rbb24
  1. rbb|24
  2. Panorama
Quelle: dpa/Jörg Carstensen

Analyse

Corona trotz Impfung: Worauf es bei Zahlen zu Impfdurchbrüchen ankommt

Infektion trotz Impfung? Seit letzter Woche machen Zahlen zu Impfdurchbrüchen die Runde und führen zu abstrusen Diskussionen. Doch im Umgang mit den Statistiken stellen sich wenige die eigentlich wichtige Frage. Von Haluka Maier-Borst

Auf der früheren 10-Mark-Note prangte das mathematische Jahrhundertgenie Carl Friedrich Gauß. Und doch sind wir kein Volk der Mathematiker:innen und Statistiker:innen. Das konnte man in den letzten Wochen wieder sehen.

Als bekannt wurde, dass sich unter Infizierten in Israel ein großer Teil an Geimpften befindet [apnews.com], war schon ein erstes Raunen zu vernehmen. Als dann noch der britische wissenschaftliche Chefberater Patrick Vallance fälschlich davon sprach, dass 60 Prozent der Krankenhauspatient:innen geimpft seien, und die Korrektur aber lediglich hieß [news.sky.com], dass 60 Prozent ungeimpft sind, war das Zahlenchaos perfekt. Denn das heißt, dass 40 Prozent der Covid-Patient:innen im Krankenhaus geimpft sind und das Wundermittel also folglich nicht wirkt.

Oder?

Corona-Pandemie

Geimpft und trotzdem positiv

Es passiert in Berlin nur selten, dass sich Menschen, die durchgeimpft sind, mit Corona infizieren. 150 Fälle wurden bisher registriert - das zeigen Zahlen, die dem rbb exklusiv vorliegen. Eine der Betroffenen ist die Krankenschwester Marion Haase. Von Sylvia Tiegs und Sabine Müller

Man sollte erstmal mit einer Frage beginnen

Statt gleich eine Meinung dazu zu haben, wie gut oder schlecht die Impfungen nun wirken, schlägt Christoph Rothe, Professor für Statistik an der Universität Mannheim, vor, sich eine einfache Frage zu stellen:

"Was haben Sie erwartet?"

Die einfache Antwort wäre: keine Geimpften im Krankenhaus. Nur das läuft an der Realität vorbei. Die Impfungen mindern wohl um deutlich über 90 Prozent das Risiko einer Einweisung ins Krankenhaus. Aber eben nicht vollends. Und das heißt überspitzt gesagt, wenn wirklich alle, also 100 Prozent geimpft wären, gäbe es immer noch Fälle, die im Krankenhaus landen. Und dann wären sogar 100 Prozent der Fälle im Krankenhaus geimpft. Nur die Zahl der Patient:innen wäre eben viel niedriger und auch für jeden einzelnen wäre das Risiko viel niedriger, was man an diesen zwei Grafiken sehen kann.

Corona-Pandemie

Geimpft und trotzdem positiv

Es passiert in Berlin nur selten, dass sich Menschen, die durchgeimpft sind, mit Corona infizieren. 150 Fälle wurden bisher registriert - das zeigen Zahlen, die dem rbb exklusiv vorliegen. Eine der Betroffenen ist die Krankenschwester Marion Haase. Von Sylvia Tiegs und Sabine Müller

Dank Impfungen fällt das Risiko für 70-Jährige auf das Niveau von 20-Jährigen

Die erste Grafik zeigt: Das Risiko auf einen Krankenhausaufenthalt nach einer Covid-19-Infektion steigt exponentiell mit dem Alter. Etwas, das britische Studien gezeigt haben [bmj.com] und vergleichbar ist mit dem, was die Sterblichkeit nach Alter angeht [springer.com].

Die zweite Grafik zeigt, was passiert, wenn man davon ausgeht, dass sich bei allen Altersgruppen durch die Impfung das Risiko um 90 Prozent minimiert. Oder anders gesagt: 10 Prozent der Krankenhausaufenthalte kann auch die Impfung nicht verhindern. Gerechnet wären das für die 70- bis 79-Jährigen also:

16,9% X 10%=1,69%.

Sprich: Geimpfte 70- bis 79-Jährige, die sich infizieren, hätten in diesem idealisierten Beispiel in etwa die gleiche Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus zu landen wie jemand im Alter von 20-29 Jahren, der sich ansteckt.

Sollte dann nicht aber das Verhältnis zwischen geimpften und ungeimpften Krankenhausfällen zumindest 90 zu 10 Prozent betragen? Nein, denn das bezieht nicht mit ein, welcher Anteil an Menschen geimpft ist und welcher nicht. Aber auch dafür gibt es Daten aus England.

10 Prozent der Gefährdeten verursachen 60 Prozent aller Krankenhausaufenthalte

Weit über 90 Prozent der Über-50-Jährigen sind bereits durchgeimpft, also jene Gruppe mit dem höchsten Risiko ins Krankenhaus zu müssen, wenn sie erstmal erkranken. Nimmt man nun als eine weitere grobe Vereinfachung an, dass nur die Gruppe der Über-50-Jährigen im Krankenhaus landen kann und geht von dem hypothetischen Fall aus, dass die Impfungen wirklich wertlos wären, müsste das Verhältnis im Krankenhaus 90 zu 10 betragen. Und eben nicht 40 zu 60.

"In diesem Rechenbeispiel hieße das, dass weniger als 10 Prozent der Menschen, nämlich die Ungeimpften über 50 Jahre alten, für 60 Prozent der Krankenhausfälle sorgen und die anderen mehr als 90 Prozent, also die geimpften Ü50-er, für gerade einmal 40 Prozent", sagt Rothe.

Man kann sich die aktuellen Zahlen und den Zusammenhang auch noch einmal anders verbildlichen. Angenommen, es gebe 1.000 Menschen in der Risikogruppe, die sich anstecken. Angenommen von diesen 1000 sind 900 geimpft und 100 nicht und es würde 40 Leute geben, die ins Krankenhaus müssten, von denen 24 ungeimpft und 16 geimpft wären. Dann würde die Hospitalisierungsrate bei den geimpften 1,8 Prozent betragen und bei den ungeimpften Menschen 24 Prozent. Das wäre relativ genau die Wirksamkeit, die sich in Studien zeigt. Ein ähnliches Beispiel hat auch der britische Datenjournalist John-Burn Murdoch von der Financial Times vorgerechnet [twitter.com].

Die Zahl der Impfdurchbrüche ist ziemlich genau das, was zu erwarten war

Der Immunologe Carsten Watzl vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund sagt: "Die Datenlage zu den Fällen in Krankenhäusern in Großbritannien deckt sich ganz gut mit dem, was man basierend auf den Impfstoffstudien und den Studien zur Hospitalisierungsrate erwarten würde."

Und auch was die Totenzahlen angehe, sei die aktuelle Situation in Großbritannien ziemlich genau das, was sich bereits zuvor abzeichnete. Der Anteil der Geimpften unter den Verstorbenen ist hoch, aber eben nicht, weil die Impfung nicht wirkt. Sondern weil vor allem alte Menschen an Covid sterben und es fast nur Geimpfte unter den Alten gibt und die ungeimpften Jungen meist Covid überleben.

Wichtig sei, dass insgesamt aber die Zahl der Toten mit dem Fortschreiten der Impfungen massiv zurückgeht.

Gleichwohl warnt Watzl aber auch, die Zahl der aktuellen Impfdurchbrüche einfach nur ins Verhältnis zu den aktuell Geimpften zu setzen, so wie auch rbb|24 es gemacht hat. Dies unterschätze tendenziell die Quote der Impfdurchbrüche. Zum einen, weil wohl leicht verlaufende Impfdurchbrüche wohl oft nicht gemeldet würden. Und zum anderen sei der Zeitraum seit der Impfung viel zu kurz, um etwas über die Wirksamkeit zu sagen.

Oder anders gesagt: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass jemand, der erst seit wenigen Wochen zu den Geimpften zählt, schon genügend Situationen hatte, in denen er sich schon hätte anstecken können. Auch Rothe gibt zu bedenken, dass es mit den allgemein verfügbaren Zahlen schwierig sei, bei einer zum Glück so rapide wachsenden Anzahl an Geimpften eine solide Aussage zur Quote der Impfdurchbrüche zu treffen.

Der Winter wird hart, aber eben bei Weitem nicht so hart wie der letzte

Was sich abermals an der aktuellen Debatte um Impfdurchbrüche zeigt, ist indes wohl auch, dass es vielen schwer fällt, in Wahrscheinlichkeiten zu denken. "Die Zahl der 40 Prozent geimpften Covid-Patienten im Krankenhaus ist ja nicht falsch - das Problem ist ihre richtige Einordnung. Mit diesem Thema tun sich aber selbst mathematisch begabte Menschen oft schwer, weil es wohl weniger intuitiv ist", sagt der Statistiker Rothe.

Watzl sieht ebenfalls ein Problem darin, dass versucht wird, aus Zahlen glasklare Wahrheiten abzulesen anstatt sie differenziert zu betrachten. So würden auch bei der Herdenimmunität zum Beispiel viele Menschen nur schwarz und weiß sehen. "Viele denken, wenn wir die nicht erreichen, ist alles verloren. Aber dem ist ja nicht so. Im Gegenteil, wahrscheinlich können wir dank der guten Impfquote mit deutlich weniger Maßnahmen durch den Winter kommen als letztes Jahr – obwohl die Delta-Variante ansteckender ist", sagt er.

Ein wenig mehr Mathematikverständnis könnte also durchaus Hoffnung machen.

Beitrag von Haluka Maier-Borst

Artikel im mobilen Angebot lesen