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Quelle: rbb|24/dpa/Sophia Kembowski

Analyse der Brandenburger Wahlprogramme

Komplizierter als Kafka

Wenn Sie zehn Zeilen weit lesen müssen, um zum Punkt zu kommen, haben Sie vermutlich ein Wahlprogramm in der Hand. In Umfang, Satz- und Wortlänge überbieten sich die Parteien vor der Landtagswahl. Wie komplex die Texte sind, zeigt eine Analyse von rbb|24.

Ganze 49.391 Wörter auf mehr als hundert Seiten umfasst das Wahlprogramm der Grünen zur Landtagswahl in Brandenburg – und ist damit im Vergleich zur Konkurrenz unangefochtener Spitzenreiter. Zum Vergleich: Der Roman Das Schloss von Franz Kafka umfasst rund 86.000 Wörter, die Schachnovelle von Stefan Zweig nur gut 18.000.

Auf den Plätzen dahinter folgen Die Linke mit 93 Seiten und 28.636 Wörtern sowie die AfD mit 80 Seiten und 24.723 Wörtern. Im Vergleich dazu wirken die Wahlprogramme von CDU (16.220 Wörter) und SPD (15.309 Wörter) fast schon übersichtlich, ganz zu schweigen von BVB/Freie Wähler mit 11.834 und FDP mit schlanken 9.113 Wörtern.

Wer soll das alles lesen?

Ein fragwürdiger Spitzenplatz für die Grünen, doch selbst das vergleichsweise kurze Wahlprogramm der FDP hat vor allem eines: sehr viel Text. Die Parteien haben also ihre Pläne und Ideen, Visionen und Vorhaben für das Land Brandenburg akribisch niedergeschrieben. Einzig: Wer soll das alles lesen?

Mal angenommen, Sie wollen sich über die Wahlprogramme aller genannten Parteien umfassend informieren. Dann müssten Sie je nach Lesegeschwindigkeit zwischen 16 und 17 Stunden reine Lesezeit einplanen – zwei volle Arbeitstage also, die Pausen kommen dann noch oben drauf. Den Kafka könnte man in dieser Zeit übrigens fast zweimal lesen, Zweigs Schachnovelle schafft ein Zehntklässler in knapp zwei Stunden.

Lange Sätze, komplizierte Wörter

Hinzu kommt – das hat eine Untersuchung der Wahlprogramme mithilfe eines Textanalyse-Tools* der Uni Regensburg ergeben –, dass die Texte an vielen Stellen auch schwer zu lesen und zu verstehen sind. Das liegt beispielsweise an der Länge der Sätze, wobei die längsten bei der AfD zu finden sind. Dort besteht ein Satz im Durchschnitt aus 18,6 Wörtern. Es folgen die Freien Wähler mit 18,2 Wörtern pro Satz und die Grünen mit 17,1 Wörtern. Die kürzesten Sätze finden sich im Wahlprogramm der CDU mit durchschnittlich 13,9 Wörtern.

Ein weiterer Indikator dafür, wie komplex ein Text ist, ist die Länge der Wörter – auch hier führen AfD und Freie Wähler das Feld an. In einem durchschnittlich langen Satz der AfD finden sich im Mittel 6,6 Wörter mit drei oder mehr Silben. Solche Wörter gelten als kompliziert. Bei den Freien Wählern sind es 6,3 lange Wörter. Am einfachsten dürften demnach die Wahlprogramme von CDU und SPD mit durchschnittlich 4,8 komplizierten Wörtern pro Satz sein.

Nebensätze und Passiv erschweren das Lesen

Viele Nebensätze und die häufige Verwendung von Formulierungen im Passiv machen es noch schwerer, die Texte zu verstehen. Bei CDU und AfD stehen etwa ein Viertel aller Sätze im Passiv, bei FDP und Freien Wählern sind es sogar fast 30 Prozent. Etwas seltener sind Passivkonstruktionen bei der SPD (21,7 Prozent), unter einem Fünftel liegen Linke (19,9) und Grüne (17,8). Im Vergleich dazu stehen in Zweigs Schachnovelle nur knapp neun Prozent und in Kafkas Schloss rund zwölf Prozent der Sätze im Passiv.

Dafür wimmelt es in den beiden literarischen Werken von noch mehr Nebensätzen als in den Wahlprogrammen. Wobei nur die CDU knapp die 40-Prozent-Marke verfehlt, teilweise hat mehr als die Hälfte aller Sätze einen Nebensatz.

Hochschul-Niveau statt verständlicher Infos für Jedermann

Doch was sagen diese Zahlenspiele aus? Sind die Programme der Volksvertreter trotzdem als Lektüre für Jedermann geeignet? Bei der Beantwortung dieser Frage hilft der sogenannte Flesch-Index. Danach sind Sätze umso schwerer zu verstehen, je länger sie sind und je mehr lange Wörter sie enthalten. Entsprechend berechnet er sich aus der durchschnittlichen Satz- und Wortlänge eines Textes. Je höher der Index-Wert, desto einfacher der Text. Werte bis 30 weisen auf Texte auf Hochschul-Niveau hin.

Wendet man den Flesch-Index auf die Wahlprogramme an, kommt heraus: man benötigt mindestens Abitur, wenn nicht gar einen Hochschulabschluss, um sie zu verstehen. Am kompliziertesten sind demnach die Programme der Freien Wähler (Flesch-Index: 29,9), der Linken (30,3) und der AfD (30,8), als am einfachsten schneidet – allerdings noch immer auf hohem Niveau – das Programm der SPD (38,7) ab.

Damit sind sämtliche Wahlprogramme deutlich schwerer zu lesen und zu verstehen als unsere Vergleichswerke aus der Literatur - Schloss (62,9) und Schachnovelle (53,1).

Was sagen die Parteien dazu?

Die Parteien antworten auf Anfrage von rbb|24, die Wahlprogramme seien für sie nicht Wahlkampf-Instrument Nummer 1 für die breite Masse. Die SPD erklärt beispielsweise: "Als Volkspartei haben wir den Anspruch, für alle Menschen, für alle Regionen, für alle Generationen in Brandenburg eine sozial gerechte Politik zu gestalten. Dementsprechend ist unser Wahlprogramm auch umfangreicher als das von Parteien, die nur eine bestimmte Klientel oder Zielgruppe ansprechen wollen".

Die Linke teilt mit, ihre Wahlprogramme seien "traditionell sehr breit und ausführlich diskutierte Texte, zumal sie auch Grundlage für das Handeln der Fraktion und gegebenenfalls einer Regierungsbeteiligung sind".

Die CDU verweist auf die "Komplexität vieler politischer Themen", die "mitunter auch eine entsprechend komplexe Beschreibung" erfordere. Hinzu komme, dass sich das Programm an ein breites Publikum richte: "Vom Experten, der für seinen Fachbereich detaillierte und fachkundige Antworten erwartet, bis hin zur breiten Öffentlichkeit, die einen Überblick über unser gesamtes Programm gewinnen möchte."

rbb|24-Wahlcheck

Landtagswahl in Brandenburg

Das sind die Positionen der Parteien im Vergleich

Damit Sie die Wahlprogramme besser vergleichen können, haben wir einen Wahlcheck entworfen: Dort können Sie die Forderungen und Positionen der Parteien zu acht ausgewählten Themen übersichtlich und verständlich aufbereitet nachlesen.

Auch für die Grünen ist das Wahlprogramm "eine ausführliche Positionsbestimmung" und "wichtige Grundlage für die politische Arbeit der nächsten Wahlperiode", also "eine Art Nachschlagewerk bündnisgrüner Positionen in Brandenburg", das sich an politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger sowie an Fachleute richte, die "sich ein detailliertes Bild der Programmatik" machen wollten.

"Ein Wahlprogramm soll Antworten auf komplexe Fragen, Aufgaben und Probleme geben. Das beinhaltet auch die Darstellung, wie genau sich eine Partei diese Lösungen vorstellt und wie der Weg zur Lösung aussehen kann", heißt es von der FDP.

BVB/Freie Wähler widersprechen dem Analyseergebnis von rbb|24 als einzige Partei grundsätzlich: "Bürger haben unser Programm gelesen, uns angerufen und gesagt, dass sie sich damit identifizieren können und beitreten wollen – zumeist Menschen ohne Abitur. Nicht ein einziges Mal ist der Einwand erhoben worden, es sei zu kompliziert", heißt es in der schriftlichen Antwort auf die Anfrage. Außerdem dürfe es in der Politik durchaus auch Fachsprache geben. Denn das Wahlprogramm sei "ein Produkt eines internen Programmprozesses mit dem Anspruch, so konkret wie möglich zu formulieren, was man in der nächsten Wahlperiode im Landtag umsetzen will".

Keine Antwort erhielt rbb|24 von der AfD.

Weitere Angebote in verständlicherer Sprache

Die übrigen Parteien verweisen zudem darauf, dass sie ihre Inhalte nicht nur in ihren ausführlichen Wahlprogrammen, sondern auch auf diversen anderen Wegen leichter verdaulich zur Verfügung stellen - mit dem Ziel sehr unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen und zu erreichen. Um Barrierefreiheit zu gewährleisten, bieten Linke, Grüne und FDP ihre Wahlprogramme sogar in "Leichter Sprache" an.

Alle sechs Parteien mit Ausnahme der AfD teilten mit, dass sie die breite Wählerschaft vor allem mit Plakaten, Flyern und Kurzwahlprogrammen, die sich auf die Kernaussagen konzentrierten, zu erreichen versuchten. Aber auch den sozialen Netzwerken, wo die Themen zielgruppengerecht aufbereitet würden, komme eine wichtige Funktion zu.

Selbstkritik und -analyse

Wenn Sie das Gefühl haben, diese Analyse der komplizierten Wahlprogramme sei selber nur schwer lesbar, können wir Ihnen mitteilen: Der Beitrag ist mit seinen 1.200 Wörtern von einem durchschnittlichen Zehntklässler in etwa acht Minuten Lesezeit zu schaffen. Und der Flesch-Index (54,7) besagt, dass er leichter zu lesen ist als sämtliche Wahlprogramme. Er ist aber auch: komplizierter als Kafka.

Beitrag von Claudia Stern und Götz Gringmuth-Dallmer

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