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Video: Abendschau | 25.01.2018 | Norbert Siegmund, Jo Goll | Quelle: dpa/Jens Kalaene

Kommissariatsleiter schrieb Überlastungsanzeige

Berliner Anti-Terror-Fahnder schon 2015 überlastet

Die Anti-Terror-Fahnder des Berliner Landeskriminalamtes waren bereits vor dem Anschlag am Breitscheidplatz völlig überlastet. Das zeigen behördeninterne Dokumente, die dem rbb und der "Berliner Morgenpost" vorliegen. Wichtige Ermittlungen blieben offenbar liegen. Von Jo Goll, Susanne Opalka und Norbert Siegmund

Anfang Oktober 2015 wächst der Druck. Kommissariatsleiter C. setzt sich an den Schreibtisch und bringt seinen Kummer zu Papier.  Er und seine im Berliner Landeskriminalamt für Islamismus zuständigen Kollegen sind völlig überfordert und können ihre Arbeit kaum noch bewältigen. Der Grund ist banal: Das Kommissariat 541 ist personell völlig unterbesetzt. Aufwändige Ermittlungen in der Islamisten-Szene bleiben vielfach liegen.

Genau damit fühlt sich Kommissariatsleiter C. offenbar nicht mehr wohl. Punkt für Punkt listet er in einer sogenannten Überlastungsanzeige detailliert auf, mit welch komplexen Fällen er und seine Kollegen befasst sind. Die Liste liegt dem rbb und der "Berliner Morgenpost" vor.  Sie umfasst mehrere Verfahren nach dem berüchtigten §89a STGB: Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat - Ermittlungen, die eigentlich keinen Aufschub dulden.

"Zeitnahe Bearbeitung nicht mehr möglich"

In seinem Fazit kommt der Kommissariatsleiter - über ein Jahr vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 - zu dem Schluss: "Vor dem Hintergrund der derzeitigen Personalsituation ist festzuhalten, dass eine zeitnahe Bearbeitung der Vorgänge mit den zur Verfügung stehenden Dienstkräften im Rahmen der regulären Dienstzeit bis auf weiteres nicht mehr möglich ist."

Wegen fehlender Mitarbeiter, schreibt C. weiter, könne "Qualität und Tiefe von Ermittlungsmaßnahmen nicht in allen Fällen dem Optimum entsprechen". Es ist ein klarer Hilferuf, der am Ende des Schreibens nochmal zusammengefasst wird: "Im Ergebnis der dargestellten Situation ist festzustellen, dass eine sachgerechte Bearbeitung der hier anhängigen Vorgänge nicht mehr gewährt werden kann."

Im Original

Dokument vom 12.10.2015

Überlastungsanzeige LKA 541

Polizei bestätigt Überlastungsanzeige

Auf Anfrage des rbb hat die Berliner Polizei die Existenz dieser Überlastungsanzeige [PDF-Download] bestätigt. Frühzeitig sei sie an die Staatsschutzchefin Jutta Porzucek weitergeleitet worden. Kurz vor dem Anschlag habe auch LKA-Chef Christian Steiof von dem Vorgang Kenntnis erlangt, nicht aber Polizeipräsident Klaus Kandt.

Die Überlastungsanzeige sowie vergleichbare Personalanforderungen anderer Dezernate hätten zu einer "systematischen Erhebung zur Arbeitsbelastung und Personalausstattung innerhalb des gesamten LKA 5" geführt, versichert Polizei-Sprecher Winfrid Wenzel. Nach den Terroranschlägen auf Mitarbeiter der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris seien im Dezernat zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus sieben zusätzliche Dienstkräfte eingesetzt worden.

Die Überlastungsanzeige beziehe sich insofern auf einen Dienstbereich, "der im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten bereits Ziel personeller Verstärkungen gewesen ist".

Das LKA 5 ist die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts,  das Kommissariat 541 ist Teil des Dezernats 54 (politisch motivierte Ausländerkriminalität / Islamismus)

Quelle: dpa/ Simone Kuhlmey

Nach Anschlag blieben Ermittlungen gegen andere Gefährder liegen

Doch diese personellen Verstärkungen blieben offenbar ohne große Wirkung. Denn auch nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz scheinen die Personalnöte der Anti-Terror-Fahnder im Berliner Landeskriminalamt groß gewesen zu sein. Ein der Berliner Morgenpost und dem rbb vorliegender Vermerk zur "Arbeitsbelastung des LKA 54" zeigt, dass die Beamten in den mit Islamismus befassten Kommissariaten in den ersten Wochen nach dem Anschlag fast ausschließlich mit kritischen Fragen zu Versäumnissen und Fehleinschätzungen im Fall Amri befasst waren.

Die Ermittlungen und Beobachtungen anderer potenzieller Terroristen blieben dagegen liegen. In Bezug auf eines der Anti-Terror-Kommissariate (LKA 544) heißt es wörtlich: "Eine operative Bearbeitung der Gefährder, für die 544 zuständig ist, erfolgt momentan nicht."

GdP: Behörde hätte Senator informieren müssen

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte auf Anfrage des rbb und der Berliner Morgenpost, dass die zuständigen Führungskräfte die Mitarbeiter allein gelassen hätten. "Die Überlastungsanzeige war ein ultimativer Hilferuf. Die Verantwortlichen hätten darauf reagieren und zeitnah Personal abordnen müssen", sagte der Berliner GdP-Sprecher Benjamin Jendro. Die Vorgesetzten hätten für die Personalprobleme eine Lösung finden oder die nächst höhere Hierarchieebene informieren müssen.

"Im Zweifel hätte das bis zum Innensenator gehen müssen", sagte Jendro. Nach Auskunft der Polizei und der Innenverwaltung ist eine solche Information nicht erfolgt. Die Personalnot sei auch in anderen Dienststellen groß gewesen, sagte Jendro. "Gerade bei der Terror-Bekämpfung darf die Polizeiführung aber nicht die Hände in den Schoß legen und hoffen, dass alles gut geht. Das hat der Anschlag vom Breitscheidplatz leider deutlich gezeigt."

Staatsrechtler: Verletzung von Dienstpflichten nicht ausgeschlossen

Dieser Haltung schließt sich auch der Staatsrechtler Joachim Wieland von der Universität Speyer an. "Der Behördenleiter  - der Polizeipräsident - muss in solch heiklen Sicherheitsbereichen zwingend über die  Personalsituation in den einzelnen Kommissariaten informiert sein, um diese Missstände dann an die nächsthöhere Etage weitergeben zu können", sagte Wieland dem rbb.

Werde der Behördenleiter über derartige Personalnöte nicht informiert, müsse man von schweren strukturellen Problemen innerhalb der Behörde ausgehen. Möglicherweise liege hier eine Verletzung von Dienstpflichten seitens des Behördenleiters vor, fasst Wieland den Vorgang zusammen.

Polizeipräsident Klaus Kandt und LKA-Chef Christian Steiof müssen wegen der weitgehenden Untätigkeit nach der Überlastungsanzeige mit unangenehmen Fragen rechnen. Innenpolitiker der Oppositions- und Regierungsfraktionen kündigten bereits an, Kandt und Steiof dazu im laufenden Untersuchungsausschuss befragen zu wollen.

Beitrag von Jo Goll, Susanne Opalka und Norbert Siegmund

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