rbb24
  1. rbb|24
  2. Politik
Quelle: imago images

Kommentar | DGB-Kundgebung im Netz

Gewerkschaftsprotest gehört auf die Straße

Corona-Zeiten sind keine guten Zeiten für Demonstrationen. Die Ostermärsche sind ausgefallen, die Aktionen von Fridays for Future können nicht wie gewohnt stattfinden. Nun verlegt der DGB seine Demo zum 1. Mai ins Netz. Eine Idee, aber keine gute, findet Ansgar Hocke. 

Protest gehört auf die Straße, denn ohne den freien Zugang zum öffentlichen Raum, zu den Plätzen der Stadt, fehlt unserer Gesellschaft eine wichtige Arena der Auseinandersetzung. Der 1. Mai war stets Mittelpunkt und Schauplatz traditionsreicher öffentlicher Umzüge und Kundgebungen. Dass der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seine Demonstration am Tag der Arbeit nun vor allem im Netz stattfinden lassen will, ist ein Rückzug und ein Schritt zurück.

Um elf Uhr wollen der Gewerkschaftsbund unter dem Slogan "Solidarisch ist man nicht allein" einen Livestream starten: Stellt sich nur die Frage, ob an diesem historischen Tag dieser Auftritt bei der heraufziehenden größten Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausreicht.

Mit Maske, Abstand und Anstand auf die Plätze

Ich höre schon die Zwischenrufe: Die Zahl der Teilnehmer wird doch von Jahr zu Jahr sowieso geringer, zudem bremst in diesem Jahr die Ansteckungsgefahr und ein Umzug wäre ohnehin nicht genehmigt worden. Doch das Recht, die Plätze dieser Republik bundesweit kreativ mit Maske, Abstand und Anstand zu nutzen, voller Eigenkontrolle und voller Solidarität, das wäre sinnvoll gewesen. Proteste müssen sich auch öffentlich etablieren und transportieren können; auch wegen Covid-19. 

Hintergrund

Versammlungsrecht in Corona-Zeiten

Welche Demos in Berlin und Brandenburg derzeit erlaubt sind

    

Skeptisch bleiben

Die Bundespolitiker haben versprochen, dass die massiven Einschränkungen demokratischer Freiheitsrechte nicht bleiben werden. Wir können ihnen nur einen Vertrauensvorschuss geben und sind geneigt, ihnen zu glauben. Doch wer garantiert uns, dass die Eingriffe nach Corona voll und ganz zurückgenommen werden? Auch wenn wir der Politik gerne glauben wollen, dass alles wieder rückgängig gemacht werden wird: Skeptisch bleiben ist erlaubt und Bürgerpflicht.

Ein klares Zeichen auf den Straßen wäre von Seiten der Gewerkschaften notwendig gewesen, statt ein existenzielles Grundrecht der Demokratie übers Netz abzuwickeln. Wahrlich kein Ersatz für friedliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum. Im Medium Internet verschwinden viele Nutzer in der Anonymität, wollen nicht einstehen für das, was sie öffentlich verbreiten. Auf der Straße müssen sie persönlich erscheinen und offen bekennen: "Dafür stehe ich". Die Anziehungskraft der virtuellen Welt, so verlockend sie gerade in Corona-Zeiten auch ist, darf die irdische Realität unserer Demokratie nicht untergraben.

Mehr zum Thema

Angriffe in der Rigaer Straße

5.000 Polizisten am 1. Mai in Berlin im Einsatz

Wegen der Corona-Krise sind große Demos am 1. Mai verboten, trotzdem schickt die Berliner Polizei ein Großaufgebot auf die Straße. Eine Auseinandersetzung gab es bereits in der Rigaer Straße, wo Steine und Farbbeutel auf Polizeiwagen flogen.

Extremisten und Verschwörungstheoretiker nutzen Lücke

Der DGB hätte sich wahrlich mehr einfallen lassen können, um seine Forderungen zu präsentieren, anstatt sich ins Netz zurückzuziehen. Der "Protest der Dinge", die leeren Stühle vor dem Brandenburger Tor von den Gastronomen oder die Plakate vor dem Reichstag von "Fridays for Future" waren gute Beispiele. Es gäbe also genug kreative Protestformen und Ideen, um lautstark darüber zu streiten, wie es zukünftig mit gerechteren Löhnen und gesicherter Beschäftigung weitergehen soll.

Es gibt genug Erwerbstätige, die von den Nothilfe Programmen des Bundes und der Länder nicht erreicht werden. Es wäre zum Beispiel ein Signal, wenn sich die Vorstände der acht Einzelgewerkschaften im DGB als "Familie" vor das Kanzleramt gestellt hätten, um dort für ökonomische Gleichheit und soziale Chancengleichheit zu demonstrieren. Was aber geschieht: Die links und rechtsextreme Szene, die Verschwörungstheoretiker werden am Tag der Arbeit das Stadtbild auf ihre Art in Beschlag nehmen. Die Lücke, die der DGB im öffentlichen Raum hinterlässt, auch wenn in letzter Minute eine Minidemo am Pariser Platz geplant wird, werden Krawallmacher, Politsektierer und Berufsrevolutionäre ausnutzen. Sie werden versuchen, die Deutungshoheit über den Straßenprotest am 1. Mai zu übernehmen. 

Beitrag von Ansgar Hocke

Artikel im mobilen Angebot lesen