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Audio: Inforadio | 08.06.2020 | Jenny Barke | Quelle: imago images/S. Boness

Recherche von ARD-Kontraste

Wie sich die "Hygiene-Demos" radikalisierten

Zwei Drittel der Deutschen sehen in Verschwörungsmythen eine wachsende Gefahr für die Demokratie. Das geht aus einer Umfrage im Auftrag von ARD-Kontraste hervor. Während der Corona-Krise haben sie starken Aufwind bekommen. Von Jenny Barke

Angriffslustig stehen die Demonstranten vor der Berliner Volksbühne auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Ihnen gegenüber: eine Hundertschaft der Polizei. Die Protestierenden sind dagegen: Gegen die angebliche Abschaffung der Grundrechte wegen der Corona-Pandemie. "Freiheitsberaubung, Manipulation der Menschen und Verängstigung der Gesellschaftsgruppen, das ist doch irre!", ruft eine Frau.

Sie sind auch gegen eine angeblich geplante Corona-Impfpflicht. Und gegen Corona überhaupt: "Wo ist die Seuche? Erklären Sie es mir!", ruft ein Mann auf einer der sogenannten "Hygiene-Demos", die seit einigen Wochen in Berlin und inzwischen auch bundesweit stattfinden. Und sie sind selbst ernannte Gesundheitsexperten: "Das ist ein Grippevirus. Wir leben im Einklang mit Viren. Wenn wir im Mund einen Abstrich machen, dann leben da Millionen von Viren", erklärt einer der Demonstranten filmenden Journalisten. 

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Charakter der "Hygiene-Demos" hat sich massiv geändert

Was Ende März als eine kleine Demonstration mit etwa 40 Teilnehmern in Berlin begann, hat sich zu einer Protestbewegung gegen die Corona-Beschränkungen, die Regierung und Behörden entwickelt. Die Corona-Krise war für die "Hygiene-Demos" so etwas wie eine Geburtsstunde. Woche für Woche kamen mehr Menschen zusammen. Trotz Versammlungsverboten und Abstandsregeln. 

Die Filmemacher Silvio Duwe und Marcus Weller zeigen in ihrer Recherche für ARD-Kontraste, wie massiv sich der Charakter der sogenannten "Hygiene-Demos" verändert hat. Zu Beginn der Proteste Ende März stand die Angst vor den Corona-Einschränkungen im Vordergrund, erklärt Thomas Kliche, Professor für Gesellschaftspsychologie. Am Anfang hätte eine Art "astreine marxistisch-trotzkistische Gesellschaftsanalyse und Kritik" gestanden. "Das hat sich schnell geöffnet für rechtsextremistische und verschwörungstheoretische Außengruppen", erklärt Kliche. 

Verschwörungstheorien unter Deutschen verbreitet

Diese Entwicklung macht auch eine Umfrage deutlich, die das ARD-Politikmagazin Kontraste bei der Infratest-dimap in Auftrag gegeben hat. Verschwörungsideologien sind weit verbreitet, zeigen die Auswertungen der Befragten: 17 Prozent gaben an, dass sie die Corona-Krise für einen Vorwand der Politik halten, um die Freiheitsrechte dauerhaft einzuschränken.

Doch der Mehrheit der Befragten macht diese Entwicklung auch Sorgen. So gaben in der Umfrage fast zwei Drittel an, dass sie in Verschwörungsmythen eine wachsende Gefahr für die Demokratie sehen. 29 Prozent hingegen gaben an, dass sie diese nicht für demokratiegefährdend halten. Bei der Studie sind nach einer repräsentativen Zufallsauswahl 500 Menschen befragt worden.

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Einfache, krude, nicht verifizierbare Erklärungsmuster

Die Demonstranten der "Hygiene-Demos" würden das Coronavirus oft für eine Art internationalen Putsch halten, sagt Gesellschaftspsychologe Kliche. Viele glaubten, dass damit eine Systemkrise überdeckt werden soll, um eine Art autoritäres Regime zu installieren, eine Art Weltherrschaft. 

Dabei ist es keine eindeutig definierbare Szene, die sich versammelt. Allen gemein sind einfache Erklärungsmuster und der Wunsch, sich aufzulehnen, teils gar, das System zu stürzen. Mit teils kruden, nicht beweisbaren Theorien, mit Angstszenarien.

Komplott- und Bürgerkriegsfantasien

Unter ihnen der ehemalige Berliner Lehrer und selbst ernannte Volkslehrer Nikolai Nerling - dem nach der Verbreitung rechtsextremer Inhalte von der Berliner Bildungsverwaltung gekündigt wurde. Und Ken Jebsen, ein ehemaliger rbb-Radiomoderator, der heute mit Verschwörungserzählungen ein großes Publikum auf Youtube erreicht, präsentiert ganz eigene, nicht verifizierbare Komplott-Fantasien: "In Wirklichkeit geht es um ein Projekt, das nennt sich ID 2020, digitale Identität, die man in Zukunft bei der Geburt per Post bekommt", sagt Jebsen auf seinem Youtube-Kanal. Als Joker geschminkt erklärt er, wer wirklich dahinter steckt: "Die gesammelten Daten laufen bei einem privaten Konzern ein", einer davon sei die Gates-Foundation.

Das Phänomen der Moralunternehmer

Dabei profilieren sich die Demo-Initiatoren mit ihrer selbsternannten Expertise und viel Selbstbewusstsein, erklärt Psychologieprofessor Kliche. Er nennt sie Moralunternehmer, mehr unternehmerisch, als moralisch: "Sie schreien, dass das öffentliche Gemeinwohl gefährdet sei und verkaufen mit ihren Ideen Bücher, T-Shirts und CD's. Sie gewinnen an Sichtbarkeit, Einfluss und Geld." Mit dem Verkauf ihrer Ansichten würden sie kleine politische Karrieren hinlegen, "wo sie sonst nur obskure, verschrobene Gestalten wären."

Einig sein müssten sich "die Wirrköpfe" bei ihren Weltbildern nicht, sagt Kliche. Denn sie agierten, wie sie es ihren Gegnern vorwerfen: Ohne Interesse an einem Diskurs.  

Die Kontraste-Reportage "Auf den Barrikaden - Was steckt hinter der Corona-Wut?" läuft am Montag, 8. Juni um 20:15 Uhr im Ersten. 

Sendung: Inforadio, 08.06.2020, 6 Uhr

Beitrag von Jenny Barke

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