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Audio: rbb | 31.03.2020 | Interview mit Peer Rechenbach | Quelle: dpa

Analyse des Robert Koch-Instituts

Wie ein Szenario von 2013 Teile der Corona-Pandemie von heute vorwegnahm

Schon 2013 entwickelte das Robert Koch-Institut ein Pandemie-Szenario, wie es jetzt in weiten Teilen Realität geworden ist. Politische Konsequenzen wurden daraus damals aber offenbar nicht gezogen. Von Jo Goll, Torsten Mandalka und René Althammer

"Modi-Sars" haben die Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts (RKI) den Erreger genannt, der in ihrem Szenario von 2013 drastische Auswirkungen hat: 7,5 Millionen Tote, ein völlig überfordertes Gesundheitssystem, heftige wirtschaftliche Schäden, eine tiefe Verunsicherung der Bevölkerung, politische und gesellschaftliche Verwerfungen.

Das Erschreckende an dem Szenario ist: Es beschreibt fast punktgenau die aktuellen Vorkommnisse. Andererseits ist erkennbar: Ganz so schlimm wie die "Modi-Sars"-Pandemie des Szenarios wird das des Coronavirus Sars-CoV-2 dann - aller Voraussicht nach - doch nicht wüten. Nur: Im Szenario sind Ärzte, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in ihren Möglichkeiten der Gegenwehr genauso beschränkt wie in der Realität.

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Szenario "Modi-Sars" basiert auf realen Erfahrungen

Die Geschichte, die die Wissenschaftler vor sieben Jahren zeichneten, basiert auf ihren Erfahrungen mit verschiedenen Epidemien der Vergangenheit (Influenza, HIV, SARS-CoV, Vogelgrippe H5N1). Sie kommt den aktuellen Abläufen verblüffend nah: Der hypothetische "Modi-Sars"-Erreger ist irgendwo auf einem Markt in Südostasien von einem Wildtier auf den Menschen übertragen worden. Dort haben sich dann weitere Menschen angesteckt. Denn auch das Virus im Szenario ist von Mensch zu Mensch übertragbar. Da Infizierte nicht sofort krank werden, aber trotzdem schon Virus-Überträger sind, dauert es, bis die Gefahr erkannt wird, so die Annahme der Wissenschaftler.

Im Szenario fliegen dann zwei Infizierte nach Deutschland. Einer besucht eine Messe in einer norddeutschen Großstadt, die andere Person nimmt nach einem Auslandssemester ihr Studium in Süddeutschland wieder auf. Diese beiden "Index-Patienten" verbreiten zusammen mit einigen anderen Einreisenden durch ihre umfangreichen Sozialkontakte das Virus.

So nehmen Infektionen mit stetig steigender Geschwindigkeit zu. Die Wissenschaftler gehen von drei Erkrankungswellen über den gesamten Pandemie-Verlauf aus, vergleichbar der Spanischen Grippe. Da Viren auch mutieren können, besteht immer das Risiko, dass sich bereits gesundete Menschen nach einiger Zeit neu anstecken können. Auch das wird heute diskutiert.

Die Behörden versuchen im Szenario, der Pandemie mit Anti-Seuchen-Maßnahmen wie Quarantäne entgegenzuwirken. Diese Bemühungen können den Pandemie-Verlauf aber nur abmildern – sie können ihn nicht stoppen. Und ab einer bestimmten Anzahl von Infizierten bringt auch die Quarantäne nichts mehr. Allerdings gäbe es ohne diese Maßnahme fast dreimal so viele Opfer.

Die Schwachstellen waren bekannt

Wie in der aktuellen Diskussion auch, spielt im Szenario der RKI-Wissenschaftler das Thema Zeitgewinn eine entscheidende Rolle. Die Geschwindigkeit des Epidemieverlaufs zu verlangsamen sei wichtig: "Dieser Zeitgewinn durch anti-epidemische Maßnahmen kann sehr effizient genutzt werden, um zum Beispiel persönliche Schutzausrüstung herzustellen, zu verteilen und über ihre korrekte Anwendung zu informieren", heißt es im Szenario.

Vor dem Hintergrund der heutigen Situation ein geradezu prophetischer Ansatz. Die zu treffenden Gegenmaßnahmen werden in der Bundestags-Drucksache 17/12051 [bundestag.de] detailliert aufgelistet: etwa die Absage von Großveranstaltungen, die Schließung von Schulen und die generelle Verlangsamung des öffentlichen Lebens. 

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Inzwischen wird in zunehmendem Maß eine sich daraus ergebende Frage diskutiert: Wenn der Bundesregierung schon Ende 2013 bewusst war, welche Gefahren beim Ausbruch einer solchen Pandemie auf Deutschland zukommen könnten, warum hat man dann nicht entsprechende Maßnahmen ergriffen? Entsprechende Hinweise und Vorschläge gab es schon damals, die Schwachstellen wurden benannt: Die Bevorratung von Atemschutzmasken, Schutzanzügen oder Desinfektionsmitteln in Krankenhäusern beispielsweise.

"Länder sind zuständig für Katastrophenschutz"

In einem Bericht der ZDF-Sendung "Frontal 21" berichtet ein Krankenhaus-Arzt davon, dass Großhändler derzeit ausreichenden Nachschub an Desinfektionsmittel nicht garantieren können. Deshalb müsse seine Abteilung bald geschlossen werden.

Das Bundesinnenministerium (BMI) verweist auf rbb-Anfrage auf den Föderalismus: "Die Länder sind zuständig für den Katastrophenschutz", heißt es. Und weiter: "Sie müssen die hierfür erforderlichen personellen und auch materiellen Ressourcen vorhalten." Im Fußball sagt man dazu: "Nimm Du den Ball, ich hab' ihn sicher."

Die damaligen Erkenntnisse fanden auch Eingang in den Nationalen Pandemieplan [gmkonline.de] (Stand 2.März 2017). Darin formuliert das RKI "Planungshilfen" für Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime: "Bevorratungen" von Atemschutzmasken und anderen Hygieneschutzartikeln werden ebenso angeregt wie Managementkonzepte "für rasche Beschaffung im Ernstfall".

Doch ein Blick in das Berliner Pandemie-Konzept und das Landeskrankenhausgesetz ergibt schnell: Von verpflichtenden "Bevorratungen" ist dort keine Rede. Auch auf die Frage, wie man sich auf globale Lieferengpässe vorbereiten soll, findet sich keine Antwort. Die wäre angesichts des zeitweiligen Ausfalls Chinas als Produzent von Hygieneartikeln aktuell mindestens hilfreich gewesen.

Katastrophenschutz: "mühsame Angelegenheit"

Der Katastrophenschutz-Experte Peer Rechenbach arbeitete 2012 an der Erstellung des Szenarios "Modi-Sars" mit. Katastrophenschutz, so berichtet der ehemalige Leiter der Abteilung für Katastrophenschutz in der Hamburger Innenbehörde heute am Telefon, sei schon immer eine mühsame Angelegenheit gewesen, bei der man dicke Bretter bohren müsse. "Viele Aktivitäten wurden schon deshalb eingestellt, weil eine Kostensteigerung im Gesundheitswesen befürchtet wurde. Dies hätte den Bemühungen der Kostenreduzierung im Gesundheitswesen widersprochen", sagt Rechenbach.

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Die nicht erfolgte Bevorratung von medizinischer Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten etwa sieht Rechenbach aber nur als eines von vielen Problemen. Es müsse auch gewährleistet sein, dass "auch ausreichend qualifizierte Personen zur Verfügung stehen, die dann technische Ressourcen nutzen und bedienen können." Vieles davon hätten Bund, Länder und Kommunen in den vergangenen Jahren schlicht versäumt. Ganz einfach, weil "zu wenig qualifizierte Akteure in der Exekutive vorhanden sind, die sich um die Entwicklung und Umsetzung von umfassenden Strategien zur Bewältigung von Großschadensereignissen bemühen", so Rechenbach weiter. Jetzt müsse man aus den weltweiten Erfahrungsberichten zu Katastrophen endlich Lehren ziehen.

Auch der grüne Innenexperte Konstantin von Notz fragt sich, ob der Staat nach den Erfahrungen mit Epidemien wie dem SARS-Erreger, der Vogel- und der Schweinegrippe mehr Resilienz hätte aufbauen müssen. So nennen Wissenschaftler die Widerstandskraft einer Gesellschaft gegen Krisen.

Klar sei: "Getan wurde von der Bundesregierung zu wenig", so von Notz. Jetzt sei aber nicht die Zeit zurückzuschauen. Die Krise müsse zuerst bewältigt werden. "Aber wenn das gelungen ist, müssen wir einen Blick zurück werfen, damit wir zukünftig nicht noch einmal so auf dem falschen Bein erwischt werden."

Impfstoff im Szenario erst nach drei Jahren

Bemerkenswert ist, dass in dem 2013er Szenario ähnliche Szenen beschrieben werden, wie sie auch heute in den Krankenhäusern stattfinden. Menschen sterben und die Ärzte können nur vereinzelte Symptome bekämpfen, nicht aber die virale Ursache.

Die Grafik-Kurven der Annahme-Studie sehen genauso aus wie die echten von heute. Genauso ist das Gesundheitssystem dort überfordert: Es mangelt an Behandlungskapazitäten und Ausstattung, die Ärzte müssen per "Triage" über Leben und Tod entscheiden. Ein Szenario, das in Italien und Spanien dieser Tage zur traurigen Gewissheit geworden ist.

In der Katastrophen-Annahme von 2013 kommt es in den Bereichen Transport und Verkehr zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen: Wirtschaftsbetriebe gehen pleite, es mangelt überall an qualifiziertem Personal. Auch die Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs bleibt nicht auf dem gleichen Niveau. Nach der Schlussfolgerung der Wissenschaftler stehen die Behörden vor Herausforderungen, die sie zum Teil nicht mehr bewältigen können. Auch politische Verwerfungen sind deswegen nicht ausgeschlossen. Die Krise dauert so lange unvermindert an, bis ein Impfstoff gefunden ist – im Szenario erst nach drei Jahren.

Heute sind wir weiter als 2013

Der entscheidende Unterschied zwischen dem "Modi-Sars"-Szenario von vor sieben Jahren und der Realität von heute ist: Der Sars-CoV-2-Erreger ist lange nicht so tödlich wie das angenommene Virus von damals. Danach wären zehn Prozent der Infizierten ums Leben gekommen.

Auch gibt es bei der Krankheit Covid-19 sehr viel mehr milde Verläufe als beim angenommenen "Modi-Sars". Das Gesundheitssystem hat deswegen viel bessere Chancen, der Herausforderung gerecht zu werden, ebenso wie Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.

Und: Die Solidarität der Menschen scheint heute deutlich besser zu funktionieren als in der Hypothese von damals - genauso wie die internationale Zusammenarbeit, besonders im Bereich der Wissenschaft. Es bestehen gute Chancen darauf, dass doch mithilfe von Tests mehr Immunitäten erkannt werden können. Die Hoffnung, dass in absehbarer Zeit wirksame Medikamente gefunden werden, ist nicht unrealistisch. Ein Impfstoff ist aller Wahrscheinlichkeit nach dann doch deutlich schneller verfügbar als in erst drei Jahren. Allerdings ist eine Corona-Krise, die auch nur ein Jahr lang dauert, auch schon eine Menschheits-Herausforderung.

Beitrag von Jo Goll, Torsten Mandalka und René Althammer, rbb24 Recherche

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