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Quelle: dpa/Fotostand/Reuhl

Analyse | Corona-Demos

Der Protest wird bleiben, radikal!

Die beiden Berliner Großdemos gegen die Regierungspolitik in der Corona-Krise in diesem August haben aus Bürgerlichen und Rechtsextremisten ein Bündnis geformt, das Politik, Sicherheitsbehörden und Öffentlichkeit auf Dauer beschäftigen wird, analysiert Olaf Sundermeyer

Bislang wurden auf den Demonstrationen der Corona-Leugner noch keine Bewegungsforscher gesichtet. Dabei würde es sich lohnen, diesen dynamischen Protest der "Querdenker" und ihrer rechtsextremen Bündnisgenossen genauer zu betrachten: Denn er wird sich schließlich nicht mit den beiden Berliner Großdemonstrationen vom 1. und 29. August erschöpfen. Er wird nicht so schnell verschwinden wie die Reisebusse aus Passau, Tübingen und Gelsenkirchen, die Zehntausende in die Hauptstadt gefahren haben, um hier kollektiv ihren Widerstand gegen die Krisenpolitik der Bundesregierung auszudrücken.

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"Querdenker" verfügen über eigens entwickelte App

Dieser Protest ist auf Dauer angelegt. Er wird professionell und arbeitsteilig organisiert, ist ausgezeichnet vernetzt, lernfähig, intelligent geführt, transportiert sich über die längst eingespielten Mechanismen einer wirkungsvollen, alternativen Gegenöffentlichkeit, die ihnen der rechte Bündnispartner beschert. Die "Querdenker" werden dauerhaft von Rechtsanwälten aus den eigenen Reihen beraten, die immer mit vor Ort sind.

Über eine eigens entwickelte App leiten sie ihre Anhänger zum Umgang mit den Behörden an, etwa mit der Folge von tausendfachen Demonstrationsanmeldungen, von Spontankundgebungen und einer Klageflut. Der Protest wird getragen vom politischen Geist seiner Anhänger, der sich aus der anhaltenden Unsicherheit in der Corona-Krise nährt. Die Anhänger von "Querdenken" kommen mehrheitlich aus der bürgerlichen Mitte, nicht vom sozialen oder politischen Rand der Gesellschaft. Sie sind nicht viele, aber sie sind eine Minderheit, die sich im Zuge der Corona-Krise radikalisiert.

Bündnis mit rechtsextremen Szene

Auch weil die Initiatoren des Protests einen Pakt mit Rechtsextremisten eingegangen sind: Im Zuge der Hygienedemos in den frühen Tagen des Sommers kam es zu ersten Treffen in Berlin. Daraus ist schnell ein Bündnis mit der übergreifenden rechtsextremen Szene entstanden: Von der AfD als Bewegungspartei der Neuen Rechten, über Pegida, bis hin zu Neonazikameradschaften, den Identitären, sowie zahlreichen "Reichsbürgern" und einzelnen Gruppen von Hooligans. Der Zusammenschluss ist hybrid. Die Rechtsextremisten geben sich ganz bewusst in diesem Bündnis nicht als solche zu erkennen: Für Polizei und Verfassungsschutz machte es die Sache schwierig, für Medien sowieso.

Durch die rechtsextremen Aktionen und die Gewaltbereitschaft wird der Protest der "Querdenker" nun in der Öffentlichkeit überlagert, der auf der Straße des 17. Juni friedlich verlief. Vor allem durch den versuchten Sturm in das Reichstagsgebäude im Zuge der Demonstrationen vom 29. August, der wegen seiner bildstarken, symbolischen Wirkung als unmittelbarer Angriff auf die Demokratie gewertet werden wird. "Neonazis stürmen den Reichstag" vermitteln die Bilder in alle Welt. Damit haben die Rechtsextremisten den "Querdenken"-Protest in Berlin für ihre Sache besetzt. Die Empörung der Politik ist entsprechend groß: Der Bundespräsident sieht die Grenze der Meinungsfreiheit überschritten, wenn sich "Demonstranten vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen."

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Was in Stuttgart anfing, hat sich in Berlin radikalisiert

Was im Frühjahr friedlich mit disziplinierten Demonstrationen und Abstandsregeln in Stuttgart anfing, hat sich in Berlin über diesen Zusammenschluss radikalisiert: In der Ablehnung gegen den Staat, gegen die Medien, gegen die Polizei. Aus Protest wurde hartnäckiger Widerstand, der sich auf allen Ebenen gegen das System richtet: In großen Teilen über gesundheitsgefährdenden, zivilen Ungehorsam ohne Abstand in Zeiten der Pandemie.

Dagegen findet die Polizei kein Mittel: Eine friedliche Großdemonstration mit mehreren Zehntausend Menschen wie am Samstag um die Siegessäule unter Polizeizwang aufzulösen, wäre in einer Demokratie ohne schwerwiegenden politischen Schaden kaum darstellbar. Dabei hätte der massenhafte Verstoß gegen die Abstandsregeln als Auflage der Demonstration zweifelsfrei Anlass zu ihrer Auflösung gegeben. Aber die Polizei hat sich dagegen entschieden.

Wasserwerfer gegen Familien mit Kindern? Knüppel gegen die sanfte, verbale Umarmungsstrategie von Esoterikern und Gläubigen? Damit wäre das hässliche Bild einer Corona-Dikatur bestätigt, wie sie von den "Querdenkern" fortlaufend behauptet wird. Die Polizei steckt in einem Dilemma im Umgang mit diesem Protest, an den sich zahlreiche weitere Demonstrationen reihen werden. Es erfüllt ihn mit Stärke.

Unterdessen radikalisieren sich die bürgerlichen Akteure des Protests in ihrem Widerstand; eine Hinwendung einzelner Anhänger der "Querdenker" zu gewaltbereiten Rechtsextremisten erfolgt nach erkennbar demselben Muster, wie die Radikalisierung von Teilen der Mitte in der Flüchtlingskrise erfolgt ist.

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Die perfekte mediale Inszenierung

So war es auch auf der Großdemonstration am Samstag in Berlin zu beobachten: Zum Bespiel um 11.30 Uhr am Vormittag Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße in südliche Richtung: Ein medial bekannter Anführer der rechtsextremen Identitären führt einen straff organisierten Trupp junger Männer in Formation aus dem angemeldeten Demonstrationszug unerkannt an einige Polizisten vorbei durch die Absperrung, hinter der sich bereits zahlreiche "Querdenker" versammelt haben, aber auch einige Hooligans. Die Polizei hat den Zugang zu dem Demonstrationszug abgesperrt, wegen der geschätzten Menschenmasse von 18.000, die schon jetzt Abstände unmöglich macht.

Die Menge vor den Gittern schwillt an, wird jetzt über ein Megafon angeheizt: "Lasst uns rein, lasst uns rein", gibt einer der Rechtsextremisten vor, die Menge stimmt mit ein, drückt vor die Absperrung, in der ersten Reihe Hooligans aus Bayern. Polizisten werden erst provoziert, dann angegriffen. Eine Bierflasche fliegt, Schläge, Rempeleien, Pfefferspray. Einer der Hooligans geht zu Boden und wird von einem neurechten Blogger gefilmt. Der Mann hat eine hohe Reichweite, er ist ein Influencer. Die Menge skandiert "schämt Euch, schämt Euch".

Die Sache macht im Netz in Echtzeit die Runde, dazu schreibt der Blogger an die Berliner Polizei via Twitter: "Sie versperren den Demonstranten den Weitermarsch, gleichzeitig sind die Zugänge zu den Seitenstraßen abgesperrt, sie können nicht weg. Wie sollen die Menschen da den Mindestabstand einhalten?" Im Rücken der Polizisten steht eine zweite Reihe von Beamten und wird von einer Menschentraube aus der anderen Richtung heraus bedrängt: vom Demonstrationszug aus. Identitäre heizen auch hier die Menge über Megafon an, auch hier stehen Hooligans bereit. Die Inszenierung ist perfekt. Das Bündnis aus "Querdenkern", Rechtsextremisten und alternativer Gegenöffentlichkeit wirkt.

Bis die Eskalation schließlich gelingt

Erst einige Tage zuvor hatten sich einige dieser "Identitären" mit ihrem Anführer in einem Camp im Süden Brandenburg für solche Einsätze vorbereitet, mit Drill, Taktik, Fitness. Über eineinhalb Stunden hält die Polizei diese Stellung, bis sie den Demonstrationszug auch an dieser Stelle schließlich auflöst. Hooligans und Rechtsextremisten strömen weiter zum nächsten Ort der Provokation. Später zur russischen Botschaft, wo sich schon am Vormittag eine weitere Hooligangruppe mit zahlreichen "Reichsbürgern" zusammengeschlossen hat, dann zur Wiese vor den Reichstag, wo die Eskalation im Laufe des Abends schließlich gelingt. Ab dem frühen Nachmittag hatten sich hier gewaltbereite Rechtsextremisten, "Reichsbürger" und einige Hooligans versammelt. In der Menge des scheinbar friedlichen Protests.

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Beitrag von Olaf Sundermeyer

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