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Audio: Inforadio | 13.09.2022 | Stephan Oszvath | Quelle: rbb/Stephan Ozsvath

Vormarsch der ukrainischen Armee

Verhaltene Freude bei Ukrainern in Berlin

Die Gebietsgewinne ihrer Armee lösen bei geflüchteten Ukrainern in Berlin Euphorie aus. Aber nicht nur: Viele sorgen sich um Väter und Söhne an der Front. An einen baldigen Sieg wollen viele noch nicht glauben. Von Stephan Ozsváth

"Ukraine rückt weiter vor" titelt eine Zeitung, eine andere: "Ukraine sieht Wendepunkt im Krieg". Eine große konservative Tageszeitung meldet "russische Truppen im Gebiet Charkiw auf dem Rückzug". Der "Tagesspiegel" in Berlin wird sogar grundsätzlich: "Die Ukraine holt sich ihr Land zurück." Meldungen wie diese beflügeln nicht nur die Menschen in dem Land, das seit 200 Tagen von russischen Truppen bedrängt wird.

Auch die Geflüchteten in Berlin euphorisierten die Meldungen, erzählt Diana Hennigs vom Verein "Moabit hilft", der auch Anlaufstelle für Ukraine-Flüchtlinge ist. "Das ist allerdings durchwachsen", sagt sie. "Es gibt welche, die Hoffnung schöpfen, aber auch viele andere, die ihre Männer, Söhne, Brüder im Kriegseinsatz haben." Die ukrainischen Frauen hätten schlicht Angst um ihre Familienangehörigen, die im Fronteinsatz auch nicht alles sagen dürften, sodass die Meldungen nicht überprüfbar seien. Es gebe deshalb "sehr unterschiedliche Meinungen, wie es aktuell um die Ukraine steht".

tagesschau.de

Russland zieht Truppen aus Charkiw zurück

Freude, Sorge und ein bisschen Aberglaube

Ähnliches berichtet auch Svetlana Müller, die im Kulturzentrum Panda Platforma im Bezirk Prenzlauer Berg jeden Sonntag einen geschützten Raum für ukrainische Geflüchtete anbietet, in dem sie sich austauschen können. "Die Stimmung ist natürlich höchst euphorisch", erzählt sie, "man hat seit einem halben Jahr auf solche Nachrichten gewartet." Die Freude paare sich mit der Sorge um die Männer, Väter, Söhne, die "im Kriegseinsatz" an der Front sind.

Ein bisschen Aberglaube ist auch dabei. Die ukrainischen Geflüchteten wollten "das Glück nicht verschrecken", und deshalb zeigten manche die Freude eher verhalten. Es sind Menschen wie Andrii Tsybukh aus Charkiw: "Mit dem Jubeln würde ich vorsichtig sein", sagt der Lehrer, der eine ukrainische Willkommensklasse in Berlin-Mitte unterrichtet. "Russland ist ein Land, das man kaum besiegen kann." Es gebe viele arme Regionen mit zahlreichen Menschen, die Putin noch an die Front werfen könne. Schließlich zähle ein Menschenleben in Russlands nichts.

"Das hat niemand erwartet, aber es hat viel Blut gekostet."

Andrii verweist auch auf die jüngere Geschichte, die beiden Tschetschenien-Kriege in den 1990er Jahren. "Russland kann einfach eine Pause machen." Er glaubt, dass der Herrscher im Kreml nicht locker lassen werde. "Putin will seine Ziele erreichen", er könne nicht morgen früh aufstehen und sagen: "Jetzt höre ich auf". Schon um seines eigenen Machterhalts Willen müsse Putin den Krieg weiter führen. Auch deshalb sei ihm angesichts des Erfolges der ukrainischen Gegenoffenisve nicht zum Jubeln zumute, sagt der Lehrer, eher sei er traurig. Dass die Armee solange durchhalte, "das hat niemand erwartet, aber es hat viel Blut gekostet". Auch zwei seiner Studenten seien gefallen, berichtet Andrii.

Russen sollen Ukraine wieder aufbauen

In seiner Heimatstadt Charkiw betrieb Andrii vor dem Krieg eine Sprachschule, im März kam er mit Frau und drei Kindern nach Berlin. "Die Universität ist zerbombt, die Schule meiner Kinder auch." Deutschland habe viel geholfen. Die Frage nach zögerlichen Waffenlieferungen wolle er lieber nicht beantworten. Sein Kommentar zu den Briefeschreibern, die der Ukraine eine Kapitulation nahelegten, ist eine schlichte Gleichung: "Es geht hier um weniger oder mehr Geld für die Heizung - in der Ukraine haben wir gar keine."

Die Städte seien verwüstet, zerbombt von den Russen. Die Zeit für Dialog sei vorbei, meint Andrii. Der Krieg sei erst beendet, wenn die Russen das ukrainische Territorium verlassen hätten. Er stellt sich auf einen langen Krieg ein, mit weiterer Zerstörung, weiterem Blutzoll. Die Zeche soll Russland am Ende zahlen, meint er. "Sie müssen alles wieder aufbauen und dafür bezahlen." Er selbst will nicht für immer in Berlin bleiben, so der Lehrer, es gibt auch Dinge, die ihn hier nerven. "Beantragen" sagt er nur und meint damit die Bürokratie in Deutschland.

Auch Russen drücken Ukrainern die Daumen

Dass die Russen im Nordosten der Ukraine den Rückzug angetreten haben, dabei auch Panzer und Ausrüstung zurückließen, lässt nicht nur Ukrainer frohlocken. Auch unter Russen verändert sich die Stimmung, berichtet die russisch-stämmige Kulturmanagerin Svetlana Müller. Sie erwähnt die Oppositionsabgeordneten in Moskau und St. Petersburg, die offen gegen Putin auftraten, seinen Rückzug und sogar eine Anklage wegen Hochverrats forderten. Das Versagen der russischen Armee ist Thema in Telegram-Konten russischer Pro-Kriegs-Blogger. Selbst Putins tschetschenischer Statthalter Kadyrow hält mit seiner Kritik am russischen Militär nicht hinterm Berg.

"Das Regime Putin bröckelt"

Auch im russischen Staatsfernsehen sind ganz neue Töne zu hören. Außenminister Lawrow will plötzlich verhandeln. Für Svetlana Müller sind all das Anzeichen, dass "das Regime Putin bröckelt". Alle ihre russischen Freunde schrieben, "sie trinken darauf, dass die ukrainischen Streitkräfte ihren Vormarsch fortsetzen". Alle fühlten sich wohl, "als ob man eine schwere Last eine Weile abgelegt hätte – vielleicht für immer".

Sendung: rbb24 Inforadio, 13.09.2022, 6 Uhr

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Beitrag von Stephan Ozsváth

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