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Video: Abendschau | 13.05.2020 | Kerstin Breinig | Quelle: imago images/Christian Ditsch

Offener Brief an die Gesundheitssenatorin

Berliner Amtsärzte lehnen Kalaycis Corona-Ampel ab

Die vom Senat beschlossene Corona-Ampel stößt bei den Berliner Amtsärzten auf starken Widerstand. In einem offenen Brief kritisieren sie die am Dienstag vorgestellten Pläne als "nicht nachvollziehbar". Auch mit der Art der Kommunikation sind sie unzufrieden.

Die Berliner Amtsärztinnen und Amtsärzte üben scharfe Kritik an dem vom Senat beschlossenen Corona-Frühwarnsystem. In einem offenen Brief an Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) bezeichnen sie das angedachte Ampelsystem als "medizinisch nicht nachvollziehbar". Ähnlich hatte sich schon zuvor der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid geäußert.

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Vom Ampelsystem aus der Presse erfahren

In dem offenen Brief, der rbb|24 vorliegt, wird neben dem Ampelsystem auch die Art der Kommunikation kritisiert. "Die geplanten Maßnahmen wurden vorab den Gesundheitsämtern nicht kommuniziert. Die Informationen zum Ampelsystem und zur sogenannten Teststrategie erfuhren wir ausschließlich aus der Presse", heißt es in dem Brief. Man sei "fachlich-medizinisch in keiner Weise angehört oder eingebunden" worden. Und weiter: "Bürger und Bürgerinnen wenden sich an uns mit Anfragen, die wir nicht beantworten können." Das führe zu Irritationen und Verunsicherungen in der Bevölkerung.

Auch die von Kalayci angekündigte Änderung der Teststrategie, wonach künftig auch Menschen in Berlin ohne Symptome auf das Coronavirus getestet werden sollen, lehnen die Amtsärztinnen und Amtsärzte ab. Man biete dem Senat an, sich an der "Erarbeitung einer fachlich untermauerten Gesamtstrategie" zu beteiligen, heißt es in dem Brief weiter.

Viel Unmut auch im Abgeordnetenhaus

Auch im Abgeordnetenhaus wurde am Mittwoch Kritik über die Art der Kommunikation des Senats laut. Der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier kritisiere, der Senat habe dem Rechtsausschuss nicht rechtzeitig die neuen Corona-Beschlüsse zur Beratung vorgelegt. Das sei eine "Riesensauerei", sagte das Mitglied der SPD-Regierungsfraktion am Mittwoch im Ausschuss, der per Livestream übertragen wurde. "Der Umstand ist hochgradig ärgerlich." Das Parlament müsse ernst genommen werden.

Auch der rechtspolitische Sprecher der Linke-Regierungsfraktion, Sebastian Schlüsselburg, kritisierte die zu späte Übermittlung durch den Senat. Dafür habe er kein Verständnis. Die verfassungsrechtlichen Spielregeln würden auch und gerade in Krisenzeiten gelten, sagte Schlüsselburg der dpa. "Es kann nicht sein, dass der Senat im Radio die Verordnung verkündet und das Parlament auf die Druckerpresse warten muss." Der Rechtsausschuss werde nun voraussichtlich in der kommenden Woche zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

Was ist ein Amtsarzt?

Als Amtsärzte werden in Deutschland jene Mediziner bezeichnet, die in Gesundheitsverwaltungen, -ämtern oder -behörden tätig sind. In Berlin leiten sie das Gesundheitsamt eines Bezirkes und sind damit für Grundsatzfragen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in ihrem Bezirk sowie den Katastrophenschutz zuständig.

Larscheid: Für die Zahlen gibt es keine Grundlage

Der Amtsarzt von Berlin-Reinickendorf, Patrick Larscheid, hatte noch vor Bekanntgabe des offenen Briefes in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur das neue Corona-Warnsystem kritisiert. In dem Ampelsystem sind die Reproduktionsrate, die Zahl der Neuinfektionen und die Belegung der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten die entscheidenden Warnfaktoren.

Wird beispielsweise die Marke von 20 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen erreicht, schaltet die Ampel von Grün auf Gelb, bei 30 Neuinfektionen auf Rot. Larscheid kritisiert diese Grenzwerte als willkürlich. "Die Zahl 20 und 30, für die gibt es überhaupt keine Grundlage, die ist völlig aus der Luft gegriffen", sagte er. "Ich muss Zahlenentwicklungen im Blick haben, das ist viel wichtiger als absolute Werte. Insofern bin ich mit diesem System nicht so richtig glücklich."

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"Die alte Regel hat dieselbe Schwäche"

Für Larscheid gilt dieser Kritikpunkt allerdings auch für die in der vergangenen Woche zwischen Bund und Ländern getroffene Festlegung von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner: "Die alte Regel hat genau dieselbe Schwäche, dass die bloße Zahl völlig willkürlich war. Das sind beides keine guten Modelle."

Aus Larscheids Sicht nicht überzeugend ist auch die Kombination der drei Faktoren: "Wenn Sie verschiedene Dinge koppeln, müssen Sie eine Idee haben, warum Sie das tun", sagte er. Dass gerade diese drei Aspekte gewählt worden seien, sei einfach so entschieden worden.

Für den Amtsarzt stellen sich noch weitere Fragen: "Wenn wir in dieser gelben Phase sind, heißt das ja, es soll beraten werden, wie man weiter verfährt. Was aber nicht gesagt wurde: Wie sollen diese Beratungen aussehen? Und wer berät denn da?"

Unnötige Einschränkungen befürchtet

Wenn Grenzwerte überschritten werden, erfordere das eine sehr differenzierte Betrachtung, sagte Larscheid: "Was ist der Hintergrund? Was könnte die Ursache für einen Anstieg sein? Habe ich mehrere größere gut kontrollierte Ausbrüche innerhalb eines bestimmten Bereiches?"

Larscheid warnt davor, nicht auf solche Zusammenhänge zu schauen. "Die bloße Fixierung auf feste Werte kann schnell zu einer Situation führen, die für eine hohe Zahl von Menschen zu Einschränkungen führt, obwohl das überhaupt nicht nötig wäre."

Unterstützung für Kalayci aus Mitte

Rückendeckung erhält Gesundheitssenatorin Kalayci hingegen vom Gesundheitsstadtrat des Bezirks Mitte, Ephraim Gothe (SPD). Es werde regelmäßig und intensiv miteinander gesprochen und er setze darauf, dass die Amtsärzte "sich weiter auf hohem fachlichen Niveau mit der Gesundheitsverwaltung und dem Lageso abstimmen", schreibt er in einem Brief an alle Berliner Gesundheitsstadträte, der dem rbb vorliegt.

Sendung: Radioeins, 13.05.2020, 8 Uhr

 

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