#träumweiter - Radikale Ideen auf dem Prüfstand - Iris' Traum: Ein Land ohne Alkohol

Im "Hochkonsumland" Deutschland wird keine Gelegenheit ausgelassen, die Gläser zu heben. Die Grenze zum Alkoholmissbrauch ist fließend, die Sucht zerstört Leben. Warum den Alkohol nicht einfach verbieten?
Wenn es nach Deborah geht, ist Deutschland bald auf Entzug: "Es kann doch nicht sein, dass der Staat auf Alkohol Steuern erhebt. Da wird Geld damit verdient, dass Leute krank werden", sagt sie. "Besser wäre: Alkohol verbieten!"
Wie bitte? Ein totales Alkoholverbot? Was würden die Deutschen dann auf der Fanmeile trinken? Und was würde aus den vielen schönen Weinköniginnen? Und aus den trachtentragenden, schunkelnden Wiesn-Besuchern, die doch vor allem eines tun: Bier saufen! Überhaupt Bier – ist das nicht ein deutsches Kulturgut?
"Der Rückfall fängt immer mit Alkohol an"
Berlin-Neukölln: Der Hof der "Guttempler", einer über hundert Jahre alten Suchthilfeorganisation, wird vom Licht der Nachmittagssonne durchflutet. Auf einem Tisch im Hof stehen Gebäck und Kaffee. Drumherum sitzt eine Selbsthilfegruppe, vor allem Männer. Jeder Teilnehmer hat eine Drogengeschichte hinter sich – oder ist noch in ihr gefangen.
Deborah, 37, leitet die Gruppe. "Früher hab ich alle möglichen Drogen genommen, außer Alkohol", sagt sie. Nach kurzer Abstinenz kam der Rückfall – dann trank sie täglich drei Flaschen Wein. "Ich bin fest davon ausgegangen, dass mir Alkohol nichts ausmachen würde."
Neben ihr sitzt Iris, 28, die sich in einer anderen Suchthilfe-Organisation engagiert. Für das Interview hat sie den Guttemplern einen Besuch abgestattet: "Der Rückfall fängt immer mit Alkohol an", sagt sie. "Das Problem ist seine weitläufige Verbreitung. Er ist allgegenwärtig, immer verfügbar und der Konsum wird verharmlost." Darum träumt auch Iris von einem Deutschland ohne Alkohol.
Einigkeit und Recht und Vollrausch
Ist die Lage wirklich so schlimm, dass so drastische Maßnahmen nötig sind? Leben wir in einem Land der Säufer? Die Zahlen legen es nahe: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) gilt Deutschland im internationalen Vergleich als "Hochkonsumland": Pro Jahr und Kopf trinken die Deutschen fast zehn Liter reinen Alkohol – das entspricht knapp 400 Flaschen Bier. Weltweit liegt der Durchschnitt deutlich niedriger: bei sechs Litern.
Logisch also, dass viele Deutsche mehr trinken, als gut für sie ist: Rund dreieinhalb Millionen Menschen in diesem Land gelten als alkoholabhängig oder suchtgefährdet. Obwohl allgemein bekannt sein dürfte, dass Alkoholmissbrauch zu lebensgefährlichen Organschäden und Krebserkrankungen führen kann, sterben nach wie vor 200 Deutsche an den Folgen der Droge – pro Tag.
Ein Alkoholverbot gab es schon einmal – und es scheiterte
Könnten diese Tode durch ein staatliches Alkoholverbot verhindert werden? Es gibt ein historisches Beispiel, das dagegen spricht. In den USA wurden im Jahr 1920 die Einfuhr, der Handel und der Konsum von Alkohol verboten. Wer glaubt, dass die Regierung ihren Bürgern damals etwas aufzwängte, liegt falsch: Bürgerinitiativen für die Prohibition – zum Teil religiös motiviert – beherrschten die öffentliche Meinung.
Jessica Gienow-Hecht, Professorin für nordamerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin, erklärt: "Für die Menschen damals waren Saloons eine Ausgeburt der Hölle: Ein Ort, zu dem Menschen gingen, um verführt zu werden." Doch auch wenn bei Einführung des Verbots die Öffentlichkeit scheinbar hinter der Regelung stand: Die Realität sah ganz anders aus.
"The Noble Experiment" ("Das ehrenhafte Experiment"), wie die Zeit der Prohibition auch genannt wird, scheiterte. Ein Grund dafür war der boomende Schwarzmarkt: Mafiakartelle, wie das "Chicago Outfit" von Al Capone, erwirtschafteten Riesengewinne. Allerorten zechten die Bürger in geheimen Kellerkneipen ("Speakeasies") und unterliefen das Verbot. Der Regierung fehlten die Mittel, sich zu behaupten. 1933 war es dann soweit: Die Prohibition wurde abgeschafft.
Alkoholkonsum auch ohne Verbot rückläufig
Gegen ein Alkoholverbot spricht außerdem, dass der Konsum der Deutschen seit den 70er-Jahren rückläufig ist – ganz ohne Verbot. Während 1973 noch knapp 70% der 18- bis 25-Jährigen regelmäßig Alkohol tranken, waren es 2016 nur noch 30%. Michaela Gloecke, Leiterin des Suchtreferats des BZGA, erklärt sich diesen Rückgang so: "Das Gesundheitsbewusstsein wird größer, wir rauchen ja auch weniger." Langsam aber sicher gebe es einen kritischeren Umgang mit Alkohol.
Wenn sich die Politiker in Deutschland mit Drogen beschäftigen, dann vor allem mit einer: Cannabis. Der Konsum ist straffrei, illegal sind Anbau, Erwerb, Besitz und Verkauf. Hier bröckelt das Verbot gerade. Die stärker werdende „Legalize it!“-Bewegung treibt die Cannabis-Freigabe voran. Parteien wie FDP, Grüne und Linke fordern die Entkriminalisierung. Die Argumente reichen von einer Entlastung der Polizei über die Vermeidung von Gesundheitsrisiken bis hin zum „Recht auf Rausch“
Andere Drogen – verbieten oder erlauben?
CDU und die SPD halten sich in ihren Programmen in Sachen Cannabis bedeckt. Einzig die AfD bezieht eine klare Gegenposition. „Eine weitere Freigabe von Drogen bzw. suchtgefährdenden Substanzen ist nicht nur in der Folge kostenintensiv, sondern auch medizinisch schädlich.“ So viel zur Prohibition der deutschen Gegenwart. Alkohol hingegen spielt in den Wahlprogrammen der großen Parteien kaum eine Rolle.
Die Teilnehmer der Berliner Suchtgruppe diskutieren trotzdem noch ein bisschen weiter über ein Deutschland ohne Alkohol „Es wäre schon schön, es wäre eine bessere Welt“, sagt einer und kratzt sich am Kopf. Deborah steckt sich eine Zigarette an. Dann schlägt sie sich auf den Oberschenkel und ruft: „Gut, also legen wir los. Wie war deine Woche, Thomas?“ In den Hinterhof der Guttempler fällt die Nachmittagssonne und bestrahlt die Gesichter der Teilnehmer. Das Leid, das sie der Sucht zu verdanken haben, hat seine Spuren hinterlassen.
Sie haben ein Problem mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln? Oder Sie sind sich nicht sicher, ob Ihr Konsum das gesunde Maß übersteigt? Informationen zum Thema und zu Suchtberatungsstellen in Ihrer Nähe finden Sie beispielsweise auf der Seite „Kenn dein Limit“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).