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Quelle: dpa/Paul Zinken

Nach der jüngsten Demo in Berlin

Die "Querdenker" radikalisieren sich weiter

Am Anfang stand friedlicher Protest, dann paktierten die "Querdenker" mit Rechtsextremisten. Inzwischen hat sich ein Teil dieser Corona-Leugner selbst radikalisiert. Ihr Widerstand wird zunehmend extremistisch und gewaltbereit. Von Olaf Sundermeyer

Morddrohungen gegen den Virologen und Regierungsberater Christian Drosten und den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Die öffentliche Aufforderung, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unter seiner Privatadresse Hausbesuche abzustatten. Brandsätze gegen das Robert Koch-Institut. Eine erhängte Schaufensterpuppe als Lynchopfer mit einem "Covid-Presse"-
Schild um den Hals über einer Autobahnbrücke in Minden [wdr.de]. Überrannte Polizeiketten und gebissene Beamte in Berlin.

20 Corona-Demonstranten, die ins Augsburger Landratsamt eindringen, um die Abschaffung der Maskenpflicht in Schulen zu fordern. Die Agenda der "Verfassunggebenden Versammlung" als erste Phase nach der Überwindung der herrschenden Verhältnisse, die von führenden "Querdenkern" betrieben wird. Das Bürgerkriegsszenario als Narrativ auf ihren Demonstrationen, auf denen die Namen von anwesenden Journalisten vor dem johlenden Mob über Lausprecher verkündet werden. Drohkulissen vor öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und Zeitungsredaktionen. Hunderte Menschen, die sich in den Tagen der rasant gestiegenen Infektionszahlen an Orten der Maskenpflicht ohne Mund-Nase-Schutz als feixender Flashmob versammeln und Youtube mit ihren Bildern des Widerstands fluten.

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Der Protest wird bleiben, radikal!

Die Polizei in der Defensive

Das alles unter den Augen einer Polizei, die der Radikalisierung des Protests bislang wenig entgegensetzt. Nicht weil sie es nicht könnte, sondern weil sie es nicht soll: Sie soll bei Kundgebungen und anderen Menschenansammlungen die in der Pandemie geltenden Auflagen des Infektionsschutzes möglichst nicht mit den Mitteln der Polizeigewalt durchsetzen. Um Bilder der Gewalt und Solidarisierungseffekte in der Bevölkerung zu vermeiden. Das steckt hinter der defensiven Polizeistrategie, die seit Frühjahr den Anti-Corona-Protest in Berlin begleitet. Es ist eine politische Linie. Die aber spätestens seit den zuletzt steigenden Infektionszahlen und den gleichzeitig stattfindenden Demonstrationen gescheitert ist, auf denen sich kaum jemand an die geltenden Hygieneregeln hält. Der Staat zeigt sich inkonsequent in der Durchsetzung seiner eigenen Regeln.

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Weniger Teilnehmer als erwartet bei "Querdenker"-Demo

Nach wie vor eine kleine, aber laute Minderheit

Das war im August bereits so, bei den beiden großen "Querdenker"-Demonstrationen in Berlin. Seither hat sich dieser Protest erwartungsgemäß radikalisiert.

Auch weil seine Akteure frei agieren können: Die Zurückhaltung der Polizei erfüllt sie mit einem starken Gefühl der Selbstermächtigung, das mit jedem vergleichbaren Demonstrationsereignis und jedem Flashmob wächst. Die "Querdenker" sind noch immer eine kleine, aber laute Minderheit, die lediglich behauptet, "das Volk" zu sein und den Unwillen breiter Teile der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Das ist die eigene Wahrnehmung, mehr nicht. Denn die Zustimmung einer Mehrheit für das Regierungshandeln in der Pandemie ist immer noch groß.

Auf den Demonstrationen in Berlin zeigen sich in der Spitze dieselben Akteure, die seit Monaten als Protestzirkus durch Deutschland touren. Viele sind in dieser Zeit zu Berufsaktivisten geworden, für die der Protest zum Lebensinhalt wurde. Medienöffentliche Aufmerksamkeit, das Internet als viel beachteter Mitteilungskanal und die daraus abgeleitete politische Relevanz lässt sie eine hohe Bedeutung wahrnehmen. Diese Wahrnehmung radikalisiert sie weiter. Mit offenem Ausgang.

Demo auf den Alexanderplatz | Quelle: dpa/Paul Zinken

Politisch und gesellschaftlich abgekoppelt

Wirksamen politischen Anschluss haben die "Querdenker" bislang nicht gefunden. Zwar sympathisieren viele AfD-Wähler und auch Funktionäre mit ihrem Ansinnen, den Staat als eine "Corona-Diktatur" darzustellen (analog zur "Merkel-Diktatur" aus der Flüchtlingskrise), auch am Sonntag nahmen wieder einzelne an den Demonstrationen teil.

Aber die AfD-Spitze hat längst erkannt, dass diese Krise politisch eher den Regierenden nutzt als der Opposition. Während sie darauf wartet, im kommenden Wahljahr von den möglichen drastischen, wirtschaftlichen Folgen der Krise zu profitieren, entwickeln sich die "Querdenker" politisch und gesellschaftlich abgekoppelt in ihrem Protest-Kosmos. Und genau darin liegt die Gefahr. Zumal viele ihrer Anhänger nicht mehr zurück in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs kehren wollen oder können.

Sendung: Abendschau, 26.10.2020, 19:30 Uhr

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Beitrag von Olaf Sundermeyer

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