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Quelle: dpa/Daniel Maurer

Landtagswahl in Brandenburg

Warum so viele 25- bis 44-Jährige die AfD gewählt haben

Viele Erstwähler haben bei der Landtagswahl in Brandenburg die Grünen gewählt, die Alten meist SPD, Linke oder CDU. Die AfD wiederum ist ausgerechnet im mittleren Alterssegment besonders stark – aber warum? Drei Thesen von Claudia Stern

31 Prozent der 25- bis 34-jährigen Brandenburger haben bei der Landtagswahl am 1. September die AfD gewählt. In der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen sind es 30 Prozent. Das zeigen die Daten, die am Wahltag von Infratest-Dimap erhoben wurden. Ebenfalls noch überdurchschnittlich hoch ist der Wert bei den 45- bis 59-Jährigen. Bei den ganz jungen Wählern (16-24 Jahre) und der Generation 60 bzw. 70 plus liegen die Werte deutlich niedriger.

Doch warum ist das so? Warum stimmen ausgerechnet die Menschen im mittleren Alterssegment überdurchschnittlich häufig für die Rechtspopulisten? Wir stellen drei Thesen auf.

Quelle: Infratest Dimap

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These 1: Vom "Wende-Kind" zum AfD-Wähler

Ein erste mögliche Erklärung lautet: Bei den Brandenburgerinnen und Brandenburgern zwischen 25 und 44 Jahren handelt es sich - abgesehen von den Zugezogenen - um sogenannte "Wende-Kinder", also um Menschen, welche die DDR zwar nicht mehr oder kaum noch erlebt haben, die aber als Kinder in den 1990er Jahren miterlebt haben, wie die negativen Effekte der Wiedervereinigung das Leben ihrer Eltern beeinflusst haben. Die Rede ist hier beispielsweise von Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit, Enteignungen, dem Verschwinden regionaler Unternehmen und der Verschlechterung regionaler Strukturen.

Die Frage ist nun, ob das Erleben der eigenen Eltern als Verlierer nun dazu führt, dass sich diese "Wende-Kinder" heute ebenfalls als benachteiligt empfinden und sie deshalb überdurchschnittlich oft die AfD wählen.

Thomas Kliche ist Professor an der H2-Hochschule Magdeburg-Stendal | Quelle: dpa/Thomas Kliche

Thomas Kliche, Politikpsychologe von der H2-Hochschule Magdeburg-Stendal, hält die These für stichhaltig. Im Interview mit rbb|24 sagte er: "Da gibt es mehrere Vermittlungswege zwischen den Generationen: Erstmal haben die Kinder Erfahrungen der Verunsicherung und Zerstörung ganz persönlich miterlebt, die verändern ja das Familienklima. Das ist auch aus internationalen Studien bekannt – Arbeitslosigkeit zerstört Politikvertrauen, mit langfristiger Reichweite. Zweitens empfinden die Familien es als Erleichterung, dass mit der Migrationspolitik deutlich wird, hier geht es nicht um individuelles berufliches Versagen, sondern - so heißt es ja bei der AfD immer - das Geld ist doch da, es soll eben nur von der Politik für die Richtigen eingesetzt werden. Die Eltern haben also keine Schuld an ihren beruflichen Schwierigkeiten, man muss sich nicht schämen. Auf diese Weise gelingt es, die eigene Familie zu ehren und zu rechtfertigen, die Eltern uneingeschränkt zu achten. Drittens haben die Kinder erfahren, vor der Gesellschaft als zerstörerischer Kraft von außen sind die ganzen Ratschläge und Hilfen der Eltern und der Älteren nutzlos. Viertens wird natürlich die Grunderfahrung einer Unehrlichkeit oder wenigstens Unzuverlässigkeit der Mächtigen auch geteilt, die Grunderfahrung des Betrogenseins - und daraus erwächst ein dauerhaftes Misstrauen in Eliten und in die Rechtfertigungen der Politiker."

Sozialer Wandel sei für die "Wende-Kinder" so zu einer Bedrohung geworden, die den eigenen Lebensentwurf bedroht und von Fremden getrieben wird, so Kliche. Dagegen werde das Vergleichsbild der schützenden und regulierenden DDR, in der das berufliche und öffentliche Umfeld genau festgelegt waren, als Inbegriff von Sicherheit verklärt.

Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). | Quelle: Heide Fest

Timm Beichelt, Politikwissenschaftler an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), beschäftigt sich anlässlich des 30. Jahrestags der Wiedervereinigung 2020 im kommenden Wintersemester unter anderem mit dem Thema "30 Jahre Systemtransformation". Auch er hält es nach seinen Angaben durchaus für denkbar, dass im Erleben der unmittelbaren Nach-Wendezeit eine Ursache für das Wahlverhalten der heute 25- bis 44-Jährigen zu finden ist, aber nicht die einzige.

Im Interview mit rbb|24 sagte Beichelt: "Das ist eine Generation, in der viele Menschen mit guten beruflichen Chancen abgewandert sind, während die weniger Gebildeten häufiger im Lande geblieben sind. Man weiß auch, dass es häufiger die Frauen waren, die weggezogen sind. Es entstand ein Männer-Überhang, der zusätzliches Frustpotenzial schuf. Aus diesen schon älteren Befunden der Ostdeutschland-Forschung lässt sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit ableiten, warum diese Kohorte überdurchschnittlich für die AfD gestimmt hat: es gibt ein hohes Ausmaß an Frust und Wut."

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Vor diesem Hintergrund kommen laut Beichelt zwei "strukturelle Punkte" zusammen: "Einmal die Tatsache, dass der soziale Abstieg der eigenen Eltern erlebt wurde. Zum zweiten: Es sind gar nicht immer die sozialen Verlierer, die zum Rechtsradikalismus neigen, sondern die Gruppe, die sozialen Abstieg befürchtet. Da handelt es sich eher eine Angst vor einer Entwicklung, die eintreten kann, aber nicht unbedingt eintreten muss."

Forschungen zum Rechtsradikalismus ergeben laut Beichelt seit vielen Jahren, "dass in Deutschland zwischen zehn und 20 Prozent der Menschen rechtsradikales Gedankengut pflegen".  Dieser Kern sei vor allem in Ostdeutschland von der AfD "geschickt genutzt" worden. Dass ein größerer Teil der AfD-Wähler der Partei auch ideologisch folgt, sei insofern "keine große Überraschung", zumal aus der Osteuropaforschung bekannt sei, dass auch in Russland, Polen oder in der Ukraine unter jungen Menschen nationalistisches Gedankengut ziemlich verbreitet ist, häufig stärker als bei der mittelalten oder älteren Generation. "Insofern ist das möglicherweise eine Tendenz auf die sich die liberale Öffentlichkeit einstellen muss, ob sie es nun will oder nicht", sagt Beichelt.

These 2: AfD dient als Anker in unsicheren Zeiten

Ein zweiter Erklärungsversuch: Bei den Menschen zwischen 25 und 44 Jahren handelt es sich - im Gegensatz vor allem zu der jüngeren Wählergruppe – oft um Menschen, die mitten im Leben stehen, vielleicht ein Haus gebaut oder eine Familie gegründet haben und entsprechend eine große Verantwortung für sich und ihre Familie tragen. Das persönliche Risiko ist aktuell kalkulierbar, weil sie einen sicheren Job haben, weil sie in einer bekannten, vertrauten Welt leben. Durch aktuelle Herausforderungen wie Migration oder Klimawandel werden jedoch Veränderungen nötig, die diese Menschen verunsichern, die ihnen Angst machen. Deshalb wählen sie die AfD, die sich gegen genau diese Veränderungen sträubt und den Menschen weismacht, es gehe auch ohne.

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Politikwissenschaftler Beichelt räumt zwar ein, dass die Forschung noch nicht genug darüber wisse, welche sozialen Gruppen jetzt genau die AfD gewählt haben. Er gehe aber davon aus, dass es nicht nur die tatsächlich abgehängten Menschen ohne jegliche Perspektive seien, die für die Rechtspopulisten stimmten. Aus der Rechtsradikalismusforschung in den vergangenen 20 bis 30 Jahren wisse man aber, "dass es besonders Bevölkerungsgruppen oder Menschen sind, die befürchten, dass ihnen das, was sie erarbeitet haben, wieder verloren geht, dass ihnen das weggenommen wird". "Und dass die Beschäftigungsverhältnisse in der Prignitz, in der Uckermark, in der Lausitz nicht berauschend sind für Leute mit unterdurchschnittlicher Bildung, weiß jeder, der einmal in eine sozialstrukturelle Untersuchung geguckt hat", so Beichelt weiter. "Insofern ist das hier eher eine plausible Wahl einer Bevölkerungsschicht, die ziemlich unter Druck steht."

Politikpsychologe Kliche erklärt das Phänomen mit einer "tiefen Verunsicherung" und einer Kränkung, "dass man das eigene Schicksal nur sehr begrenzt in Händen hält". Hier greife die Strategie der AfD: "Populismus verspricht den Menschen eine starke Gruppe: Wir sind die Tollen, die anderen müssen halt weg, dann geht es uns gut." Außerdem, so Kliche, entlaste die Fremden- und Elitenfeindlichkeit die Menschen auch psychisch, "weil all die verworrenen Entwicklungen dadurch auf eine einfache Geschichte hinauslaufen: Es gibt Schuldige, die muss man entfernen. Man kann also etwas tun, ohne sich über komplizierte wirtschaftliche und rechtliche Zusammenhänge den Kopf zu zerbrechen, man ist nicht hilflos, und erstmal reicht dafür sogar wieder Wählen, es kostet also wenig Zeit."

These 3: Junge Nicht-AfD-Wähler wandern ab

Der dritte Erklärungsversuch: Viele junge Grünen-Wähler kehren Brandenburg nach der Schule den Rücken, weil sie zum Beispiel fürs Studium in ein anderes Bundesland ziehen. Die Gruppe der Dagebliebenen, die sich beispielsweise für eine Ausbildung im Ort entscheiden, legt dann ein ganz anderes Wahlverhalten an den Tag. Die große Herausforderung für die Politik wäre damit, denjenigen, die zum Studium weggehen, gute Bedingungen zu schaffen, damit sie auch zurückkehren. Damit könnten die anderen Parteien Vertrauen zurückgewinnen, die AfD wieder zurückgedrängt werden.

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Politikpsychologe Kliche hält diese These zwar nicht für völlig abwegig. Eine einfache Lösung für das Abwanderungsproblem sieht er allerdings nicht: "In Brandenburg bestehen zwei Typen politischer Regionen: städtische und ländlich-strukturschwache, dazwischen einige Mischungen. Die fordern unterschiedliche regionale und industriepolitische Strategien. Eine sinnvolle Strategie ist sicher, in ländlichen Regionen künstlich neue Entwicklungskerne zu schaffen, eine andere, die Mobilität in die Zentren zu erleichtern, eine dritte, qualifizierte Online-Arbeit zu Hause zu ermöglichen. Aber der Grundmechanismus bleibt: Die Arbeitsmigration ist unter Qualifizierten und Jüngeren hoch, besonders unter Frauen bis 25. Die wandern seit 30 Jahren ab - und qualifizierte Jüngere mit Dienstleistungsberufen sind nun mal die Kerngruppe des Wertewandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werten, von Pflicht- und Akzeptanz- hin zu individuellen Wachstumswerten. Da ist auch die Stammwählerschaft der Grünen."

Politikwissenschaftler Beichelt hält das zumindest für einen Ansatz. Die Politik der vergangenen 30 Jahre in der Bundesrepublik habe die Lebensbedingungen vor Ort nicht an die erste Stelle gestellt. Zwar sind dem Politikwissenschaftler zufolge riesige Summen in den Aufbau Ost geflossen, in Autobahnen und Schnellbahnstrecken. Für bestimmte Bevölkerungen in bestimmten Gebieten, für bestimmte Milieus, habe das aber auch zum Nachteil gereicht, so Beichelt. "Wer heute mit dem Auto mal sonntags durch Brandenburg fährt, sieht in kaum noch einem Dorf einen Laden. Es gibt keine Polizeistation, es gibt kein Gericht, es gibt kein Krankenhaus. Es ist alles nur noch in mittelgroßen Städten vorhanden. Und dann fühlen sich die Leute gar nicht mal zu Unrecht zurückgesetzt. Die vergleichen das mit früher und sie vergleichen es möglicherweise zum Beispiel mit Baden-Württemberg, wo einfach insgesamt das ökonomische Niveau viel höher ist und wo man sich diese Dinge noch leisten kann."

Der neuen Landesregierung rät er entsprechend: "Im Grunde genommen müsste man die Lebensbedingungen so schaffen, dass man auch sich in einem Dorf im östlichen oder im nördlichen oder im südlichen Brandenburg nicht abgehängt fühlt, dass man einkaufen kann, dass man telefonieren kann, dass man mit dem Bus wegkommt, auch wenn man sich kein eigenes Auto leisten kann. Das kostet natürlich Geld, aber man sieht auch, was passiert, wenn man diese Investitionen nicht leistet. Dann kommt ein Gefühl der Zurücksetzung, so eine gefühlte rote Laterne auf, und die Menschen wählen weiterhin Protestparteien."

Beitrag von Claudia Stern

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