rbb24
  1. rbb|24
  2. Politik
Quelle: rbb

Einblick ins Behördenzeugnis des Attentäters

Anis Amri - eine Geschichte verpasster Möglichkeiten

Anis Amri hat unendliches Leid über viele Menschen gebracht. Sie werden sich wohl den Rest ihres Lebens fragen: Warum konnten die Sicherheitsbehörden den Attentäter nicht aufhalten? rbb-Recherchen liefern jetzt erstmals Einblicke in verschlossene Akten. Von Sascha Adamek, Jo Goll und Susanne Katharina Opalka

Anis Amri, der wütende junge Mann aus Tunesien, hat zwölf Menschen das Leben genommen und 67 weitere teils schwer verletzt. Das ist die schreckliche Bilanz einer gezielten Fahrt durch eine Gruppe von Menschen, die in Vorfreude auf das Weihnachtsfest Glühwein-trinkend und Bratwurst-essend den Tag ausklingen lassen will. Und dann dem Tod ins Auge sieht.

Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, hatten die Sicherheitsbehörden Anis Amri zwar schon frühzeitig auf dem Radar. Konkrete Hinweise auf eine Anschlagsvorbereitung in der zweiten Jahreshälfte 2016 lagen Polizei oder Verfassungsschutz aber nicht vor, heißt es. Im Nachhinein sei man immer schlauer. Aus damaliger Sicht betrachtet hätten die Behörden korrekt gehandelt und müssten sich keine Vorwürfe machen.

Mehr zum Thema

Interne Polizeidokumente

Anis Amri war eng mit Islamisten-Netzwerken verbunden

Der Attentäter vom Breitscheidplatz galt als "enge Kontaktperson" von Mitgliedern einer deutschen IS-Gruppe. Das belegen interne Polizeidokumente, die dem rbb vorliegen. Bislang hieß es vom Verfassungsschutz, bei Anis Amri handele es sich um einen "radikalisierten" Einzeltäter. Von S. Adamek, J. Goll und S.-K. Opalka

Schlamperei, Behördenchaos - oder ein anderes Motiv?

Reporter des rbb und der Berliner Morgenpost haben unzählige Dokumente zum Fall Amri durchgesehen. Die Lektüre der Gesprächsprotokolle, der Vermerke und Gefährderbewertungen sowie des internen E-Mail-Verkehrs wirft Fragen auf: Hätten die Sicherheitsbehörden den Anschlag nicht doch verhindern können – ja sogar müssen? Es offenbaren sich Versäumnisse, die auf den ersten Blick eigentlich nur mit Schlamperei, Behördenchaos oder einer Bräsigkeit deutscher Beamter erklärbar sind.

Warum durfte der Tunesier immer weiter machen, obwohl längst klar war, dass er ein betrügender, hochmobiler und krimineller junger Mann war, der sich in einem gewaltbereiten islamistischen Umfeld bewegte. Warum sind weder Ausländer- noch Sicherheitsbehörden eingeschritten? 

"Beabsichtigt, sich Schnellfeuergewehre zu beschaffen"

Die Dokumente zeigen: Amri hantierte mit 14 Alias-Namen und Identitäten. Frühzeitig wussten die Landeskriminalämter in Düsseldorf und Berlin über die Verwendung von Alias-Namen Bescheid. Bis weit in den Herbst 2016 sprechen Sachbearbeiter der zuständigen Ausländerbehörden in ihrer Behördenkommunikation unter anderem über einen Anis Amir oder einen Ahmed Almasri. In der deutschen Bürokratie kursieren verschiedene Geburtsdaten und Herkunftsländer.

Und das, obwohl der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, bereits Ende Januar 2016 den Landeskriminalämtern Berlin und Düsseldorf, dem Bundeskriminalamt sowie den Landesämtern für Verfassungsschutz Berlin und Nordrhein-Westfalen mitteilt, dass brisante Hinweise zu Amri vorliegen: etwa, dass er sich unter verschiedenen "Identitäten hauptsächlich in Berlin (Moabit, Weißensee, Charlottenburg und Spandau) und sporadisch in Hildesheim, Oberhausen, Duisburg, Emmerich und Freiburg" aufhalte.

Aus dem sogenannten Behördenzeugnis, das Maaßen persönlich unterzeichnet hat und das dem rbb vorliegt, geht hervor, dass Amri offensiv versuche "Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen." Er beabsichtige, "sich mit Schnellfeuergewehren des Typs AK 47 zu bewaffnen, die er über Kontaktpersonen in der französischen Islamistenszene beschaffen könne."

Amri soll Einbruch geplant haben, um an Geld zu kommen

Nach Recherchen des rbb stammten diese Erkenntnisse aus Ermittlungen des LKA Nordrhein-Westfalen. In den zweiten Teil des Behördenzeugnisses flossen überdies Erkenntnisse des Berliner LKA aus einem Ermittlungsverfahren namens "Eisbär" ein. Danach plante Amri einen Einbruchdiebstahl, um Geldmittel für die Anschlagsvorbereitung zu beschaffen.

Das LKA Nordrhein-Westfalen war bereits im November 2015 bei Ermittlungen gegen das Netzwerk des radikalislamistischen Predigers Abu Walla auf den späteren Attentäter gestoßen, ohne zu diesem Zeitpunkt zu wissen, wer genau er ist. Anis Amri bewegte sich im Umfeld von Abu Walaa.

Über Monate erhielten die Ermittler in Düsseldorf wertvolle Informationen über eine sogenannte "Vertrauensperson" in diesem hoch konspirativ agierenden islamistischen Zirkel - auch Anis Amri plauderte häufig mit der mühevoll eingeschleusten "Vertrauensperson 01" des Staatsschutzes NRW. Ihm vertraute der Tunesier schon im November 2015 an, dass er "problemlos eine Kalaschnikow" besorgen könne und dass er "unbedingt für seinen Glauben kämpfen" wolle.

Amris Behördenzeugnis vom Bundesamt für Verfassungsschutz

Quelle: rbb
Quelle: rbb

"Keinerlei offene Maßnahmen gegen Amri"

Während dieser Ermittlungen gegen Abu Walaa wurde Amri vom LKA Nordrhein-Westfalen als sogenannter "Nachrichtenmittler" geführt. Er ist kein V-Mann, leitet seine Erkenntnisse nicht direkt an die Sicherheitsbehörden weiter. Aber als Vertrauter redet er ausgiebig mit der VP-01. Vieles was Amri weiß, wissen somit auch die Behörden – was ihn für die Ermittler wertvoll macht.

Bestehen die Beamten im LKA Düsseldorf noch im Mai 2016 deshalb darauf, dass gegen den als Gefährder, "Funktionstyp Akteur" eingestuften Amri "keinerlei offene Maßnahmen erfolgen"? Sogenannte Verbleibskontrollen sollten ebenfalls nur in Absprache mit dem LKA NRW, EK Ventum, durchgeführt werden.

EK Ventum steht für ein groß angelegtes Ermittlungsverfahren gegen die radikal-islamistische Zelle des am Ende verhafteten Predigers Abu Walaa, der über Jahre junge Leute als Kämpfer des IS für die Kriegsschauplätze in Syrien und dem Irak angeworben haben soll. Der aus dem Irak stammende Salafisten-Prediger steht im Verdacht, die Nummer 1 des Islamischen Staats in Deutschland zu sein. Diese Ermittlungen wurden sehr erfolgreich im November 2016 mit den Verhaftungen abgeschlossen.

Mehr zum Thema

Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt

Türkische Polizei nimmt drei mutmaßliche Amri-Komplizen fest

Noch immer ist nicht eindeutig geklärt, ob der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz Hintermänner hatte. Nun hat die türkische Polizei drei mutmaßliche Komplizen von Anis Amri festgenommen. Sie sollen deutsche Staatsbürger mit libanesischen Wurzeln sein.

Amri darf betrügen, prügeln, dealen - alles ohne Konsequenzen

Hielten die Behörden über ihren Nachrichtenmittler ihre schützende Hand? "Nein, er war nur eine Randfigur", heißt es dazu in Sicherheitskreisen im Rückblick. Außerdem lassen Amris Kontakte zum Netzwerk um Abu Walaa im Spätsommer nach – aus Sicht des LKA Nordrhein-Westfalen. Was in Berlin geschah, wusste keine Sicherheitsbehörde, denn dort hatte man die Observation bereits am 15. Juni 2016 eingestellt.

Zurück zum Jahreswechsel 2015/16. Fakt ist, dass das LKA Nordrhein-Westfalen Amri frühzeitig stark in den Fokus nimmt. Sein Telefon wird abgehört, ein mehr oder weniger lückenloses Bewegungsprofil über den hochmobilen Tunesier angelegt. Über Monate verfolgen die Beamten des LKA NRW Amri. Sie schauen zu, wie er im Frühjahr 2016 in Essen, Dortmund und Oberhausen verschiedene Moscheen besucht, auch die, die vom Netzwerk um Abu Wallaa frequentiert werden. Sie bekommen mit, wie Amri in unterschiedlichen Städten im Ruhrgebiet Sozialhilfe bezieht.

Amri ist unter dauernder Beobachtung. Und stellt unter der Beobachtung von Ermittlern so ziemlich alles an, was deutsche Gesetze nicht zulassen: Fahrraddiebstahl, Sozialbetrug, Körperverletzung. Monate lang beschäftigte der Tunesier unter seinen zig Alias-Namen zwischen Dortmund, Oberhausen, Hildesheim und Berlin so manche Polizeidienststelle, Staatsanwälte, Sachbearbeiter in den Ausländerbehörden. Doch etwa ein Dutzend Ermittlungsverfahren enden für den inzwischen rechtsgültig abgelehnten Asylbewerber immer gleich: Anis Amri bleibt auf freiem Fuß, darf betrügen, prügeln, mit Drogen handeln - alles ohne Konsequenzen.

Das LKA überwacht Amri seit Februar 2016

Als Amri seinen Lebensmittelpunkt ab Februar 2016 immer stärker nach Berlin verlegt, sind nun auch die Ermittler an der Spree auf seinen Fersen. Bei seiner Ankunft aus Dortmund am Zentralen Busbahnhof in Berlin-Charlottenburg wird Amri von Beamten des Berliner LKA in Empfang genommen. Er wird erkennungsdienstlich behandelt, ein gestohlenes Handy stellen die Ermittler sicher und werten es aus. Zum Ärger der Kollegen in NRW: "Entgegen der Absprachen wurde AMRI durch Kräfte des LKA Berlin am ZOB Berlin offen kontrolliert", heißt es in internen Polizeiprotokollen.

Doch als man Amri daraufhin wieder entlässt, sind die LKA-Ermittler fortan an ihm dran – sie überwachen sein Telefon, observieren ihn engmaschig. Sein richtiger Name, seine Identität ist ihnen bekannt.

Mehr zum Thema

Ermittlungsfehler sollen analysiert werden

Berlin setzt nach Anschlag Sonderbeauftragten ein

Im Umgang mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz haben die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht - vor und nach dem Anschlag. Damit ihre Arbeit verbessert werden kann, will Innensenator Geisel einen Sonderbeauftragten einsetzen.

Treffpunkt Fussilet-Moschee

Amris erster Gang führt ihn in die Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit. Längst gilt diese Moschee Ermittlern als Treffpunkt radikaler Islamisten, bis zu zehn islamistische Gefährder verkehren dort. Hier fühlt sich Amri wohl, bis zum Tag des Anschlags hält er sich immer wieder in der Fussilet-Moschee auf. Nach Informationen des rbb nächtigt er auch mehrmals in den Räumlichkeiten des Moscheevereins.

Im Polizeirevier gegenüber hat das Berliner LKA eine Kamera angebracht – so können die Beamten beobachten, wer dort rein und wieder rausgeht. Gegen fünf Vorstandsmitglieder und Aktivisten des Moscheevereins laufen Strafverfahren wegen Terrorverdachts. Sie sollen junge Leute radikalisiert und in den "Heiligen Krieg" nach Syrien sowie in den Irak geschleust haben. Zudem sollen sie Geld für militärisches Gerät wie Nachtsichtgeräte und Zielfernrohre gesammelt haben. Einer der Angeklagten wird sogar verdächtigt, ein Märtyrervideo produziert zu haben, wie sie im Zusammenhang mit Selbstmordattentaten auftauchen.

Sollte Amri ein Wegweiser in Berlins radikale Islamisten-Szene sein?

Und trotzdem kommen die Berliner Ermittler bald zu dem Schluss: Amri gehört nicht in diese Szene, er ist kein wirklich gefährlicher Islamist. Vielmehr sei er ein kleinkrimineller Drogendealer, der mitunter Alkohol trinkt und am Ramadan kein Interesse zeigt. Seine vielfach geäußerten Absichten, "Ungläubige töten zu wollen" scheinen plötzlich vom Radar der Ermittler verschwunden. Und deshalb bricht man Mitte Juni 2016 die Observation ab, hört nur noch sein Telefon ab. Und dann verliert man ihn irgendwie aus den Augen.

Soweit die offizielle Theorie, die von den Sicherheitsbehörden nach außen kommuniziert wird. Amri – der radikale Einzeltäter. So auch die jüngste Aussage des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Wer die Akten liest und zu bewerten versucht, kann dieser These nur schwerlich folgen. Was ist geworden aus dem "Nachrichtenmittler" Amri, der im Ermittlungsverfahren Ventum (Abu Walaa) durchaus eine Rolle spielte? Könnte es nicht sein, dass die Ermittler nach dem erfolgreichen Schlag gegen das Netzwerk von Walaa, dem "Prediger ohne Gesicht", Geschmack  gefunden hatten an einem, der hilfreich sein kann, wenn es darum geht, Islamisten-Zellen trocken zu legen? Hätte Amri auch als Wegweiser in die radikale Islamistenszene der Hauptstadt dienen können?

LKA Nordrhein-Westfalen: "Hochgefährliche Person"

Mit deutlichen Worten hatte der nordrhein-westfälische LKA-Direktor Uwe Jacob die Einstellung der Observation des Attentäters Anis Amri durch die Berliner Polizei im Juni 2016 kritisiert: "Nur weil Amri Kleinkrimineller war und Drogendelikte beging zu denken, er sei nicht gefährlich, das halte ich für einen großen Fehler!"



Solange das LKA NRW zuständig gewesen sei, habe man die Einschätzung gehabt, dass es sich bei Amri um eine "hochgefährliche" Person gehandelt habe, die man zügig von der Straße bekommen müsse, entweder in Abschiebe- oder in Strafhaft, so der LKA-Direktor. Jacob berichtete auch von dem Tag nach dem Attentat, als Amri noch nicht als Täter gesucht wurde. Als er seine Beamten nach ihrer Einschätzung gefragt habe hätten diese geantwortet: "Hoffentlich war es nicht der Amri, an dem wir so lange dran waren."

Bislang keine Mehrheit für Untersuchungsausschuss

Das alles sind Fragen für einen Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus. Für den findet sich bislang aber keine Mehrheit, denn ihn fordern nur FDP und AfD. So kommt es, dass die entscheidenden Fragen zu einem Attentat in Berlin nun nur in Düsseldorf am Rhein behandelt werden und zwar im Amri-Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags. Der wird in der kommenden Woche mehrfach tagen.

Dann werden Innenminister Jäger, NRW-Verfassungsschutzchef Freier und auch Bundesinnenminister de Maizière am Rhein wieder brisante Fragen gestellt. Auch die geheim tagende Taskforce  im Parlamentarischen Kontrollgremium des Deutschen Bundestages soll in dieser Woche Antworten auf die wichtigsten Fragen liefern.

Antworten erwarten auch diejenigen, die einen geliebten Menschen verloren haben.

Sendung: Inforadio | 26.03.2017 | 08.00 Uhr

Beitrag von Sascha Adamek, Jo Goll, Susanne Katharina Opalka

Artikel im mobilen Angebot lesen