rbb24
  1. rbb|24
  2. Politik
Video: Abendschau | 19.06.2017 | Robert Holm/Gast im Studio: Ansgar Hocke | Quelle: imago stock&people

Krise im Öffentlichen Dienst

Schlecht gewappnet für die Pensionierungswelle

In Berlin geht ein Viertel der Verwaltungs-Beschäftigten bis 2023 in Rente - und es gibt nicht genug Nachwuchs. Gleichzeitig wächst die Stadt weiter: In der Verwaltung droht ein Desaster. Der Senat versucht jetzt gegenzusteuern. Von Jana Göbel, Ansgar Hocke und Götz Gringmuth-Dallmer

In Berlin zeigt die Kurve beim Bevölkerungswachstum steil nach oben - die Hauptstadt steuert auf die Vier-Millionen-Marke zu.  Schon jetzt gibt es Engpässe im Öffentlichen Dienst. Denn die Stadt hat massiv Stellen abgebaut: Gab es 2003 noch 40 Vollzeitstellen im Öffentlichen Dienst je 1.000 Einwohner, waren es 2016 noch 28,5. Und diese Entwicklung wird sich wohl fortsetzen:  Wenn die Stellen nicht vollständig wieder besetzt werden können, so eine Prognose des rbb, wären in einigen Jahren nur 22 Mitarbeiter für 1.000 Einwohner da. Die Pensionierungswelle rollt, und es fehlt der Nachwuchs.

Dem rbb berichten Mitarbeiter nun exklusiv aus dem Inneren der Verwaltung über die Folgen des Personalmangels. Da beschreibt Polizist Tom S. (Name von der Redaktion geändert), dass verurteilte Straftäter nicht ins Gefängnis gebracht werden können. "Die Haftstrafen können teilweise nicht vollstreckt werden. Wir haben nicht die Zeit zu ermitteln, wo derjenige sich aufhält", berichtet er. Und Manuela Sottong, Vize-Landeschefin der Deutschen Steuergewerkschaft in Berlin, erzählt, dass Kollegen in den Finanzämtern von sogenannten grünen Wochen berichtet hätten. In diesen Wochen seien Steuererklärungen nicht mehr ordentlich geprüft worden, weil Personal fehle. "Da heißt es dann: Augen zu und durch", erzählt sie. Sottong arbeitet seit 25 Jahren als Steuerbeamtin in Berlin. "Dann wird alles durchgewunken, was eingeht." Gute Zeiten für Steuersünder, doch dem Land gingen dadurch Steuereinnahmen verloren, so Sottongs Kritik.

Dabei wurden bei der Polizei und den Finanzämtern nach Aussagen der Pressestellen alle Stellen besetzt. Doch die jeweiligen Gewerkschaften sagen, das reiche nicht. Die Gewerkschaft der Polizei fordert 3.000 Mitarbeiter mehr. "Wir haben ein Defizit, das wir mit den aktuellen Einstellungen nicht auffüllen" sagt GdP-Sprecher Benjamin Jendro. Die Deutsche Steuergewerkschaft (DStG) fordert 2.000 zusätzliche Mitarbeiter für die 23 Berliner Finanzämter. Der Berliner Vorsitzende Detlef Dames geht davon aus, dass ein Drittel der Beschäftigten bis 2025 in Rente geht. "Wir können dem demografischen Wandel nicht gerecht werden, weil die Ausbildungszahlen nicht ausreichen.“

"Wir müssten 50.000 Leute an Bord holen"

Daniela Ortmann, Vorsitzende des Hauptpersonalrates Berlin teilt die Sicht der Gewerkschafter. Zwar wurden und werden neue Stellen in der Berliner Verwaltung geschaffen, aber man sei noch immer unterbesetzt, sagt Ortmann. Es gebe kein Konzept. Bis heute wisse man nicht, wo eigentlich wie viele Mitarbeiter fehlten. "Wir verlieren in den nächsten Jahren 30.000 Beschäftigte", sagt Ortmann. "Dazu kommt die wachsende Stadt. Wir müssten also etwa 50.000 Leute an Bord holen. Davon sind wir meilenweit entfernt."

Anstrengungen reichen wohl nicht aus

Schwarz auf Weiß steht es im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag: "Die Koalition wird dafür Sorge tragen, dass die Stadt funktioniert, die Verwaltung kundenorientierter und leistungsfähiger wird." Unter dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) gab  es zwar eine klare Trendwende für mehr Personal. Doch es sieht so aus, als würden die Anstrengungen nicht ausreichen.  

Auf die Frage, wie viele Stellen im vergangenen Jahr besetzt werden konnten, schreibt die für Personal zuständige Senatsverwaltung für Finanzen dem rbb: "Für 2016 war in den Hauptverwaltungen ein Mehrbedarf von 3.115 Stellen anerkannt, für 2017 weitere 974 Stellen. Ob sie besetzt sind, kann die Senatsverwaltung für Finanzen nicht auswerten."

Quelle: imago/Olaf Wagner

Ein Monat Wartezeit für Ummeldungen

Wo die Not am größten ist, wird so gut es geht nachgelegt. Kürzlich gab es auf die Schnelle eine halbe Millionen Euro für die Bauplaner in den Bezirken, um die dortigen Engpässe zu beseitigen. Die Bürgerämter erhielten 167 Stellen mehr. Das sorgte zwar für Entlastung, aber die Zahl der Kunden steigt in vielen Bezirken weiter.

Die Wartezeit für eine Ummeldung der Wohnung beträgt immer noch über einen Monat. Auch die KfZ-Zulassungsstellen wurden aufgestockt. Dennoch: Wer sein Auto zulassen will, muss länger als einen Monat warten. Beschäftigte sprechen von katastrophalen Zuständen in der Jüterboger Straße.  Eine Mitarbeiterin erklärt dem rbb: "Bei  den sogenannten Händlerschaltern  werden blaue 20-Kilo-Kisten mit den Anträgen, Ausweisen, KfZ-Schildern  hin und her geschleppt.  Mitarbeiter versuchen, das Chaos zu beherrschen. Der Krankenstand erreicht Höchstwerte - bis zu 40 Prozent.  Die Zahl der Zulassungen hat sich in Tausender-Schritten erhöht, aber wir haben zehn Leute weniger."

Berliner Bezirke können Stellen kaum neu besetzen

In den Bezirksverwaltungen ist die Lage besonders dramatisch: Bei den Beschäftigten fehlt nahezu eine ganze Generation von 30- bis 40-Jährigen. Marzahn-Hellersdorf verliert bald mehr als 35 Prozent der Mitarbeiter, Treptow-Köpenick und Friedrichshain-Kreuzberg jeweils 30 Prozent.

Ob es gelingt, die fehlenden Mitarbeiter zu ersetzen, ist unklar. Laut Senatsverwaltung für Finanzen konnten 2016 von 547 bewilligten Stellen nur 436 besetzt werden. Der rbb startete eine Umfrage unter allen Bezirken, um herauszufinden, wo es mit der Wiederbesetzung geklappt oder nicht geklappt hat. Heraus kam ein Zahlenwirrwarr aus Neueinstellungen, Vollzeitstellen, befristeten,  unbefristeten Verträgen, Teilzeit, Versetzungen, interne  Besetzungen und Umsetzungen. Die Zahlen sind nicht vergleichbar und lassen sich deshalb nicht auszuwerten. Nur eins steht fest: Es fehlen Bewerber. Deshalb konnten 2016 ausgeschriebene Stellen in den Bezirken teilweise nicht besetzt werden. Diese Stellen  werden in diesem Jahr erneut ausgeschrieben: Pankow beispielsweise versucht, im laufenden Jahr 50 Stellen nachzubesetzen. In Reinickendorf blieben 50 - 70 Stellen frei, und in Schöneberg-Tempelhof  sind 100 Stellen regelmäßig unbesetzt.

Unabhängig von den noch nicht erfolgten Stellenbesetzungen  und den zukünftigen  Pensionierungen  belegen neueste Zahlen aus dem Januar 2017 (Senatsverwaltung für Finanzen), dass die Zahl der Beschäftigten in den Bezirken im Vergleich zum Vorjahr um circa 800 angestiegen sind.

Digitalisierung lässt auf sich warten

Das Angebot an öffentlichen Dienstleistungen wird auch deshalb schrumpfen, weil die digitale Revolution in der Berliner Verwaltung auf sich warten lässt. IT-Staatssekretärin Sabine Smentek sagt im rbb-Interview, dass dringend 300 IT-Fachkräfte gebraucht würden, um jetzt schnell die elektronische Akte einzuführen. Allerdings seien auch im IT-Bereich in den letzten Jahren Stellen abgebaut worden. Und das Geld für zusätzliches Personal sei noch nicht bewilligt. Smentek beschreibt, wie rückständig die Berliner Verwaltung derzeit in einigen Bereichen arbeitet: "Da kriegt man einen Antrag, den jemand in ein PDF-Dokument reingetippt hat, der Kollege nimmt die Tabelle und tippt die in die Fachanwendung rein, dann druckt er irgendwas aus, scannt irgendwas wieder ein und schickt es per Email irgendwo hin. Das ist nicht modernes Arbeiten, und das kostet unglaublich Zeit."

Manuela Sottong | Quelle: rbb/Jana Göbel

Außerdem gibt es auch woanders einen Mangel an IT-Fachleuten: Bundesweit werden derzeit 200.000 Leute gesucht. Ob Berlin da attraktiv genug ist, ist unklar, denn Berlin zahlt "nach Tabelle", wie Sabine Smentek sagt. "Ich bin mir aber darüber im Klaren, dass wir hier über Zulagen noch nachdenken müssen. Da sind wir aber noch am Anfang“, fügt die IT-Staatssekretärin hinzu.

Gehälter im Öffentlichen Dienst sollen steigen

Um wie angekündigt jedes Jahr 5.000 bis 6.000 neue Mitarbeiter zu finden, will der Berliner Senat besser bezahlen.  Bis Ende dieses Jahres sollen die Einkommen der Angestellten  auf Bundesdurchschnitt  liegen, bei den Beamten zieht es sich noch  vier Jahre hin. Doch ob das die Abwanderung der Beschäftigten stoppen kann, ist ungewiss; Die Bundesbehörden zahlen zum Beispiel zwölf Prozent mehr, und Bayern lockt mit großzügigen Einmalzahlungen.

So berichtet die Finanz-Beamtin Manuela Sottong, dass ihr Mann trotz niedrigerer Einstufung 200 Euro netto mehr auf dem Konto hat, weil er bei einer Bundesbehörde arbeitet.

Zudem fehlen qualifizierte Bewerber. Und wenn man sie denn findet, dauern die Einstellungsverfahren oft zu lange. Drei Monate sind für die Besetzungsverfahren angestrebt. Tatsächlich dauert es oft neun Monate, bis eine Stelle vergeben wird.  

Will ein Gesundheitsstadtrat zum Beispiel eine berufserfahrene Amtsärztin  einstellen, muss diese  verbeamtet werden. Und das kann dauern: Ganze 34 bürokratische Schritte sind für eine Besetzung zurückzulegen, bis die Bewerberin dann endlich loslegen kann. Senat und Bezirke müssten dringend eine Regelung finden, um dieses Verfahren zu beschleunigen.

Stellungnahme der Senatsverwaltung für Finanzen auf Anfrage des rbb:

Derzeit werden bereits ca. 2/3 aller Einkommensteuererklärungen von den Bürgerinnen und Bürgern elektronisch abgegeben. Die weiterhin auf Papier eingereichten Steuererklärungen scannt die Finanzverwaltung vor ihrer Verarbeitung und leitet sie ebenfalls der elektronischen Verarbeitung zu. Alle Einkommensteuererklärungen durchlaufen dann zunächst ein Risikomanagementsystem (RMS). Dieses System umfasst derzeit ca. 2.980 Risikoregeln und Prüfhinweise. Nach diesen Risikoregeln und Prüfhinweisen werden alle Einkommensteuererklärungen auf aus steuerlicher Sicht bestehende Risiken hin untersucht. Die Risikoregeln und Prüfhinweise zeigen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Finanzämtern die personell zu überprüfende Sachverhalte auf und werden in den risikobehafteten Fällen zur  Grundlage der weiteren Überprüfung gemacht. Dieses Verfahren wird in allen Finanzämtern des Landes Berlin angewendet. Es handelt sich um 1,1 Millionen Einkommens-Steuererklärungen.

Die Ergebnisse von Fachgeschäftsprüfungen zeigen, dass diese Prüfhinweise von den Finanzämtern sachgerecht abgearbeitet werden.

Eine "grüne Woche" mit hohen Steuerausfällen ist danach nicht möglich, da grundsätzlich mindestens eine maschinelle Risikoprüfung aller Einkommensteuerfälle erfolgt. Es hat in der jüngeren Vergangenheit eine solche Bearbeitung der Steuererklärungen auch nicht stattgefunden.

Artikel im mobilen Angebot lesen