl von 15 Personen und die Dauer einer Stunde begrenzt. Alle Teilnehmer müssen einen Abstand von 1,5 Metern untereinander halten und Masken tragen. 

Demonstrationsaufrufe für 1. Mai kursieren im Netz

Mit Blick auf den 1. Mai sind diese Entscheidungen von großer Bedeutung. Denn im Internet kursieren verstärkt Demonstrationsaufrufe für den 1. Mai. Auf der linksradikalen Seite Indymedia heißt es, in ganz Deutschland seien Spontandemonstrationen, Autokorsos und Flashmobs sowie weitere unangemeldete Proteste angekündigt. Explizit wird auch zur alljährlichen Demonstration am Abend des 1. Mai in Kreuzberg aufgerufen.

Der Berliner Senat will am Dienstag beschließen, welche Lockerungen es ab dem 27. April geben soll. Dabei wird auch bekannt gegeben, welche Möglichkeiten es für Kundgebungen unter Einhaltung von Auflagen geben soll. 

Der ehemalige Polizeidirektor Michael Knape wird das Geschehen sicherlich weiterhin aufmerksam beobachten. 

Mit Blick auf den 1. Mai sind diese Entscheidungen von großer Bedeutung. Denn im Internet kursieren verstärkt Demonstrationsaufrufe für den 1. Mai. Auf der linksradikalen Seite Indymedia heißt es, in ganz Deutschland seien Spontandemonstrationen, Autokorsos und Flashmobs sowie weitere unangemeldete Proteste angekündigt. Explizit wird auch zur alljährlichen Demonstration am Abend des 1. Mai in Kreuzberg aufgerufen.
Mit Blick auf den 1. Mai sind diese Entscheidungen von großer Bedeutung. Denn im Internet kursieren verstärkt Demonstrationsaufrufe für den 1. Mai. Auf der linksradikalen Seite Indymedia heißt es, in ganz Deutschland seien Spontandemonstrationen, Autokorsos und Flashmobs sowie weitere unangemeldete Proteste angekündigt. Explizit wird auch zur alljährlichen Demonstration am Abend des 1. Mai in Kreuzberg aufgerufen.

Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version des Textes hieß es, Knape lehre an der Berliner Polizeiakademie. Das ist nicht der Fall.

Sendung: Abendschau, 20.04.2020, 19:30 Uhr

Beitrag von Jo Goll

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