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Quelle: DPA/Arne Dedert

Interview | Psychiater zu Dauerbelastung

"Gute Stressbewältigung können wir alle gerade sehr gut gebrauchen"

Ein gefährliches Virus, einschränkende Maßnahmen, Meinungswirrwarr in der Politik: Die Pandemie empfinden viele Menschen als dauerhaften Stress. Wichtig ist sich klarzumachen, dass man dieser Situation nicht hilflos ausgeliefert ist, sagt Psychiater Mazda Adli.

rbb|24: Wie äußert sich dauerhafter Stress?

Prof. Mazda Adli: Stress führt sowohl zu körperlichen als auch zu psychischen Reaktionen. Es gibt Stressreaktionen, die wir als stimulierend empfinden, andere hingegen als belastend. Sorgen machen müssen wir uns dann, wenn der Stress chronisch wird, er also dauerhaft auftritt und es keine Aussicht auf Entlastung gibt. Wenn wir das Gefühl haben, dieser Belastung ausgeliefert zu sein und an unserer Situation nichts verbessern zu können, setzt uns Stress besonders zu.

Sie sagen, das Gefühl zu haben nichts verbessern zu können. Wie meinen Sie das?

Das ist eine Frage der subjektiven Bewertung einer Situation. Und das ist ein Mechanismus, der fast immer gilt. Jeder von uns bewertet die Probleme, mit denen er oder sie konfrontiert ist, nach bestimmten Faktoren. Da spielt die bisherige Erfahrung mit rein und die eigene Persönlichkeit. Zum Beispiel, ob man eher von der ängstlichen Sorte ist oder risikofreudiger. Es hängt auch davon ab, wie viel Optimismus man aktivieren kann. Je nachdem bewerten Menschen also ähnliche Situationen sehr unterschiedlich.

Manch einer empfindet eine Situation als total ausweglos und fühlt sich ihr hilflos ausgeliefert. Andere werden sich stattdessen bewusst über all die Dinge, die sie tun können, um ihre Lage zu verbessern. Man spricht dann von Selbstwirksamkeitserleben. Je mehr Überzeugung ich aufbringen kann, meine Situation aus eigener Kraft verändern zu können, desto höher ist das Selbstwirksamkeitserleben und desto stärker fällt der Effekt positiv für die Psyche und die psychische Gesundheit aus.

Zur Person

Prof. Dr. Mazda Adli ist Psychiater und Stressforscher. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leitung des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, CCM, an der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

So, wie Sie das beschreiben, klingt das nach etwas, an dem man arbeiten kann.

Genau. Das ist auch ein wichtiges Ziel in vielen psychotherapeutischen Behandlungen. Bei persönlichen Krisen – etwa nach einer Trennung, in einem schwierigen Konflikt oder aber auch bei einer depressiven Erkrankung –ist das psychotherapeutische Ziel, diese Selbstwirksamkeitserfahrung zu verbessern und den Betroffenen das Gefühl zu geben, eine Wahl zu haben. Ihnen zu helfen, zu der Überzeugung zu kommen, dass sie eben nicht hilflos sind. Dass sie erkennen, wo man eine Situation dem eigenen Bedürfnis entsprechend beeinflussen kann und wie der eigene Handlungsspielraum dabei ist.

Derzeit gibt es eine Reihe von Sorgen, die Menschen haben. Die Angst vor Arbeitslosigkeit zum Beispiel, die Ungewissheit darüber, wie sich die Pandemie weiter entwickeln wird, ob Kinder in die Schule gehen können. Welche Strategien gibt es, mit dieser Stressbelastungen fertig zu werden?

Das ist richtig. Viele Menschen haben in der Pandemie das Gefühl, einer eher abstrakten Gefahr ausgeliefert zu sein. Einer Gefahr, die irgendwie schwer bezifferbar bleibt. Wir haben es täglich mit Inzidenzzahlen zu tun, R-Werten, mit komplizierten epidemiologischen Werten, die für den Einzelnen oftmals schwer zu verstehen sind. Da ist ein unsichtbares Virus und gleichzeitig eine politische Großwetterlage, die alles andere als einheitlich ist. Das macht das schwer Verstehbare für viele noch unverständlicher.

Das Thema Corona ist zudem so allgegenwärtig, dass man sich dem überhaupt nicht entziehen kann, auch wenn man sich das fest vornehmen würde; und dann ist da noch die dritte Welle, die gerade in Fahrt gekommen ist. Das alles ist ein Gemisch, das bei vielen Menschen ein Gefühl von Ausgeliefertsein hervorbringt. Ja, die Situation ist schwierig. Aber: Wir sind ihr eben nicht hilflos ausgeliefert. Ich halte es für wichtig, dass die Politik und die Medien genau das auch kommunizieren. Nämlich, dass wir nicht hilflos sind, sondern etwas gegen die Pandemie unternehmen können. Das ist wesentlich, um mit dem psychischen Stress besser umgehen zu können.

Inwiefern sind wir der Situation nicht ausgeliefert?

Erstens wissen wir, wie wir uns wirksam schützen können. Indem wir die AHA+L-Regeln einhalten. Wenn wir konsequent Masken tragen. Wenn wir die verschiedenen Hygieneregeln einhalten. Wenn wir all das befolgen, können wir uns wirksam schützen. Auch gegen die neuen Virusvarianten. Wir haben Impfungen und Selbsttests, das sind wichtige Instrumente trotz aller Schwierigkeiten, die wir da momentan erleben. Wenn wir uns klar machen, dass es all diese Mittel gibt, stützt es unser Selbstwirksamkeitserleben. Was ich mir jetzt noch von der Politik wünsche, ist eine bessere Abstimmung und Koordination in der Anwendung dieser Instrumente.

Meinen Sie damit die unterschiedlichen Regeln in den verschiedenen Bundesländern?

Das ist in der Tat ein Wirrwarr. Ich selbst musste heute schon wieder nachgucken, wie einzelne Dinge in Berlin geregelt sind. Dabei bin ich bereits jemand, der das sehr aufmerksam verfolgt. Wir kennen das vom Kochen. Wenn ein Rezept verwirrend formuliert ist, verstehen wir es nicht und am Ende kommt auch nichts Gutes dabei raus.

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Welche Strategien gibt es, um Stress zu bewältigen?

Eins ist klar: Eine gute Stressbewältigung ist etwas, das wir alle gerade sehr gut gebrauchen können. Denn die Situation, der wir ausgesetzt sind, ist eine Dauerstressbelastung. Diese Pandemie ist nicht nur eine epidemiologische Krise, sie ist auch eine psychologische. Die Menschen sind belastet. Das merke ich als Psychiater jeden Tag. Viele unserer bewährten Stressbewältigungsstrategien funktionieren momentan nicht: Sich unbeschwert mit anderen Menschen treffen, ins Theater gehen, mit anderen Menschen Sport machen, jemanden in den Arm nehmen. Vieles, das uns normalerweise hilft Stress abzubauen, geht gerade nicht. Also müssen wir schauen, was von diesen Strategien im Moment übrig bleibt und dann das Beste daraus für uns wählen.

Sie haben vor Jahren einen Chor gegründet. Singen ist für viele eine Möglichkeit Stress abzubauen, die Gemeinschaft und die Freude daran. Nun ist Singen momentan überhaupt nicht möglich, zumindest nicht in Form eines Chores und in geschlossenen Räumen. Was macht das mit Ihnen und haben Sie einen Ausgleich für sich gefunden?

Das ist ein hervorragendes Beispiel. Gemeinsames Singen ist etwas, das ich persönlich als unglaublich entlastend und entspannend empfinde und das ich leidenschaftlich gern tue. Nur ist es im Moment nicht möglich. In meinem Chor proben wir derzeit weiterhin einmal die Woche, aber eben online. Das ist zwar kein ganz gleichwertiger Ersatz, aber immerhin etwas.

Ein weiterer Tipp gegen den derzeitigen Stress: in die Kommunikation mit anderen Menschen intensivieren. Gerade weil wir uns physisch nicht in gewohnter Weise treffen können, sollten wir alle alternativen Wege der Kommunikation und des Austausches hochfahren. Telefonieren, Videochats, einen gemeinsamen Spaziergang. Wir sind soziale Wesen und menschliche Nähe ist uns ein psychologisches Grundbedürfnis. Und viele merken gerade, dass sie emotional bedürftiger sind als sonst. Deswegen sollten wir besonders jetzt mit anderen Menschen in Kontakt treten. Vielleicht auch mit denjenigen, die wir schon lange nicht mehr gesprochen haben. Allen hilft es im Moment mit anderen verbunden zu sein. Ich selbst habe wieder damit begonnen Briefe von Hand zu schreiben.

Haben Sie etwas bei sich festgestellt, was passiert, wenn Sie einen Brief schreiben? Das ist ja etwas, mit dem viele Menschen heute gar nicht mehr rechnen, einen Brief zu bekommen.

Man macht anderen Menschen eine besondere Freude, wenn man Ihnen Post schickt. Eine Karte reicht ja schon. Ich persönlich freue mich derzeit doppelt so sehr wie sonst, wenn ich einen richtigen Brief bekomme. Das wirkt wie eine kleine Medizin gegen den Isolationsstress der Pandemie.

Welche anderen Möglichkeiten sehen Sie noch, um sich von Stress zu befreien?

Jeder macht die Erfahrung, dass das Thema Corona allgegenwärtig ist. Wir verbringen jeden Tag damit, uns sehr viel Sorgen zu machen. Wenn die Infektionszahlen ansteigen, steigen mit einer zeitlichen Verzögerung auch die psychischen Belastungen: Angst zu erkranken, dass es Angehörige erwischt oder dass man nicht rechtzeitig einen Impftermin erhält, Existenzsorgen und Zukunftsängste treten auf. Gerade wenn das so Überhand nimmt, hilft es sich regelmäßig "Corona-freie" Zeiten zu verordnen. Ein paar Stunden jeden Tag, in denen man sich gedanklich mit etwas ganz anderem befasst. Sich in Musik zu vertiefen, die einen mitnimmt oder berührt; einen Film zu schauen; sich mit einem Spiel zu beschäftigen. So kann man emotional entlüften und das tut uns gut.

Was, wenn man merkt, es wird zu viel?

Wer jetzt merkt, dass die pandemiebezogene psychische Belastung zum Dauerzustand wird, aus dem man nicht rausfindet. Wenn man merkt, dass man den Kopf nicht mehr frei kriegt, dass man die ganze Zeit angespannt ist, dass man sich auch nicht mehr gut auf die Arbeit konzentrieren kann, weil einen Ängste und Sorgen plagen, die mit der Pandemie zu tun haben; wenn einen all das nicht mehr loslässt, dann kann es richtig sein, sich einem Arzt oder einem Psychotherapeuten gegenüber zu öffnen; sich professionelle Hilfe zu suchen. Und das gilt übrigens auch, wenn es Probleme in der Familie gibt. Gerade wenn Familien viel Zeit zu Hause auf begrenztem Raum miteinander verbringen, springen stressabhängige Emotionen oder Ängste leichter von einem zum anderen über. Oder Konflikte brechen aus.

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Eines wissen wir genau: Psychotherapie hilft - insbesondere wenn es darum geht, aus so einer Dauerbelastungsschleife herauszufinden. Manchmal sind es vielleicht bereits einzelne klärende Gespräche bei einem Hausarzt oder Psychiater, die ein schon krisenhaftes Feuer wieder löschen können.

Und wenn aus der seelischen Belastung eine psychische Erkrankung geworden ist, können wir Psychiater und Psychotherapeuten diese dann in der Regel auch sehr gezielt behandeln. Niemand sollte mit seinen Sorgen alleine bleiben, insbesondere im Moment. Wir erleben allerdings auch, dass der Bedarf nach Psychotherapie seit Beginn der Pandemie sehr zugenommen hat und damit die Wartezeiten auf freie Therapieplätze immer länger werden. Hier brauchen wir dringend eine Lösung.

Und dennoch: Was Soforthilfe angeht, haben wir ein gut aufgestelltes und sehr gut funktionierendes Hilfesystem, das bei psychischen Problemen bereitsteht: die Krisendienste und Sorgentelefone, die Notfalltelefone des Kinder und Jugendschutzes, die Rettungsstellen und Ersten Hilfen unserer Kliniken, die Anlaufstellen bei häuslicher Gewalt. All diese Stellen wissen, wie geholfen werden kann. Das sollte man auch nutzen.

Die Situation, in der wir jetzt sind, ist eine andere als noch vor drei Monaten. Mittlerweile stehen uns mit den Impfungen medizinische Mittel gegen das Virus zur Verfügung. Hat das bei Ihnen persönlich etwas verändert?

Dass wir die Impfstoffe haben - bei allen Schwierigkeiten - ist der wichtigste Grund Hoffnung zu haben auf ein Ende der Pandemie. Und diese Hoffnung halte ich für entscheidend. Hoffnung ist echte Währung für die Psyche. Und die können wir gerade gut gebrauchen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Beitrag von Oliver Noffke

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