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Quelle: Katja Ruge

Gastbeitrag von Sookee

"Ost schon - deutsch nicht"

Was heißt es überhaupt, ostdeutsch zu sein? Die Musikerin Sookee hat sich für das Projekt "Wir Ostdeutsche" diese Frage 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gestellt - und erklärt, warum sie über das Scheitern der DDR latent traurig ist. Ein Gastbeitrag von Sookee

Wie berechtigt ist es, im Jahr 30 der Deutschen Einheit noch über die "Ostdeutschen" oder die "Westdeutschen" zu sprechen?

Im Rahmen des rbb/MDR-Projektes "Wir Ostdeutsche" wurden meinungsstarke ostdeutsche Persönlichkeiten darum gebeten, ihre ganz eigene Erfahrung mit dem "Ostdeutschsein" aufzuschreiben - und einen Blick auf 30 Jahre Wiedervereinigung und in die Zukunft zu werfen.

Wir veröffentlichen hier einen Gastbeitrag der Musikerin Sookee. Die Beiträge der Autorin und ex-Leistungssportlerin Ines Geipel und des Gründers Sven Gábor Jánszky ist bereits online.

Ich komme aus einer Familie sogenannter Dissident*innen. Meine Eltern haben unter dem Dach der Kirche in der DDR versucht, sich geistige und politische Freiräume zu ermöglichen. Der Staat antwortete darauf mit Berufsverbot, Repression, Knast. Sie waren nicht weitläufig organisiert, waren keine namhaften Protagonist*innen der Widerstands-Szene. Aber sie haben Freiheitsentzug für ihre Ideale in Kauf genommen. Daraus resultierend bestand die reale Gefahr, dass meine Schwester und ich in ein Heim hätten kommen können.

1986 wurde dann endlich ein Ausreiseantrag bewilligt und es gab ein Zeitfenster, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen. Wäre uns das nicht geglückt, hätte wieder eine Inhaftierung gedroht, denn vor der Ausreise wurde meinen Eltern die Staatsangehörigkeit entzogen. Sie wären auf realsozialistischem Boden staatenlos gewesen. Die Konsequenz daraus: Inhaftierung.

Zur Person

Sookee wurde 1983 in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Von 1986 bis 2019 lebte sie in West-Berlin, heute wieder im Osten – in Brandenburg. Ende 2019 gab sie bekannt, ihre Rapkarriere als Sookee zu beenden. Weiterhin will sie sich aber als Sukini der Musik für Kinder zu widmen. Sie beschreibt sich selbst als "feministische Antifaschistin, Musikerin und Mutter".

Gesunder Mangel an Obrigkeitshörigkeit

Aber meine Eltern haben es geschafft. Die ersten Monate nach der Übersiedlung verbrachten wir in einem Notaufnahmelager in West-Berlin. Ich, damals zweijährig, durchlebte meine ersten Kindheitserinnerungen, während meine Eltern gegenüber den Alliierten-Behörden glaubhaft vermitteln mussten, dass sie keine Spionagetätigkeit beabsichtigten.

Als Schülerin waren Gauck und Mielke vertraute Namen, während Gleichaltrige eher wussten wer die Kelly Family und Michael Jackson waren. Ich lachte über Wortverdreher wie "Stasel-Spitzi" und Zuschreibungen wie "Besserwessi". Bis heute vergeht keine Begegnung mit meinem inzwischen 71-jährigen Vater, ohne dass die SED-Diktatur thematisiert wird.

Auch meine Mutter hat sich einen gesunden Mangel an Obrigkeitshörigkeit behalten, der sie als 14-Jährige dazu brachte, aus der FDJ auszutreten und drei Jahre später die Biermann-Resolution zu unterschreiben. Bis heute fühlt sie den satten, durchindividualisierten Westen, den sie kennenlernte, als sich der Kapitalismus jenseits der Mauer um sie herum auftürmte.

Sendehinweis

TV-Doku und Daten-Dossier

Wir Ostdeutsche - 30 Jahre im vereinten Land

rbb und MDR gehen mit ihrem gemeinsamen multimedialen Projekt "Wir Ostdeutsche – 30 Jahre im vereinten Land" der ostdeutschen Seele auf den Grund. Wer sind die Menschen zwischen Elbe und Oder? Welche Sozialisationserfahrungen prägen die Generationen? Aber vor allem: Wie sehen sie sich selbst? Die TV-Doku läuft am 28.09.2020 um 20.15 Uhr im Ersten. Seit dem 14. September ist die Sendung online first in der ARD-Mediathek zu finden.

Enttäuschung über die autoritäre Form des Realsozialismus

Faktisch bin ich mit bundesdeutschen Annehmlichkeiten groß geworden. Der Verlauf meiner Berufsbiographie war – im Gegensatz zu denen meiner Eltern – losgelöst von meiner Einstellung gegenüber dem Staat und seinen Organen. Kein Staatsbürgerkundunterricht an der polytechnischen Oberschule, stattdessen Handarbeit, Werken und Eurythmie an der Waldorfschule. Kein Pionierhalstuch, aber Baggy Pants. Humana und H&M statt Intershop. Redefreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit. Aber Teile der Erfahrungen meiner Eltern leben in mir weiter. Zwar nicht das Misstrauen gegenüber meinen Nächsten als Konsequenz aus der Überwachung durch die Staatssicherheit und der Schmerz des Verrats durch Kolleg*innen und Familienangehörige. Aber die Enttäuschung über die autoritäre Form des Realsozialismus im trotzallem immer noch sozialistischen Herz wiegt schwer.

Es ist nicht leicht das verständlich zu machen, aber ich bin latent traurig darüber, dass die DDR es so dermaßen verkackt hat. Die große Idee von der Gleichheit der Menschen, von Emanzipation, Freiheit und Solidarität, die Herauslösung aus Armut und Unterdrückung, die Überwindung des Kapitalismus so grundlegend zu verraten - das muss eine Gesellschaft erst einmal schaffen. Ein weiteres Beispiel dafür zu werden, dass Aufrichtigkeit und gerechte Verteilung als funktionierende Prinzipien dem Menschen nicht möglich ist. Dass einige sich - große Reden schwingend - an den anderen bereichern. Dass sie lügen, diffamieren und autoritär ausgrenzen, töten sogar. Und das alles unmittelbar nach der Erfahrung des Holocaust.

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Gastbeitrag von Sven Gábor Jánszky

"Meine Generation Ostdeutscher hat keine Angst"

Rassismus-Problem im Osten zur eigenen Imagepflege

Als antifaschistischen Staat hat sich die DDR verstanden und war nicht viel besser in den Prozessen der Entnazifizierung als die BRD. Zwar gehörte die Völkerfreundschaft zum zu verinnerlichenden Repertoire des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, aber die rassenideologisch argumentierte Fremdenfeindlichkeit hatte vier Jahrzehnte Zeit, zu einem Rassismus zu werden, der Bürger*innen ostdeutscher Städte und Gemeinden, die schon lange keine Fremden mehr waren, mit Vernichtungsphantasien zu überziehen, als hätten 16 Millionen Menschen nicht die Hand zum Gruß an die Stirn geführt. Und so wie die BRD drauf war, hat sie das Rassismus-Problem im Osten auch eher zur eigenen Imagepflege instrumentalisiert. Der dumme Ossi. Früher war er Bauer, im VEB und im Kopf, heute ist er arbeitslos und Nazi. Haha.

Natürlich hat das wiedervereinigte Deutschland von Bonn aus nichts dagegen getan außer christlich anmutend eine Lichterkette zu bilden. Für eine tatsächliche Bekämpfung dieser Situation hätte sich der Westen ja mit seinem eigenen Nationalismus auseinandersetzen müssen. Insofern ist der 3. Oktober auch für mich kein Grund zum Feiern. Die deutsche Einheit ist vor dem Hintergrund von Rostock-Lichtenhagen über NSU bis Hanau für mich eher ein Schreckensszenario, kein Ort, an dem ich gelebte Demokratie lieben lernte.

Die wahre Sozialist*innen in der DDR

Womit ich mich also heute identifiziere, wenn ich von "ost schon - deutsch nicht" spreche, dann ist das das Potenzial des Sozialismus. Die Solidarität, der Zusammenhalt, das Kollektive, der Erfindungsreichtum, die Kreativität, die Gewitztheit, die Nachhaltigkeit, die Freiheits- und Menschenliebe. Also all diejenigen Qualitäten, die wahre Sozialist*innen in der DDR trotz der DDR zu kultivieren suchten. Aber ganz sicher nicht das Heimatministerium, von dem aus Abschiebungen angewiesen werden, der Verfassungsschutz, der Unterlagen zur Aufkärung an den Morden an zehn Menschen schreddert, die Warenförmigkeit des Lebens in der Leistungsgesellschaft, die Millionen von Menschen zugunsten von Profiten in den Burnout treibt, während das Renteneintrittsalter immer weiter steigt – also das Deutschland, das sich heute als Spitze der demokratischen Zivilität inszeniert.

Der Gastbeitrag von Sookee entstand im Rahmen des rbb/MDR-Projektes "Wir Ostdeutsche". Kommentare und Diskussionsbeiträge, die sich direkt an die Gast-Autorin richten, können Sie senden an dokuzeit@rbb-online.de.

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