Experten zum Teil-Lockdown - Was ist sinnvoll, was nicht und was folgt nach November?

Fr 30.10.20 | 13:23 Uhr | Von Haluka Maier-Borst
Berlin Neukölln (Quelle: imago-images/bildgehege)
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Ab Montag soll für einen Monat lang das öffentliche Leben weitgehend heruntergefahren werden. Doch was sagt die Forschung und was sagen Wissenschaftler zum Maßnahmen-Paket, das nun beschlossen wurde? Ein Überblick von Haluka Maier-Borst

Menschen dürfen weiterhin aus dem Haus, im Gegensatz zum ersten Lockdown bleiben zudem die meisten Läden offen und auch die Schulen und Kitas. Und trotzdem wird auch dieser zweite Teil-Lockdown ein harter Einschnitt sein. Von Theatern bis zu Clubs, von Restaurants bis zu Sporthallen werden viele Orte des öffentlichen Lebens im November geschlossen bleiben.

rbb|24 versucht darum anhand von Studien und Gesprächen mit Forschern einzuordnen, welche Maßnahmen wie sinnvoll sind und was auf den Teil-Lockdown folgen wird.

Braucht es wirklich jetzt schon einen Lockdown?

Die Fallzahlen steigen in ganz Europa und doch wirkt Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarländern wie eine Insel der Glückseligen. Denn fast überall ist die Inzidenz deutlich höher als in Deutschland mit Ausnahme von Dänemark. Trotzdem spricht einiges für das frühe Reagieren.

"Je früher Sie eingreifen, desto weniger hart müssen die Maßnahmen sein und desto kürzer können sie dauern", sagt Benjamin Steinegger von der Universität Rovira i Virgili im spanischen Taragona. "Ich als Schweizer im Ausland schaue gerade mit Besorgnis auf die Situation in meiner Heimat. Ich glaube nicht, dass sich das noch abfangen lässt."

Ähnlich sieht es auch Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien. Seit Monaten sei propagiert worden, dass die Leute freiwillig ihre Kontakte beschränken sollen. Ein Großteil der Bevölkerung trage dies mit, aber trotzdem habe das bisher nicht gereicht. Und nun gehe zunehmend der Spielraum aus. "Es hatte in den letzten Wochen fast ein bisschen etwas von 'Wer zuckt zuerst' zwischen den europäischen Staatschefs. Nur es ist vollkommen klar, dass einer eben nicht zurückzieht: das Virus."

Intensivmediziner warnen zudem davor, die noch moderate Auslastung auf den Intensivstationen falsch zu interpretieren. Es dauere in der Regel 14 Tage, bis sich das Infektionsgeschehen von heute auf den Intensivstationen widerspiegelt. "Unsere großen Zentren kommen unter Maximalbelastung", sagt Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) [zdf.de].

Sind die Maßnahmen gut gewählt?

Im Großen und Ganzen wohl ja. So legen mehrere Studien nahe, dass das Reduzieren von Gruppengrößen bei Treffen und das Schließen von "Risikogewerben" wie Clubs und Bars massiv die Zahl der Neuinfektionen senkt. "Schweden wurde ja anfangs, auch teils zurecht, für seine Strategie kritisiert. Aber dass man konsequent seit Anfang der Pandemie die Größe von Versammlungen beschränkt hat, das war sicher richtig", sagt Steinegger.

Doch es gibt einen entscheidenden Punkt, an dem das neue Maßnahmenpaket des Bundes von den wissenschaftlichen Studien abweicht. Es gilt als recht gut gesichert, dass das Schließen von Schulen und Universitäten die Zahl der Neuinfektionen ebenfalls deutlich nach unten bringt. Auch eine neue Studie der Universität Edinburgh deutet in diese Richtung [lancet.com]. Dennoch finden aber auch Forscher, dass es zumindest teilweise vertretbar ist, die Schulen und Kitas offen zu lassen.

"Das Infektionsgeschehen wird vor allem von Teenagern und jungen Erwachsenen getragen. Sehr junge Kinder hingegen tragen kaum etwas dazu bei und sind gleichzeitig auch die, die am ehesten Betreuung und analogen Unterricht brauchen", sagt Klimek. Er findet es darum durchaus verständlich, dass man zunächst die Schulen offen lässt und vor allem zuerst die Älteren in den Heimunterricht schickt.

Die meisten Ansteckungen passieren laut Studien im Privaten. Wieso müssen dann Restaurants und Theater schließen?

Tatsächlich wies das Robert-Koch-Institut (RKI) selbst im September in einer Untersuchung aus, dass ein großer Anteil der nachverfolgbaren Ansteckungen im privaten Haushalt oder in Altersheimen passieren [rki.de]. Auch andere Studien wie zum Beispiel im Fachmagazin "Science" deuten darauf hin, dass rund die Hälfte aller Ansteckungen in Haushalten passieren [sciencemag.org]. Aber man muss diese Studien mit Vorsicht betrachten.

"Wir sehen vor allem die Übertragungswege, die leicht aufzuspüren sind. Und das sind nun mal ihre engsten Kontakte zu Hause. Wenn Sie sich vom Nachbartisch im Restaurant angesteckt haben, ist das viel schwieriger nachzuvollziehen", sagt der Modellierer Klimek. So konnte die RKI-Analyse nur 27 Prozent der Fälle einem Ausbruch zuordnen.

Ferner können auch die wenigen Verbindungen außerhalb von Haushalten eine entscheidende Rolle haben. Denn wenngleich die Leute sich hauptsächlich zu Hause infizieren, so braucht es eben auch die Ansteckungen zwischen Leuten aus verschiedenen Haushalten, damit die Epidemie weiterläuft. Andernfalls würde jede Infektionskette gewissermaßen in den Haushalten in einer Sackgasse enden, sobald dort alle angesteckt wurden. In der Netzwerk-Theorie hat dieses Phänomen sogar einen Namen: "die Stärke der schwachen Verbindungen".

Gibt es also für Experten überhaupt keine Kritik an den Maßnahmen?

Doch. Die offensichtlichste Kritik aus Forschersicht ist, wieso man nicht früher und gezielter reagiert hat. Schon vor einem Monat wiesen Forscherinnen wie zum Beispiel Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik in Göttingen darauf hin, dass man jetzt die Infektionszahlen niedrig halten müsse [mpg.de].

Ferner gibt es für einzelne Maßnahmen, die vor allem in Berlin verordnet wurden, wenig Evidenz. "Masken auf der Straße bringen, so weit wir das sehen können, nichts", sagt Benjamin Steinegger. Eine Studie aus Japan schätzte, dass die Übertragung in Innenräumen 19 Mal wahrscheinlicher ist als draußen [medrxiv.org].

Der Psychologe Felix Rebitschek vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz in Potsdam sieht diesen Aktionismus durchaus mit Sorge. Wenn einzelne Teile eines Maßnahmenpakets nicht nachvollziehbar seien, könne dies durchaus auch die Akzeptanz für sinnvolle Maßnahmen des Pakets in Mitleidenschaft ziehen.

Erklären die Bundesregierung und die Landesregierungen die Maßnahmen ausreichend?

Der Psychologe Felix Rebitschek findet, dass man die Bürgerinnen und Bürger zu wenig mitnehme. Ausgehend von früherer Forschung zur Akzeptanz von Gesundheitsmaßnahmen, gebe es vier Gruppen in der Bevölkerung. Einmal diejenigen, die grundsätzlich dem Regierungshandeln vertrauen und zum anderen diejenigen, die grundsätzlich nicht für Argumente empfänglich sind. Wichtig wären aber die beiden anderen Gruppen, die sich mit der Faktenlage auseinandersetzen möchten.

Zum einen seien das die Leute, die man mit guten Argumenten von den Maßnahmen überzeugen könne. Dafür muss verständlich dargestellt werden, was man weiß und was nicht. Das geschehe aktuell zu selten. Und zum anderen sei da noch die Gruppe der Menschen, die man zwar mit den Argumenten nicht in der Sache überzeugt kriege – aber durch das Einbinden in Diskussionen. Dialogbereitschaft sei hier wichtig, erklärt Rebitschek.

"Diese Leute kommen vielleicht aufgrund der Faktenlage zu anderen Schlüssen, aber respektieren und tragen es mit, wenn die Gemeinschaft sich für einen anderen Weg entschieden hat", sagt er. Genau diese Partizipation und dieses Erklären sei aber durch die vielen Beschlüsse unter den Ministerpräsident/innen zu kurz gekommen.

Rebitschek ergänzt: "Es fehlt auch eine klare Kommunikation darüber, auf welchem Wissen basierend man welche Maßnahmen trifft und speziell, wo es Unsicherheiten gibt. Es ist sehr wichtig zu erklären, was für Unsicherheiten das sind, und auch, wie man diese Unsicherheiten verringern will."

Welche Beweislage gibt es für die nun veranschlagte Dauer von vier Wochen für die Maßnahmen?

Der Zyklus einer Corona-Erkrankung von Ansteckung bis Auftreten der Symptome dauert ungefähr drei bis fünf Tage. Geht man davon aus, dass es ungefähr zwei Zyklen braucht, bis die Wirkung von Maßnahmen sichtbar sind, muss man also sechs bis zehn Tage abwarten. "Rechnet man dann noch etwaige Verzögerungen in den Meldeketten ein, sind zwei Wochen schon das Minimum", sagt Klimek. Entsprechend sieht er es als sinnvoll an, dass man sich nun dazu entschieden habe, in zwei Wochen über das weitere Vorgehen zu beraten.

Ähnlich sieht es auch Benjamin Steinegger: "Ich würde das jetzt nicht zu sehr auf die Goldwaage legen, ob jetzt zwei, drei oder vier Wochen." Mit dem vier Wochen Zeitfenster sei man aber definitiv eher auf der sicheren Seite. Auch die oben bereits erwähnte Studie der Universität Edinburgh legt nahe, dass es durchaus vier Wochen dauere, bis der Effekt von Maßnahmen vollends sichtbar werde [lancet.com].

Und wie geht es nach dem November weiter?

Der Teil-Lockdown allein kann die Epidemie nicht eindämmen, wenn danach alles weiter geht wie vorher. Für sich genommen verschiebt er gewissermaßen nur den Höhepunkt, egal ob er vier oder mehr Wochen geht. Sehr vereinfacht und schematisch hatte das rbb|24 schon im Frühjahr einmal erklärt.

Der große Vorteil von niedrigeren Fallzahlen ist aber, dass die Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter wieder funktioniert. Und diese kann, wie Studien zeigen, ganz entscheidend dabei helfen, den Reproduktionsfaktor R zu senken. Dieser gibt nämlich an, ob die Zahl der Neuinfektionen steigt (bei R über 1) oder sinkt (bei R unter 1).

"Grob gesagt müssen wir alle mit unserem Verhalten das R für Corona, das bei 3 bis 4 ohne Maßnahmen liegt, 'nur' auf 2 herunterbringen. Den Schritt von 2 auf unter 1, das können die Gesundheitsämter mit dem Tracing leisten – wenn es eben nicht zu viele neue Fälle gibt und die Leute dort mit der Nachverfolgung hinterherkommen", erklärte Priesemann bereits vor einigen Wochen gegenüber rbb|24.

Zudem wird in der Forschung diskutiert, mehr Ressourcen in die Rückwärtsverfolgung von Kontakten zu investieren. Sprich statt für einen Infizierten nachzuverfolgen, wen er angesteckt hat, wäre es sogar wichtiger herauszubekommen, wo er sich angesteckt hat. Das mag zunächst verwirrend klingen, weil das Ziel ja sein sollte, neue Ansteckungen zu verhindern. Tatsächlich legen Studien aber nahe, dass die Epidemie vor allem durch Superspreading-Events angetrieben werden [nature.com].

Einzelne wenige Fälle stecken viele an, während der Großteil der Infizierten gar keine Person anstecken. Würde man also entsprechend zunächst rückverfolgen, welcher Superspreading-Event zu einem neu entdeckten Fall führte und könnte dann im Anschluss ein ganzes Cluster aufspüren und warnen, wäre man wahrscheinlich effizienter. Genau das ist die Strategie, die Japan verfolgt [mhlw.go.jp].

Weiterhin könnten die neu verfügbaren Schnelltests die Labore ein wenig entlasten. Trotzdem wird aber ohne Impfstoff oder Medikament gegen schwere Verläufe weiterhin der entscheinde Faktor sein, wie sich die Menschen verhalten. "Mit den Maßnahmen allein, die uns durch den Sommer geholfen haben, wird es nicht reichen", sagt Klimek.

Werden wir noch einen dritten Lockdown erleben?

Das ist schwer zu beantworten. In der Wissenschaft werden mehrere Szenarios diskutiert. So plädiert eine britische Gruppe von Forschern für periodische, zweiwöchige Lockdowns über den Winter, die man am besten mit den Schulferien gleichtakten sollte [medrxiv.org]. Diese hätten den Vorteil, dass sie klar planbar wären und somit wohl der Schaden für die Wirtschaft geringer sei.

Klimek sieht dem skeptisch entgegen: "Klar, aus Modellierersicht ist das super, weil es einfacher zu berechnen wäre. Aber ich bezweifle, dass Sie bei niedrigen Fallzahlen das durchkriegen. Und auch dass die Wirtschaft damit besser zurechtkommt, vermuten die Autoren nur. Vorgerechnet wurde das nicht."

Der Österreicher hofft stattdessen, dass im Anschluss an die europaweit drohenden zweiten Lockdowns regionaler und früher reagiert wird. "Wir sind in der aktuellen Lage, weil man an Hotspots nicht schnell genug eingegriffen hat und lokale Lockdowns gemacht hat. Und das müssen wir verpflichtender machen, auch wenn das natürlich den einzelnen hart trifft", sagt er.

Wie lang geht das noch und wie "normal" kann Weihnachten werden?

Dass man nach und nach gezielter gegen das Virus vorgehen kann, glauben die meisten Wissenschaftler. Auch sind bereits mehrere Impfstoffe in der klinischen, finalen Phase III [ndr.de].

Trotzdem dämpfen Experten die Erwartungen auf eine baldige Rückkehr zur Normalität. Selbst wenn ein Impfstoff in wenigen Monaten zugelassen würde, stelle sich die Frage, ob er auch alte Menschen effektiv schützt und wie schnell man die Bevölkerung versorgen kann. Dieses Weihnachten werde entsprechend nicht normal verlaufen, sagt der Forscher Klimek – aber womöglich könne das im nächsten Jahr zumindest deutlich normaler ablaufen.

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Beitrag von Haluka Maier-Borst

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