Gastbeitrag von Sven Gábor Jánszky - "Meine Generation Ostdeutscher hat keine Angst"
Was heißt es, ostdeutsch zu sein? Der Gründer Sven Gábor Jánszky hat sich für das Projekt "Wir Ostdeutsche" dieser Frage gestellt. Er erklärt, was das damit zu tun hat, dass er auf Veränderung durch Technologie statt Politik setzt. Gastbeitrag von Sven Gábor Jánszky
Wie berechtigt ist es, im Jahr 30 der Deutschen Einheit noch über die "Ostdeutschen" oder die "Westdeutschen" zu sprechen?
Im Rahmen des rbb/MDR-Projektes "Wir Ostdeutsche" wurden meinungsstarke ostdeutsche Persönlichkeiten darum gebeten, ihre ganz eigene Erfahrung mit dem "Ostdeutschsein" aufzuschreiben - und einen Blick auf 30 Jahre Wiedervereinigung und in die Zukunft zu werfen.
Wir veröffentlichen hier einen Gastbeitrag von Sven Gábor Jánszky. Der Beitrag der Autorin und ex-Leistungssportlerin Ines Geipel ist bereits online. Es folgt ein Beitrag der Musikerin Sookee.
Bin ich wirklich ostdeutsch? So oft ich diesen Satz gehört habe, so oft habe ich ihn bisher verdrängt. Was soll diese Frage? Natürlich! Ich bin 1973 mitten im kalten Krieg geboren, in Budapest aufgewachsen und kam mit sechs Jahren in meine Heimatstadt, die ostdeutscher nicht sein konnte: Karl-Marx-Stadt. Allerdings glaubt mir das heute kaum jemand. Ich leite das größte unabhängige Zukunftsforschungsinstitut Europas. Ich halte Vorträge vor Vorständen der großen westdeutschen Unternehmen und fertige ihnen ihre Zukunftsstrategien. Dass ihre Zukunft aus dem Osten kommt, glaubt dort am Anfang niemand.
Mein eigenes Bild des Ostdeutsch-Seins passt also so gar nicht zu dem Bild der Medien über die Ostdeutschen. Diesen medientypischen, jammernden Transferempfänger, der lieber nach Führer und Staat ruft, als selbst Verantwortung zu übernehmen, gibt es in meinem persönlichen Bekanntenkreis genau einmal. In Zahlen: circa 0,5 Prozent. Ich mache jede Wette, dass der durchschnittliche Westdeutsche eine deutlich höhere "Jammer-Ossi"-Quote in seinem westdeutschen Bekanntenkreis hat.
Positiver Größenwahn
Für mich beginnt meine Ost-Identität im Jahr 1989, als in Leipzig Zehntausende Menschen um den Innenstadtring laufen und etwas erreichen, von dem die Regierungen in Washington, Paris und Bonn ganz genau wissen, dass das überhaupt nicht geht: die Gesellschaftsordnung eines Staates zu stürzen. Mein Ostdeutsch-Sein ist seitdem dieser "positive Größenwahn", sich Dinge vorzunehmen, von denen alle anderen Menschen denken, dass sie unmöglich sind. Vielleicht ist es kein Wunder, dass ich mich dem Weltveränderungs-Größenwahn des Silicon Valley und seinem Motto "Make the world a better place" näher fühle als mancher westdeutschen Großstadt. Vielleicht spiegelt sich hier auch jene Traurigkeit, mit der ich unserer verpassten Chance nachhänge, weil wir es damals nicht geschafft haben, unsere Welt zu einem "Better Place" zu machen, sondern nur zu einem "Same Place".
Unvollstellbare Anpassungsleistung
Ostdeutsch zu sein, ist für mich aber auch das Wissen um die Anpassungsfähigkeit des Menschen. Westdeutschen Freunden, die sich ahnungslos nickend unsere Ostgeschichten anhören, sage ich oft: "Stell Dir vor, in Deutschland würde morgen das chinesische Gesellschaftssystem eingeführt. Nicht mehr die individuelle Selbstentfaltung wäre das höchste Gut, sondern das Einordnen des Einzelnen ins Kollektiv. Nicht mehr Angebot und Nachfrage regeln Deine Berufsaussichten, sondern die Zentralregierung. Nicht mehr die täglichen Negativ-Nachrichten deutscher Medien prägen Dein Weltbild, sondern die Positiv-Meldungen der Partei. Und Du müsstest binnen drei Monaten verstehen, wer hier etwas zu sagen hat, welche Regeln es gibt und wo Dein Platz in diesem fremden Land ist."
Kaum jemand will sich das heute noch ernsthaft vorstellen. Aber wir Ostdeutschen haben genau das getan. Wir haben am eigenen Leib erlebt, dass die wichtigste Fähigkeit des Menschen seine Anpassungsfähigkeit an die Veränderungen seiner Umwelt ist.
Flucht vor Bomberjacken
Ja, es stimmt: Nebenwirkungen dieser Anpassung sind auch Demonstrationen, Radikalisierung und die Sehnsucht nach demagogischen Führern mit einfachen Antworten. Aber auch hier beschreiben die heutigen Alarm-Nachrichten der Medien nicht meine ostdeutsche Erfahrungswelt. Wer, wie ich, Anfang der 1990er Jahre bei jedem Umsteigen von Neonazis über den Leipziger Hauptbahnhof gejagt wurde; wer täglich mit einer Schreckschusspistole im Hosenbund an die Universität ging, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass dir dieses Ding etwa zehn Sekunden Vorsprung bei der Flucht vor Bomberjacken in Leipzig-Reudnitz und Grünau verschafft, wer jahrelang in echter Angst gelebt hat, der stellt heute bei den üblichen Kommentaren zum angeblichen Rechtsruck einfach nur das Radio leiser. Ostdeutsch zu sein bedeutet für mich auch, dankbar zu sein für den "Linksruck" der letzten 30 Jahre in allen Teilen der Gesellschaft, am stärksten vermutlich in der CDU.
Drei Neuanfänge
Doch das wichtigste Gefühl meiner ostdeutschen Identität gehört den Neuanfängen: Ich habe in den 47 Jahren meines Lebens drei Situationen erlebt, in denen ich mein Leben radikal neu erfinden musste. Das erste Mal war eine typische Mauer-Familiengeschichte: Als ich sechs Jahre alt war, weigerte sich mein ungarischer Vater, mit seiner Familie von Budapest in die DDR umzusiedeln. Sein Lebenstraum war eine Reise nach Amerika. Hinter der Mauer hätte er diesen Traum wohl begraben können. Also entschied er sich für seinen Traum und gegen mich. Von einem Tag auf den anderen war ich der sogenannte Mann in der Familie: ein Sechsjähriger ohne Vater, ohne Freunde, der in der sozialistischen Schule immer mit diesem fremden, ungarischen Akzent sprach.
Mein zweiter Neuanfang war die Wende, in der ich und alle Menschen um mich herum binnen weniger Monate komplett die Orientierung verloren. Und mein dritter Neuanfang war schließlich selbstgewählt, als ich mit 28 Jahren sowohl meinen Job als auch mein komplettes bisheriges Leben sozusagen kündigte, weil ich glaubte, dass die Welt noch mehr für mich zu bieten haben müsste.
"Meine Generation Ostdeutscher hat keine Angst"
Viele meiner ostdeutschen Freunde kennen diese Neuanfänge aus eigener Erfahrung. Und sie alle wissen, dass das Leben nach jedem Neuanfang ein besseres wird. Es sind die Progressiven und Entschlossenen meiner Generation, die inzwischen vielerorts an Schlüsselstellen der deutschen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sitzen. Wer so tiefgreifende Neuanfänge erfolgreich gemeistert hat, den prägt eine gewisse Angstlosigkeit. Inmitten all der heutigen Angstmacherei in Politik und Medien ist das interessant. Denn meine Generation Ostdeutscher hat keine Angst. Weder vor den Russen, noch vor den Chinesen, und auch nicht vor Corona.
Ich gehöre zur letzten Generation, die den Sozialismus wirklich noch erlebt hat. Vermutlich werde ich irgendwann auch einer der letzten sein, die verstehen können, warum meine Großeltern nach dem Krieg diesen sozialistischen Traum aufgebaut haben – den Traum von einer gerechteren Welt als dem Kapitalismus. Ich habe Hochachtung vor meinen Großeltern für ihren Traum und für ihren Aufbauversuch. Und dennoch habe ich persönlich genug von Ideologien. Ich trete nie wieder in eine Partei ein. Ich stelle nie wieder meinen Namen in den Dienst einer Ideologie oder Partei. Und ich werde nie wieder einen Menschen aus ideologischen Gründen verdammen, nicht die Russen, nicht die Chinesen, nicht Pegida-Anhänger oder AfD-Demonstranten.
"Wahlen ändern nicht den Lauf der Welt"
Ich bin 16 Jahre lang aufgewachsen in einem Land, in dem Wahlen nichts geändert haben. Und ich lebe heute in einem Land, in dem Wahlen nichts ändern. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist gut, dass es Wahlen gibt. Sie sind ein wichtiges demokratisches Korrektiv. Aber sie ändern eben nicht den Lauf der Welt.
Deshalb interessiere ich mich kaum für Nachrichten in "Tagesschau" & Co., sondern stattdessen für die weltbesten Technologie-Blogs. Deshalb habe ich den Journalismus als Beruf und damit die gedankliche Orientierung auf die Politik in Berlin und Washington aufgegeben. Deshalb beschäftige ich mich als Zukunftsforscher mit den Technologieentwicklern in Silicon Valley und China. Dort werden heute jene Entscheidungen getroffen, die die Welt verändern. Kurioserweise finde ich dort mehr von meiner Art der ostdeutschen Identität als zu Hause in Berlin, Hamburg oder Leipzig.
Der Gastbeitrag von Sven Gábor Jánszky entstand im Rahmen des rbb/MDR-Projektes "Wir Ostdeutsche". Kommentare und Diskussionsbeiträge, die sich direkt an den Gast-Autoren richten, können Sie senden an dokuzeit@rbb-online.de.