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Quelle: dpa/Sven Hoppe

Fünf Jahre "Wir schaffen das" | rbb|24-Datenrecherche

Wenn Integrationskurse allein nicht ausreichen

Hunderttausende Menschen flüchteten 2015 nach Deutschland - viele von ihnen auch nach Berlin und Brandenburg. Manche haben sich mittlerweile gut integriert, für andere ist das schwerer. Unsere Datenrecherche zeigt, wo es bei der Integration noch hakt. Von Veronika Fritz

Wie fängt man am besten an, eine neue Sprache zu lernen? Wie bringt man jemandem bei, wie Deutschland funktioniert? Mit Händen und Füßen und mit vielen Gesten - das sei nach wie vor die beste Methode für den Anfang, sagt Stephanie Köhler. Doch sonst hat sich vieles an Gewissheiten für die Lehrerin geändert, die in Spandau Integrationskurse gibt.

Stephanie Köhler unterrichtete in der Zeit vor 2015 vor allem Menschen aus der Türkei oder Polen in ihren Kursen. Danach stand sie auf einmal vor Klassen, in denen vor allem Syrerinnen und Syrer waren. Entsprechend musste sie ihr Lehrprogramm anpassen: "Eine typische Aufgabe im Sprachkurs: Stell Dir vor du bist mit einem Freund in deiner Heimatstadt. Erzähl mal, was Ihr alles unternehmen könnt", sagt sie: "Das kann ich mit Menschen aus Syrien aber nicht machen." Auf den Krieg und die traumatische Erlebnisse Rücksicht zu nehmen - das wurde ein neuer Teil des Unterrichts.

Die Bürokratie war anfangs überfordert

Aber nicht nur die Art des Unterrichts änderte sich, sondern auch die Anzahl der Schülerinnen und Schüler. Sie stieg in Spandau und in ganz Deutschland infolge der massiven Flüchtlingsbewegung in nie gekannte Höhen – wenn auch mit einem Jahr Verspätung. Denn die deutsche Bürokratie war anfangs überfordert von der großen Zahl der Asylsuchenden und konnte nicht schnell genug Berechtigungen ausstellen. Denn in jedem Fall musste entschieden werden, ob den Menschen ein Schutzstatus zugesprochen wird - oder eben nicht.

Ende 2015 wurden die Regeln geändert. Syrerinnen und Syrer, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in Deutschland bleiben durften, wurden bereits zu den Integrationskursen zugelassen, bevor ihr Status geklärt war. Das erklärt den verspäteten Anstieg der Teilnehmerzahl im Jahr 2016. Seit dem ersten Ansturm nimmt die Nachfrage wieder ab.

Das Wichtigste zu Integrationskursen

Wer darf einen Integrationskurs besuchen?

Die Integrationskurse des BAMFs sind für Menschen gedacht, die nicht mehr ins schulische Bildungssystem integriert werden und die eine längere Bleibeperspektive haben. Dazu gehören Menschen mit anerkannten Asylanträgen, EU Bürger und Menschen aus Drittstaaten mit dauerhaftem Aufenthalt. Seit Ende 2015 dürfen auch Menschen mit einer hohen Bleibewahrscheinlichkeit ohne abgeschlossenes Asylverfahren einen Integrationskurs besuchen. Momentan gehören Menschen aus Syrien und Eritrea zu dieser Gruppe. Im Jahr 2016 gehörten auch Iraker und Iraner dazu. Außerdem können Ausländerbehörden oder Jobcenter Menschen zum Besuch eines Integrationskurses verpflichten, wenn diese Sozialleistungen beziehen.

 

Seit wann gibt es Integrationskurse?

Die Integrationskurse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind seit 2015 in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt, angeboten werden sie allerdings schon seit 2005: „Ab dem Jahr 2000 hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass viele Gastarbeiter, die nach Deutschland gekommen sind, bleiben werden“, sagt Jens Reimann vom BAMF. Mit den Integrationskursen wollte man ein zentral organisiertes Angebot schaffen. In den ersten Jahren kamen viele Menschen in die Kurse, die schon lange in Deutschland gelebt hatten, aber trotzdem wenig Deutsch sprechen konnten.

Die große Anzahl der Teilnehmer sorgte in Spandau 2016 erstmal für ein Platzproblem, erklärt Stephanie Köhlers Chefin Karin Zirkelbach. Das wurde dadurch verschärft, dass viele Geflüchtete aus Brandenburg zu den Kursen in Berlin kamen.

"In Brandenburg fehlte die Struktur, es gab nicht genug Integrationskursträger", sagt Zirkelbach. Diesen Effekt kann man auch in den Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sehen: Im Jahr 2015 besuchten in Berlin fast genauso viele Menschen einen Kurs, wie es Kursberechtigungen gab. In Brandenburg dagegen klafft für das Jahr 2015 und auch für 2016 eine gewaltige Lücke zwischen Berechtigten und tatsächlichen Teilnehmern.

In den letzten Jahren hat sich die Situation beruhigt. Etwa 80 Prozent der Menschen, die eine Berechtigung für einen Kursbesuch bekommen, treten ihn sowohl in Berlin als auch Brandenburg an. Wenn Menschen mit einer Berechtigung heute keinen Kurs wahrnehmen, liege das nicht am fehlenden Angebot, erklärt das BAMF auf Rückfrage.

Warum die restlichen 20 Prozent nicht in den Kursen ankommen, bleibt unklar. Die Industrie- und Handelskammern in Brandenburg berichten, dass oftmals Leute bereits einen Job hätten und darum den Kurs nicht anträten.

Wie gut helfen aber die Integrationskurse den Geflüchteten wirklich? Niklas Harder vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung stellt den Kursen vorläufig ein gutes Zeugnis aus. Er hat mit Kollegen anderer Institute in einer noch unveröffentlichten Studie die Wirkung der BAMF-Kurse untersucht – und einen klaren positiven Effekt festgestellt: "Diejenigen, die bereits einen Kurs besucht hatten, waren deutlich öfter beschäftigt, als diejenigen, die den Kurs noch vor sich hatten."

Die Bleibeperspektive spielt eine große Rolle

Von entscheidender Wichtigkeit für die Integration ist laut Harder schnelle Rechtssicherheit. "Die Menschen kommen mit Schwung in ein neues Land, den muss man ausnutzen." Das zeigt auch eine Studie zur Integration der Geflüchteten aus Jugoslawien, die 1999 und 2000 kamen: Wenn Geflüchtete ein Jahr länger in einem Schwebezustand steckten und keinen Job ausüben durften, dauerte es zehn Jahre, um den Rückstand in der Erwerbstätigkeit aufzuholen.

Afghanische Flüchtlinge gehören nicht zu den Personen mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit. Sie dürfen die klassischen Integrationskurse deshalb nicht besuchen, bevor ihr Schutzstatus geklärt ist. "Die Unsicherheit bremst jede Eigeninitiative", sagt Harder. Wer nicht wisse, ob er bleiben dürfe, wisse nicht ob es sich lohnt, die Sprache zu lernen. Erst seit 2017 wird der Schutzstatus verstärkt auch für Afghanen geklärt.

Wer gut Deutsch spricht, hat es leichter im Alltag, bei der Jobsuche, aber auch mit neuen sozialen Kontakten - da sind sich Betroffene, Wissenschaft und Politik einig. Das spiegelt sich im Aufbau der Integrationskurse wider. In 600 der insgesamt 700 Unterrichtsstunden des allgemeinen Integrationskurses geht es um die deutsche Sprache. In der restlichen Zeit werden Kenntnisse über Rechtsordnung, Kultur und Geschichte in Deutschland vermittelt.

Am Ende des Kurses steht ein Sprachtest, der "Deutsch-Test für Zuwanderer". Ziel: B1 Niveau, die "Selbstständige Sprachanwendung" nach europäischem Referenzrahmen. Im Jahr 2019 hat rund die Hälfte der Teilnehmenden in Deutschland dieses Ziel erreicht, ein knappes Drittel wurde mit A2 ein Niveau tiefer eingestuft. Einen deutlichen Einfluss hat nach der Statistik des BAMFs das Alter. Grob gesagt gilt: je jünger, desto besser das Prüfungsergebnis.

Nach dem Besuch des Integrationskurses sollen die Teilnehmenden in allen relevanten Alltagsituationen zurechtkommen. Dazu gehört der Arztbesuch, Gespräche mit der Schule und bei der Wohnungssuche. Und doch reicht auch das oft noch nicht aus, damit Geflüchtete wirklich ankommen und einen Job finden.

Die Zahl der Arbeitslosen und Arbeitssuchenden unter allen Geflüchteten ist in den letzten Jahren mehr oder weniger gleich geblieben, wie die Agentur für Arbeit analysiert. Denn zwar kommen inzwischen weniger Geflüchtete nach Deutschland. Gleichzeitig dauert es aber nach wie vor bis diejenigen, die hier sind, in Jobs kommen. Darum stagniert die Zahl der Arbeitlosen unter ihnen in den meisten Landkreisen Brandenburgs oder steigt sogar in den kreisfreien Städten und Berlin.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sieht dennoch einen großen Erfolg bei den Bemühungen um Integration. Die Ausgangslage sei schwierig gewesen, aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren. Menschen machten aber jetzt aufgrund eigener Arbeit ihren Weg, sagte der SPD-Politiker im rbb. In diesem Zusammenhang hob Müller hervor, wie wichtig es sei, die deutsche Sprache zu lernen.

Und es gibt Hoffnung, denn die Zahl der Geflüchteten in sozialversicherungspflichtigen Jobs stieg in Berlin erheblich: von rund 6.000 Ende 2016 auf rund 17.000 zum Jahresende 2019. In Brandenburg war es in gleichem Zeitraum ein Zuwachs von knapp 1.400 auf 4.800.

Diese Entwicklung ist wohl auch ein Verdienst zahlreicher Projekte, mit deren Hilfe Geflüchtete in den deutschen Arbeitsmarkt eingegliedert werden sollen. In der Werkstatt des Arrivo-Projekts im Berliner Osten können Geflüchtete zum Beispiel nach ihrem Integrationskurs verschiedene handwerkliche Berufe ausprobieren.

In der Etage über der Werkstatt sitzt Hassoumi Moctar vor einem Computer im Deutschkurs für Berufssprache. Er hat schon einen Ausbildungsplatz gefunden - im September fängt er in einer Bäckerei an. Bei Arrivo hat er nicht nur seine Sprache weiter verbessert und Erfahrungen im Handwerk gesammelt: "Wir haben auch gelernt, wie man Termine vereinbart oder absagt, und wie man sich entschuldigt", sagt er.

Ein Flüchtling arbeitet in der Übungswerkstatt für Handwerksausbildung (Symbolbild) | Quelle: imago images/photothek

Familiäre Strukturen unterstützen die Integration

Arrivo wurde 2014 als kleines Pilotprojekt gestartet, finanziert von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen. Spätestens 2015 wurde klar, dass eine Vermittlung zwischen Unternehmen und Geflüchteten im großen Maßstab gebraucht wird. Unter dem Motto "Flüchtling ist kein Beruf" bildete sich ein Netzwerk aus rund 300 Berliner Unternehmen, die bereit waren, Geflüchtete auszubilden.

Einige sind wieder abgesprungen, weil ihre Erwartungen enttäuscht wurden. Aber gerade mit kleineren Betrieben hat Arrivo gute Erfahrungen gemacht. "Familiäre Strukturen eignen sich für die Integration, viele Teams kümmern sich extrem gut, helfen dann auch schon mal bei der Wohnungssuche oder nehmen sie oder ihn zum Eishockey mit", sagt Hartmann.

Dass es jetzt Projekte wie Arrivo gibt, sieht Karin Zirkelbach von der Volkshochschule Spandau als Fortschritt: "Am Anfang war alles ein großes Durcheinander, aber heute gibt es einen breiten Rahmen an Möglichkeiten und davon profitieren alle." Ab und zu trifft sie ehemalige Kursteilnehmer in Spandau - die tragen jetzt BVG-Uniform oder verkaufen in der Bäckerei.

Beitrag von Veronika Fritz

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