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Quelle: dpa/Julian Stratenschulte

Kommentar | Grundrechte in der Corona-Krise

Gemeinsam gefangen im Kontaktsperren-Dilemma

Wir verhindern Ansteckungen und erleben gleichzeitig, dass nichts, was wir kannten, mehr Bestand hat. Die Corona-Krise zwingt uns ein Dilemma auf: Freiheit versus Verantwortung. Doch eine Alternative zur Kontaktsperre gibt es nicht, meint Oliver Noffke.

Machen wir uns nichts vor. Kontaktsperre ist Mist. Am Wochenende hatte meine Nichte Geburtstag. Sie ist nun drei. Ein tolles Alter. Sie nimmt ihre Umgebung wahr und baut sich die Welt nach ihrer ganz eigenen Logik wieder zusammen. Sie sagt Sätze, die fast Sinn ergeben und dann doch ins herrlich Absurde abrutschen. "Papa, ich mach mich hübsch und dann können wir verheiraten." Zu gern hätte ich sie besucht, in den Arm genommen, mir einen Knutscher abgeholt und ihr dabei zugesehen, wie sie ungeduldig das bunte Papier von ihrem Geschenk zupft.

Stattdessen erhielt ich ein Video der Szene. Ich habe es mir mehrfach auf dem Smartphone angesehen. Es war süß und ich habe mich gefreut. Doch es schwang Wehmut mit. Ein Video ist nicht mehr als ein Schnipsel. Ein Moment, der bereits verflogen ist. An dem ich nicht teilnehmen konnte. Dass der Begriff eigentlich im Strafvollzug zu Hause ist, macht es noch offensichtlicher: Kontaktsperre ist Mist!

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Wie lange halten wir das noch aus? Drinnen bleiben; nur für das Nötigste das Haus verlassen; höchstens mal zum Joggen in den Park, aber dann allein; anrufen, anstatt sich auf einen Kaffee zu treffen; Videobrunch statt Angrillen mit Freunden. Noch gehen die Ideen nicht aus und ich kann die Situation mit Humor überstehen. Aber die Geduld bröckelt. Jedes Mal ein klein wenig mehr, wenn bei einem Videoanruf wieder die Verbindung wegbricht und Freunde zu Pixelmonstern werden.

Ein erhebliches Dilemma für alle

Bis vor Kurzem habe ich mir nicht vorstellen können, dass ich erleben werde, wie in Deutschland Grundrechte ausgehebelt werden. Zumal in Friedenszeiten. Nun gibt es Bundesländer, die nur noch gemeldete Bewohner reinlassen und seit Wochen darf nicht mehr demonstriert werden. Für und gegen nichts. Dabei gibt es auch jetzt genügend Gründe zum demonstrieren. Die übrigen Probleme haben sich schließlich nicht plötzlich erledigt. Trotzdem wird es kommendes Wochenende keine Ostermärsche geben, an denen sonst Hunderttausende im ganzen Land teilnehmen. Es wird auch niemand mit guten Freunden ein Bier im Schein eines Osterfeuers trinken.

Den Regierungen in Bund und Ländern scheint die Tragweite der Einschränkungen bewusst zu sein. "Das ist sehr erheblich", sagte der Berliner Innensenator Andreas Geisel am Montag im ZDF-"Morgenmagazin" zur ausgesetzten Versammlungsfreiheit. "Deswegen erheben wir diese Beschränkungen auch immer nur für zwei Wochen, um sie dann wieder auf ihre Notwendigkeit zu überprüfen", so der SPD-Politiker.

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Diese ständige Überprüfung hat vergangene Woche auch der Deutsche Ethikrat empfohlen [ethikrat.org]. Die Abwägung zwischen Maßnahmen, die eine Ausweitung des Coronavirus verhindern und Grundrechten, die uns allen versichert sind, beschreibt der Rat als Dilemma. Eine gerechte Entscheidung sei aktuell unmöglich. Der Rat nennt aber auch einen wesentlichen Orientierungspunkt für die Volksvertreter. Es müssten Situationen verhindert werden, "in denen Ärzte zu entscheiden gezwungen wären, wer vorrangig intensivmedizinische Versorgung erhalten und wer nachrangig behandelt werden soll." Das müsse so lange verhindert werden, wie es wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich getragen werden könne. Also so lange, wie wir es noch ertragen können. Einen Fahrplan dafür gibt es nicht.

Wenn es um die schrittweise Rücknahme der Einschränkungen geht, stehen die Folgen für das Gesundheitssystem im Vordergrund, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag. "Es wäre ganz schlecht, wenn wir alles zurücknehmen müssten, weil wir zu schnell gehandelt haben."

Ich, die Virenschleuder?

Anfang des Jahres hatte meine Oma ihren 90. Geburtstag. Tanten, Onkels, Cousinen, Brüder, Schwestern, Enkel, Urenkel, Partner alle haben wir uns und die Oma geherzt. Erinnerungen aus einer anderen Welt. Damals war mir nicht bewusst, dass eine Stadt mit elf Millionen Einwohnern existiert, die Wuhan heißt. Mir wurde aber ins Gedächtnis gerufen, was bereits scheinbar simple Erkältungsviren anrichten können. Ich wurde zur unabsichtlichen Zielscheibe eines gewaltigen Kinderniesers. Mitten ins Gesicht. Drei Tage später war ich völlig schlapp und konnte kaum einen Gedanken fassen.

Was wir jetzt erleben, ist damit nicht zu vergleichen. Angesichts des teilweise völlig erratischen Verhaltens dieses neuen Virus kann ich mir nicht einmal sicher sein, ob ich nicht bereits infiziert war, ohne es bemerkt zu haben. War ich eine Virenschleuder? Bin ich es vielleicht noch? Wir befinden uns alle in einer Situation, in der selbst hochspezialisierte Wissenschaftler nach Antworten auf grundlegende Eigenschaften von Virus und Krankheit suchen.

Das Warten auf Antworten und Zahlen, nach denen eine Lockerung der Beschränkungen unserer Grundrechte besser abgewogen werden können, ist nur schwer zu ertragen, wenn im Bekanntenkreis die Kurzarbeit grassiert und es erste Fälle von Arbeitslosigkeit gibt. Wenn die Polizei wieder öfter in Wohngebiete ausrücken muss und sich die Frauenhäuser füllen.

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Aber ich möchte nicht, dass eine Ärztin oder ein Arzt in Deutschland darüber entscheiden muss, ob einer erkrankten Person lebensrettende Maßnahmen vorenthalten werden aufgrund von statistischen Wahrscheinlichkeiten. Ich will nicht, dass Pflegerinnen und Pfleger ihre Gesundheit oder ihr Leben riskieren, weil massenhaft hochinfektiöse Patienten angeliefert werden. Ich will nicht, dass Menschen allein sterben müssen oder es noch mehr Beerdigungen ohne Trauernde gibt.

Ostern ist mir heilig - normalerweise. Ich fahre dann immer zurück in mein Dorf, die Omas besuchen. Die ganze Familie trifft sich. Das ist ein unausgesprochenes Gesetz. Dieses Jahr schicke ich Karten und werde mich per Videoanruf melden, auch wenn ich dann zum Pixelmonster werde. Es wird auch wieder Wehmut mitschwingen, wenn ich mir wiederholt Clips anschaue, in denen meine Nichte Osternester unterm Schreibtisch aufstöbert, gluckst und gackert, lustige Sätze sagt und ich sie dabei nicht in den Arm nehmen kann. Ich will sie alle später drücken.

Natürlich ist das sentimental. Na und? Kontaktsperre bleibt Mist. Aber jede Alternative erscheint mir derzeit richtig gruselig.

Beitrag von Oliver Noffke

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