Premierenkritik | "Le Nozze di Figaro" an der Komischen Oper - Zu viel von allem
Sie gehört zu den meistgespielten Opern überhaupt: "Le Nozze di Figaro". Der russische Starregisseur Kirill Serebrennikow hat Mozarts Labyrinth aus Lust und Verrat an der Komischen Oper im Schillertheater radikal modernisiert. Von Maria Ossowski
Die Kenner, die Coolen und die Künstler, sie treffen sich nicht nur beim Gallery Weekend. Der seelensezierende russische Theatermaniac Serebrennikow hat die klassenkämpferische Ur-Idee von "Le Nozze di Figaro" rund um den mächtigen Grafen, der seine arme Dienerin flachlegen will, ins Heute verlegt.
Wenn Kunstwerke in Auktionshäusern für Hunderte von Millionen die Besitzer wechseln, sind Skulpturen und Gemälde die stärksten Status- und Machtsymbole. Ferrari und Maserati waren gestern, Henry Moore und Giacometti machen die Superreichen neidisch. Also wohnen Graf und Gräfin in lichtdurchfluteten, minimalistisch ausgestatteten Raumfluchten mit Silberskulpturen und kostbaren Gemälden als Eye-Catchern. Oben auf der Bühne der Komischen Oper.
Kunst-Loft und Souteraintristesse
Unten drunter, im niedrigen Kellergeschoss, zwischen Waschmaschinen, Blechspinden und Bügelbrettern, haust und arbeitet das Personal. Das Liebespaar Figaro und Susanna: Tommasi Barea als Frank-Zappa-Zitat bietet dem Max-Raabe-ähnlichen Grafen (Hubert Zapiór) Paroli, Penny Sofonaidu zieht als abgeklärte Göre mit Fluppe in der Gosch ihre Susanna-Intrigen durch. Die arme Gräfin (Nadja Mchantaf) leidet am kalten Reichtum und dem untreuen Ehemann. Ums kurz zu machen: die Idee der zweigeteilten Gesellschaft mit Kunst-Loft oben und Souterraintristesse unten ist genial. Sie passt zur Handlung. Aber auch zu Mozart?
Während seines zweijährigen Hausarrests mit Fußfessel auf 40 Quadratmetern, von Putinschergen streng bewacht, hat Mozarts "Cosi" dem ehemaligen Direktor des Gogoltheaters das Leben gerettet. Serebrennikow wäre, so erzählt er, sonst verrückt geworden. Er hat 2018 den ersten Teil der Trilogie online und teils heimlich für Zürich und die Komische Oper inszeniert. Mit Beginn des Ukrainekriegs floh er nach Berlin, täglich telefoniert er mit seinem über 90-jährigen jüdischen Vater in Rostow am Don.
"Too much of a muchness"
Serebrennikow kennt das Ewiggültige von Mozarts Figurenreigen. In "Cosi fan tutte" hat die Aktualisierung mit Muskelmännern und Kriegsvideos perfekt funktioniert. Im Figaro jedoch erliegt der Regisseur seiner eigenen überbordenden Phantasie, es jagt ein Gag den nächsten, sehr unterhaltsam, aber "too much of a muchness". Zu viel von allem.
Beispiel: Die Gräfin singt eine der schönsten Arien der Operngeschichte: dove sono? Wo sind die schönen Momente? Dabei zieht sie die künstlichen Wimpern und Fingernägel ab, reißt sich die Extensions aus der Perücke und turnt die Orangenhaut mit Aerobic weg.
Der halbstarke Cherubino ist taubstumm, macht mit Gebärdensprache auf seine Geilheit aufmerksam, hechtet sehr nackt und gekonnt aus dem Panoramafenster und überlässt den Gesang einer vom Regisseur erfundenen Cherubina. Mozarts bezaubernde nadelsuchende Barbarina ist gestrichen, die Gräfin übernimmt ihre melancholische Kavatine. "Soave sia il vento" aus Cosi fan tutte findet auch noch Platz, und ein mussoliniähnlicher Diener saugt irgendwann des Grafen blutigen Finger hündisch ab.
Auf sehr hohem Niveau gescheitert
James Gaffigan dirigiert das Orchester der Komischen Oper, als käme die Musik den Turbulenzen kaum hinterher. Diese Inszenierung überfordert selbst Genies im Multitasking. Singen, spielen, verstehen, staunen, hören, begreifen, lesen, tanzen, sporteln, alles gleichzeitig. Am Schluss sind auf der Bühne und im ausverkauften Zuschauerraum alle erschöpft.
Serebrennikow ist ein hinreißender Meister des Theaters, aber er vertraut dem tiefen Sinn in Mozarts Musik zu selten. Er gibt ihr zu wenig Raum. Leider das Fazit: dieser Figaro ist auf sehr hohem Niveau gescheitert.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.04.2024, 08:11 Uhr