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Quelle: dpa/Sven Simon

Interview | Kinderarzt und Stiko-Mitglied Martin Terhardt

"Für eine Herdenimmunität brauchen wir auch Kinderimpfungen"

Biontech will schon im Sommer Kindern einen Corona-Impfstoff anbieten. Doch wie realistisch ist das? Darüber und über die Rolle von Kinderimpfungen im Kampf gegen die Pandemie sprechen wir mit dem Berliner Kinderarzt und Stiko-Mitglied Martin Terhardt.

rbb|24: Herr Terhardt, Biontech hält es durchaus für möglich, dass schon ab Juni Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren geimpft werden können - und dann ab September vielleicht sogar schon Kleinkinder und Säuglinge ab sechs Monaten. Für wie realistisch halten Sie das?

Martin Terhardt: Voraussetzung dafür ist die Zulassung der Impfstoffe in Europa für diese Altersgruppe. Die liegt noch nicht vor, sondern wurde an diesem Freitag zunächst einmal beantragt. Für die 12- bis 15-Jährigen kann ich mir vorstellen, dass die Zulassung auch relativ rasch passieren kann, weil dazu schon länger Daten gesammelt worden sind und auch teilweise schon publiziert waren und jetzt wahrscheinlich in diesem Antrag an die FDA (US-amerikanische Arznei-Zulassungsbehörde, Anmerk. d. Red.) und an die europäische Zulassungsbehörde auch vorhanden sind. Die liegen uns in der Stiko aber noch nicht vor.

Wenn der Impfstoff zugelassen wird, geht es ja auch darum, dass die Stiko das empfehlen muss. Und das haben wir bis jetzt nicht getan, und das müssten wir ja auch unter unseren vorgeschriebenen Kriterien bewerten - das werden wir in den nächsten Wochen tun. Ob es schon im Juni zu Impfungen kommen kann, hängt von vielen Faktoren ab, die ich im Moment noch nicht beurteilen kann.

Zur Person

Martin Terhardt

Kinder- und Jugendmediziner in Berlin und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert Koch-Institut

Aber ist denn die Datenlage jetzt schon so belastbar, dass man schon in ein paar Monaten mit Kindern und Jugendlichen anfangen könnte?

Die Frage kann Ihnen am besten Biontech beantworten. Ich kenne nur die Daten aus den Zulassungsstudien ab 16 Jahren, und dort wurde schon darauf verwiesen, dass daran auch schon ein paar hundert Probanden von 12- bis 15-Jährigen beteiligt waren. Diese Studie ist jetzt wohl abgeschlossen, aber deren Daten kenne ich nicht. Die kennt außer der FDA noch niemand.

Diese Daten müssen bei den Jugendlichen wie bei anderen Studien auch auf Sicherheit und Wirksamkeit geprüft werden. Was wir schon gehört haben, sind die tollen Wirksamkeitsdaten. Über die Sicherheit habe ich in den Studien für die Erwachsenenimpfstoffe gelesen, dass sie vergleichbar waren mit den Erwachsenen-Daten. Aber wir müssen eben bei Kindern und Jugendlichen neu abwägen, wie das ist, weil eben die Erkrankungsrisiken bei Kindern andere sind als bei Erwachsenen. Und das muss dann zu den Sicherheitsrisiken in ein Verhältnis gesetzt werden.

Wir werden immer erst in der Anwendung die selteneren Komplikationen bemerken und brauchen da weiter eine gute Aufmerksamkeit. Aber es spricht nichts dagegen nach dem, was ich bis jetzt weiß, dass dieser Impfstoff zugelassen wird. Aber die Beurteilung macht die Europäische Zulassungsbehörde - und nicht die Stiko.

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Nur mal für unser Grundverständnis: Hat denn der Impfstoff für Kinder und Jugendliche eine andere Zusammensetzung als der Impfstoff für Erwachsene? Oder ist er einfach nur eine Kopie jener Impfstoffe, die schon jetzt verwendet werden?

Der für die 12- bis 15-Jährigen wird derselbe sein, der jetzt auch ab 16-Jährigen verabreicht wird. Für jene im Alter zwischen sechs Monaten und elf Jahren wurden sicherlich auch mit anderen Dosierungen Studien gemacht. Was dabei herausgekommen ist, weiß ich aber nicht genau. Da musste eine Anpassung diskutiert und geprüft werden, aber was da rausgekommen ist, ist noch ein Geheimnis.

Wie sieht es neben Biontech denn bei den anderen Impfstoffherstellern aus mit Vakzinen für Kinder und Jugendliche? Auf welchem Stand sind Moderna, Astrazeneca und Co.?

Moderna hinkt etwas hinterher, da laufen die Studien noch. Aber sie haben auch ähnlich großen Aufwand betrieben mit mehreren Tausend Probanden. Johnson und Johnson macht das wohl auch und Astrazeneca in kleinerem Maßstab auch, aber da weiß ich noch überhaupt nichts über Ergebnisse.

Manche Eltern mögen sich jetzt fragen, warum muss eigentlich mein Kind geimpft werden, wenn ihm doch eher milde oder auch asymptomatische Verläufe bevorstehen könnten. Was sagen Sie zu diesem Standpunkt?

Es gibt ja auf jeden Fall Kinder und Jugendliche, die auch erhöhte Risiken haben aufgrund von chronischen Erkrankungen. Für die brauchen wir zugelassene Impfstoffe, um sie individuell zu schützen. Für die anderen Kinder und Jugendlichen ist das individuelle Risiko, schwer zu erkranken, sicher geringer als für den Durchschnitt der jungen Erwachsenen oder erst recht der älteren Menschen. Aber auch dort gibt es selten auch mal schwere Verläufe, wie das bei der Influenza ja auch der Fall ist. Es gab bei Säuglingen schwere Verläufe, es gab Multi-Organ-Entzündungssyndrome bei Kindern. Und es gibt erste Daten, dass es auch Spätfolgen, also Long Covid, bei Kindern geben kann. Aber die Datenlage dazu ist bisher sehr schwach.

Sie haben eher viele infizierte Kinder, aber nur wenige kranke Kinder. Aber das Ziel es ist ja nicht nur, die individuelle Erkrankung zu verhindern, sondern auch die Herdenimmunität zu erzeugen und die Pandemie zu besiegen. Und da ist es wohl völlig eindeutig, dass wir dafür auch die Kinderimpfungen brauchen.

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Also erreichen wir die Herdenimmunität nur, wenn auch so viele Kinder und Jugendliche wie möglich geimpft werden?

Wir erleben durch die Schnelltests in Kitas und Schulen immer mehr infizierte Kinder. Das heißt nicht unbedingt, dass wir viele erkrankte Kinder sehen, aber diese infizierten Kinder tragen eben auch zur Übertragung bei. Das Ausmaß haben wir bis jetzt vielleicht ein bisschen unterschätzt. Das ist weiterhin Forschungsgegenstand, aber sie spielen sicherlich eine Rolle, und man kann nicht sagen, dass sie keine Rolle spielen. Insofern brauchen wir die Kinderimpfung in der Pandemie, und wir brauchen sie ja natürlich auch dafür, dass sie wieder in die Schule gehen können.

Geht der Zeitplan von Biontech auf, dann könnten Kinder und Jugendliche grundsätzlich nach den Sommerferien geimpft in die Schulen zurückkehren. Sollten sie also dann bei der Impfreihenfolge vorgezogen werden? Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach ist skeptisch und warnt, dafür würden die Impfstoffbestände nicht genügen. Was meinen Sie?

Das ist ein ethisches und Gerechtigkeitsproblem, das in Konflikt steht mit den großen gesellschaftlichen Verwerfungen, die durch die wenige Teilhabe der Kinder an der Bildung jetzt stattgefunden haben. Das ist also eine Entscheidung, die nicht rein medizinisch getroffen werden kann.

Die Priorisierung ist ein separates Thema, das bei den Erwachsenen schon relativ schlecht läuft und in vielen Bundesländern schon aufgeweicht worden ist. Es sind eben viele Leute auf der Strecke geblieben, die eigentlich priorisiert sind, aber immer noch nicht geimpft wurden, weil sie entweder vergessen wurden oder gar keine Möglichkeit haben, sich aus eigener Kraft einen Impftermin zu besorgen oder zum Impfen zu kommen und auch bisher noch nicht so richtig aufgesucht werden konnten zum Impfen. Wenn die weitere Priorisierung geöffnet wird, da werden wir immer noch über 70- und über 80-Jährige und chronisch Erkrankte haben, die noch nicht aus eigener Kraft dazu gekommen sind, geimpft zu werden. Und dafür müssen wir als Gesellschaft eine Lösung finden.

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Herr Lauterbach hat ja auch gesagt, er würde lieber in Brennpunkten impfen. Das ist aber auch eine schwierige Geschichte. Wie wollen wir in Brennpunkten impfen? Da müssen wir dann auch die Menschen erst einmal erreichen und auch da eine Akzeptanz finden. Und das ist ja in verschiedenen Bevölkerungsgruppen anscheinend auch sehr unterschiedlich. Also, wir müssen da unheimlich viele verschiedene Facetten bewerten, mit denen wir noch nie zu tun hatten.

Ich habe noch keine konkrete Antwort dafür, wie wir damit umgehen, dass Impfstoffe vielleicht nicht ausreichen könnten, um Kinder und Erwachsene gleichzeitig schnell genug zu impfen. Das ist ein Abwägungsprozess, den wir auch in der Ständigen Impfkommission noch vor uns haben, den wir bis jetzt nicht als Inhalt hatten, weil wir auch nicht damit gerechnet hatten, dass es jetzt so schnell geht.

Herr Terhardt, Sie praktizieren ja auch in Berlin als Kinderarzt. Nehmen wir mal an, Eltern kommen zu Ihnen in die Praxis mit ihrem Kind und wünschen sich von Ihnen einen grundsätzlichen Rat: Soll ich mein Kind impfen lassen? Ja oder nein?

Denen sage ich, wir müssen noch etwas abwarten, bis wir dazu die Studienlage kennen und Risiken und Nutzen gegeneinander abgewogen haben. Im Moment kenne ich diese Daten noch nicht. Also kann ich ihnen im Moment noch keine Antwort geben. Aus Gründen des gesellschaftlichen Nutzen wünsche ich mir aber, dass ich diese Frage mit Ja beantworten kann.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Frank Preiss / rbb|24.

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