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Audio: Inforadio | 06.11.2019 | Interview mit Thomas Krüger | Quelle: dpa/Soeren Stache

Interview | Thomas Krüger zu 30 Jahre Mauerfall

"Das einzige, das untergangen ist, ist Westberlin"

Vor der Deutschen Einheit war er Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Nach der Wende war er Jugendsenator in der geeinten Stadt und Mitglied des Bundestags. Anke Burmeister hat mit Thomas Krüger über sein Leben in zwei Teilen gesprochen.

rbb: Sie waren 30, als die Mauer fiel. Sie sind jetzt demnach doppelt so alt. Kann man sagen, dass Ihr Leben zwei Teile hat?

Thomas Krüger: Ja. Aber man kann nicht sagen, dass ich diese beiden Hälften als Hälften erlebe, sondern die eine Hälfte ist sozusagen aus der anderen hervorgegangen. Meine grundsätzliche Prägung und mein Erwachsenwerden wurden komplett durch die DDR geprägt. Ich konnte mir eigentlich nie vorstellen, dass aus der DDR was anderes wird als DDR.

Konnten Sie sich nie vorstellen, die DDR zu verlassen?

Das konnte ich mir schon vorstellen, weil viele meiner Freunde diesen Weg gewählt haben. Aber ich bin eine ganze Zeit trotzig geblieben und habe mir immer gesagt, es muss sich doch hier irgendwie was ändern. Die Lage hat sich 1989 dramatisch zugespitzt. Immer mehr Leute sind aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis in den Westen übergesiedelt, haben Botschaften besetzt oder sind über Österreich geflohen. Irgendwie hatte man den Eindruck, entweder man ist der Letzte, der das Licht ausknipst, oder es muss sich was ändern. Und ich glaube, zeitgleich mit dieser Massenauswanderung hat sich die Opposition in der DDR, die im Gegensatz zur Solidarność-Bewegung in Polen ja wirklich klein war, trotzdem 1989 formiert.

Zur Person

Thomas Krüger

- 1959 in Buttstädt (Thüringen) geboren - Studium der Evangelischen Theologie in Fürstenwalde - Anschließend in Eisenach und Berlin als Vikar tätig - 1989 Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR - Vom 11. bis 24. Januar 1991 letzter kommissarischer Oberbürgermeister in Ostberlin - 1991 bis 1994 Senator für Familie und Jugend in Berlin - 1994 bis 1998 Mitglied des Bundestages - Seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung  

Ist der aktuelle Frust und diese Unzufriedenheit vielleicht auch darin begründet, dass es zu wenig Menschen gab, die eine andere DDR wollten, die zu schnell diese Identität auch aufgegeben haben?

Da ist möglicherweise was dran. Wenn man sich an den September und Oktober '89 erinnert, waren wir eigentlich alle getrieben und getragen von der Vorstellung: Jetzt bauen wir eine demokratische DDR. Wir hatten nicht vor, den Westen in der DDR aufzubauen. Viele Leute wollten den dritten Weg, wollten etwas anderes, etwas selbstbestimmtes, auch ökonomisch. Wir waren natürlich auch indirekt geprägt durch den Kalten Krieg, sprich der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Muss es denn das eine oder das andere sein? Diese Fragen sind robust an ein Ende gekommen durch den Fall der Mauer. Es ist einfach eine Situation gewesen, wo diese Utopie des dritten Weges schlicht in sich zusammengefallen ist. Heute wird man sagen können, dass das Einzige, was wirklich definitiv und final untergegangen ist, Westberlin ist. Also der utopische Ort des Westens, wenn man so will. Dagegen finde ich eigentlich viel DDR heute in den Alltagspraktiken des Westens wieder.

Können Sie Beispiele nennen?

Beispielsweise die Kosten- und Leistungsrechnung in Verwaltungen. Das ist nichts anderes als Planwirtschaft: überbordende bürokratische Verfahren, die sich mittlerweile breit gemacht haben. Eine zweite, ganz mit Händen zu greifende Praktik, ist die Kindergartenbetreuung. Der Westen ist nicht der Westen, wie er es vor '89 war, sondern er hat bestimmte Momente von DDR in sich integriert. Unser heutiges Problem ist, dass wir eine deutliche Unterrepräsentation von Ostdeutschen in den öffentlichen Institutionen oder überhaupt in Institutionen in unserem Land haben.

Aber wir haben eine Ostdeutsche als Bundeskanzlerin. Wäre es besser gewesen, wenn Angela Merkel offener zu ihrer ostdeutschen Biografie gestanden hätte?

Ich bin skeptisch, ob diese identitätspolitischen Perspektiven uns wirklich weitergeholfen hätten. Angela Merkel ist nicht nur die Kanzlerin der Ostdeutschen, sondern die Kanzlerin aller Deutschen. Es wäre wichtiger gewesen, wenn mehr Ostdeutsche in ihren Kabinetten politische Verantwortung getragen hätten. Dass vielleicht auch in der zweiten und dritten Reihe Ostdeutsche Erfahrung hätten sammeln können, die sie dann an anderen Positionen hätten vertiefen können.

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Welche Sorgen bereiten Ihnen, als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Wahlergebnisse?

Große Sorgen. Ich habe den Eindruck, dass wir mit einem tiefgehenden Wandel unserer Gesellschaft zu tun haben - wie übrigens alle westeuropäischen Gesellschaften. Die Menschen halten diese sehr stark ausgerichtete neoliberale Wirtschaftsordnung nicht mehr wirklich aus. Sie haben das Gefühl, Zugehörigkeit zu verlieren und setzen deshalb sehr stark auf lokale und regionale Zugehörigkeit. Wenn man das analysiert, kann man schon zu dem Ergebnis kommen, dass die Fragen ideologischer Natur zwischen links und rechts, dass die Fragen ökonomischer Natur von oben und unten ergänzt werden müssen - durch neue Konfliktlinien, die eher kultureller Art sind.

Es heißt, die einen stehen eher auf eine heterogene, offene, plurale Gesellschaft, und die anderen eher auf ein homogenes Zusammengehörigkeitsgefühl im ländlichen Raum oder in der Nachbarschaft. Das heißt, dass sie eher kommunitär unterwegs sind. Das heißt nicht zwangsläufig, dass man zum Rassisten und Chauvinisten werden muss. Aber in der politischen Repräsentation beobachten wir in der politischen Bildung, dass diese eher rechten Erzählungen von Kommunitarismus dominieren.

Es gibt keine liberale kommunitäre Erzählung, es gibt auch keine linke kommunitäre Erzählung, weil alle linken Parteien - wie SPD, Grüne und Linkspartei - sich in den kosmopolitischen Sektor verabschiedet haben.

Wir haben es mit einem Repräsentationsproblem in unserer Gesellschaft zu tun und mit einer Drift, die vor allem diejenigen von diesem rassistisch-chauvinistischen Angebot der AfD Gebrauch machen lässt, die einen kommunitären Lebensentwurf haben - sie wählen mangels anderer Angebote eben Protest.

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Wie lange wird es eine Rolle spielen, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt - zur Identifizierung und für unser Zusammenleben?

Wie Beispiele zeigen, dauert es immer einen Zeitraum von drei Generationen, bevor der Verarbeitungsprozess historisierend wird. Es gibt zum einen die Erlebnisgeneration - solange es die gibt, wird die Dimension von einem zweigeteilten Deutschland noch in der Öffentlichkeit wach sein. Wir wissen auch, dass die zweite Generation eine ist, die schwerer über das reden kann, was mit den Traumata der Eltern passiert ist. Die Vertriebenen haben mit ihren Kindern so gut wie überhaupt nicht darüber geredet, aber sie reden mit den Enkeln darüber. Das ist ein interessantes Phänomen, das wir überall beobachten. Da beginnt der Historisierungsprozess, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen, nicht sofort in Zorn auszubrechen, wenn eine bestimmte Position gehört wird, die man vielleicht in der Generation davor noch gebrandmarkt hätte. Und wir befinden uns, wenn man so will, an der Nahtstelle zu dieser Historisierung.

Wie wird in 30 Jahren über den 9. November und über diese ganze Zeit geredet werden? Was wird bleiben?

Der Historiker Hans Ulrich Wehler hat in seiner fünfbändigen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts die DDR eine Fußnote der Geschichte genannt. Das ist ein bisschen zynisch. Ich sehe die Bundesrepublik Deutschland in 30 Jahren auf dem Weg zu einer sehr bunten, heterogenen Gesellschaft. Was ich unglaublich toll finde, denn diese beiden Teile Deutschlands waren schon eine sehr ausgeprägte Nabelschau, das hat auch etwas Lächerliches. In 30 Jahren wird man vielleicht auf die deutsche Teilung milde herabsehen, aber man wird begreifen, dass Differenz etwas ist, was für Gesellschaften wichtig ist. Gleichförmigkeit und Homogenität führen immer dazu, dass die Abweichung und der alternative Lebensentwurf nicht gewertschätzt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anke Burmeister, Inforadio. Der Text ist eine gekürzte Fassung - das komplette Gespräch können Sie hören, wenn Sie auf den Audio-Button im Titelbild klicken.

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