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Quelle: dpa

Kommentar | Sondersitzung zu Corona-Maßnahmen

Das Virus ist im Abgeordnetenhaus angekommen

Der Senat operiere in Corona-Zeiten am Parlament vorbei, und das obwohl Grundrechte eingeschränkt werden, kritisiert die Opposition. Nun wurde diese Debatte nachgeholt. Gut so, denn sie ist so alternativlos wie konsequente Maßnahmen, kommentiert Jan Menzel.

Viel zu spät ist diese Debatte angesetzt worden, viel früher hätten die gewählten Volksvertreter zu Wort kommen müssen. Deshalb haftet der AGH-Sondersitzung vom Sonntag auch ein fader Beigeschmack an. Nur weil Gerichte das Durchregieren per Rechtsverordnung gestoppt haben, entdeckt der Senat das Parlament plötzlich wieder. Könnten doch die Abgeordneten mit einem ordentlichen Gesetz für Legitimation der harten Einschränkungen sorgen, gar die beklagte Sperrstunde in Bars und Kneipen retten.

Aber nicht nur deshalb ist das Abgeordnetenhaus nach einem Dreiviertel (!) Jahr Pandemie nun wieder am Zuge und im Zentrum: Im Parlament schlägt das Herz der Demokratie. Das Parlament sind wir alle. Und das gilt umso mehr, je länger wir nicht wissen, wie lange die Welt im Corona-Ausnahmezustand bleibt. Weder eine Ministerpräsidenten-Konferenz, noch ein Senats-Kollegium oder die sozialen Medien können die Orte sein, an denen schwerwiegende Entscheidungen wie ein Lockdown getroffen werden.

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Corona-Sondersitzung im Abgeordnetenhaus

Müller appelliert, Pazderski konterkariert, Jarasch überrascht

Zwischenrufe, Gebrüll und Schmähungen

Alternativlos – das hat diese Parlamentsdebatte aufs Eindringlichste dokumentiert - ist dabei gar nichts. Die AfD demonstrierte mit Zwischenrufen, Gebrüll und Schmähungen, was sie unter einem ernsthaften Abwägen von Argumenten und einem Ringen um den besten Weg versteht. Die Partei zeigt auch in dieser Krise ihre zynische und menschenverachtende Haltung: Wer Pandemie mit der Grippe gleichsetzt, wer "rationale" Politik fordert, aber die Antwort verweigert, wie wir überfüllte Intensivstationen vermeiden, spielt mit Menschenleben. Aber das ist nichts Neues in der Partei Alexander Gaulands, der achselzuckend Corona-Tote mit Unfall-Opfern im Straßenverkehr gleichsetzt.

Rational reagieren und rational regieren kann doch nur heißen: Die nüchternen Zahlen ernst nehmen. Das sind die 19.000 Neuinfektionen, die die Bundeskanzlerin noch vor Kurzem erst für Weihnachten in Aussicht gestellt hatte. Das sind die Alarmmeldungen aus dem Südwesten Deutschlands, dass die Intensivstationen bald voll belegt sind. Und das sind die Todeszahlen, die wieder steil nach oben gehen.

Parlament muss die ganze Stadt im Blick haben

Ein Parlament, das nun hoffentlich wieder stärker übernimmt und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens hinterfragt und auf ihre Verhältnismäßigkeit abklopft, darf aber nicht im kleinen Karo bleiben. Wenn etwa Kultursenator Klaus Lederer gerne Ausnahmen für Theater und Opern hätte, trotzdem aber schweren Herzen den Teil-Lockdown mitträgt, kann man nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe. Dem Virus ist das aber herzlich egal.

Das Parlament muss die ganze Stadt im Blick haben und kann sich nicht auf einzelne Bereiche, Branchen oder Interessen beschränken. Mir tut dabei jeder Restaurantbesitzer aufrichtig leid, der sich vor dem wirtschaftlichen Aus fürchtet. Ich verstehe die Wut von Theatermachern, die umfangreiche Hygiene-Konzepte umgesetzt haben und nun doch wieder nicht vor Publikum spielen dürfen und ich kann die Fassungslosigkeit der Besitzerin des Nagelstudios nachempfinden, die ihr Geschäft schließen muss, während nebenan der Frisör offen bleibt.

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Experten zum Teil-Lockdown

Was ist sinnvoll, was nicht und was folgt nach November?

Keine klassische Suche nach dem Kompromiss

Doch in der Pandemie kann Politik nicht wie in normalen Zeiten funktionieren. Die klassische Suche nach dem Kompromiss - dem einen etwas geben, dem anderen etwas nehmen - funktioniert nicht bei diesem Wettlauf mit der Zeit. Ausnahmen hier, Verwässerungen dort werden die Virus-Verbreitung nicht eindämmen. Die Grundidee des Teil-Lockdowns ist die gleiche wie beim Herunterfahren im Frühjahr: Um fast jeden Preis soziale Kontakte und Begegnungen reduzieren.

Wir müssen gemeinsam allein sein, hat der Regierende Bürgermeister Müller gesagt. Ausgerechnet im grauen, tristen Monat November. Das ist nicht schön. Das ist nicht leicht. Aber so lange es keine Medikamente und keinen Impfstoff gibt, muss es so sein. Diese Sondersitzung war auch deshalb so überfällig, weil sie gezeigt hat, dass es für die Millionenstadt Berlin derzeit keine andere Möglichkeit als den Teil-Lockdown gibt, um noch größeres Leid zu verhindern.

Sendung: Abendschau, 01.11.2020, 19:30 Uhr

Beitrag von Jan Menzel

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