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Audio: rbb24 Inforadio | 08.08.2022 | Vanessa Schlesier & Jessica Wiener | Quelle: dpa/J. Carstensen

Interview | Kabul Luftbrücke

"Nach einem Jahr liegen die Nerven blank"

Zehntausende Menschen wollen aus Afghanistan fliehen. Die NGO Kabul Luftbrücke hilft - auch ein Jahr nach der offiziellen deutschen Rettungsaktion. Viele von ihnen seien ausgebrannt, sagt Gründerin Theresa Breuer. Sie fordert mehr Hilfe vom Bund.

rbb|24: Frau Breuer, Sie sind seit vergangenem August mit der Organisation Kabul Luftbrücke damit beschäftigt, Menschen aus Afghanistan zu evakuieren. Wie viele Menschen haben Sie im vergangenen Jahr rausgeholt?

Theresa Breuer: Wir haben mehr als 2.500 Menschen bei der Evakuierung unterstützen können. Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben aktuell 20.000 Fälle in unserer Datenbank, die sich als gefährdet registriert haben und die überprüft werden müssen. Darunter sind sicherlich Menschen, die dringend außer Landes kommen müssen.

Die Bundesregierung hat knapp 5.000 afghanischen Ortskräften, die bei der Bundeswehr und für deutsche Ministerien gearbeitet haben, eine Aufnahmezusage gegeben, die auch für deren engste Familienmitglieder gilt. Wie viele dieser Menschen konnten Afghanistan noch nicht verlassen, obwohl sie auf der Liste der Bundesregierung stehen?

Das sind aktuell nach Angaben des Auswärtigen Amtes noch knapp 10.000 Menschen. Insgesamt waren es etwas mehr als 30.000 - ein Drittel wartet also noch auf die Evakuierung.

Zur Person

Woran liegt es, dass das so langsam geht?

Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Menschen nicht direkt nach Deutschland evakuiert werden können, sondern immer über einen Nachbarstaat herausgebracht werden müssen. Und wenn ihnen dann zum Beispiel Pässe oder Visa für Iran oder Pakistan fehlen, ist es sehr schwierig, die Leute außer Landes zu bringen.

Sowohl die Bundesregierung als auch wir möchten ungern Menschen ohne ihre Familien rausbringen. Wenn zum Beispiel eine Ehefrau oder eine Tochter keinen Reisepass hat, der Hauptgefährdete aber schon, versuchen wir zumindest zuerst Dokumente für die gesamte Familie zu besorgen.

Sie haben Teams vor Ort in Afghanistan, das für Evakuierungen zuständig ist. Was ist dessen Aufgabe?

Ganz konkret kann ich mich zu operativen Details nicht äußern, um diese Teams nicht in Gefahr zu bringen. Sie kümmern sich um alle Belange, zum Beispiel eben auch Dokumente, aber auch um Transport, um Unterkunft und Verpflegung. Also alles, was man salopp gesagt braucht, wenn man sich auf eine Reise begibt.

Die Teams bestehen aus afghanischen Mitarbeiter:innen, alles andere wäre viel zu auffällig und viel zu gefährlich, denn erste Priorität ist es, die Menschen zu schützen. Und das heißt, dass wir für so wenig Aufmerksamkeit wie möglich sorgen.

Ist die Arbeit in Afghanistan gefährlich für Ihre Mitarbeiter?

Wir testen die Grenzen nicht aus. Es ist nicht illegal, was wir tun, auch unter den Taliban, aber es ist natürlich nicht erwünscht. Niemand möchte sehen, dass die Menschen vor einem Regime fliehen. Deshalb versuchen wir, das Ganze unterm Radar zu machen, und das gelingt uns bisher auch ganz gut.

Geflüchtet aus Afghanistan

"Das hätte anders laufen müssen"

Als die Taliban vor einem Jahr die Macht übernahmen, flüchtete Sayed aus Afghanistan nach Berlin – auf eigene Faust. Denn von der Bundesregierung erhielt der ehemalige Dolmetscher der Bundeswehr damals nicht die nötige Unterstützung. Thomas Rautenberg  

Sind Sie oder Ihre Mitarbeiter:innen schon mal in Konflikt geraten mit dem Taliban-Regime? Gab es Konfrontationen?

Ja, die gab es immer mal wieder. Vor allem der Landweg nach Pakistan war immer sehr unwägbar, da ist es schon dazu gekommen, dass die Taliban Ausreisende oder Passagiere mit Kabeln geschlagen, in die Luft gefeuert und Menschen sehr, sehr verängstigt haben. Man darf nicht vergessen: Man ist mit einem Hardliner-Regime konfrontiert, und dementsprechend verhalten sich die regimetreuen Menschen an den Checkpoints auch.

Kabul Luftbrücke

Hatten Sie Fälle, in denen Menschen, die evakuiert werden sollten, bereits verhaftet waren?

Ja, das passiert immer wieder. Eine der größten Auseinandersetzungen, die wir derzeit austragen, ist die Tatsache, dass die neuen Aufnahmezusagen und die Bewertung der akuten Gefährdungssituation von der Bundesregierung nicht schnell genug vorgenommen werden.

Das führt dazu, dass Menschen zurückgelassen wurden, die eine Verbindung zu deutschen Institutionen oder deutschen Behörden hatten – und manche wurden in der Zwischenzeit verhaftet. Teilweise sind sie wieder freigekommen, teilweise verschwunden, teilweise weisen sie deutliche Spuren von Folter auf.

Was können Sie in solchen Fällen tun?

Die traurige Antwort ist, dass wir meistens nichts tun können. Was wir aktuell machen ist, dass wir für Einzelfälle Anträge schreiben. Das ist allerdings sehr, sehr mühsam und dauert sehr lange.

Ich reise ja gelegentlich nach Afghanistan und werde teilweise auf der Straße von fremden Menschen angesprochen, mit der Bitte, sie zu evakuieren - weil bekannt ist, dass Ausländer eventuell dafür sorgen können, dass man das Land verlässt.

Was sind es für Menschen, die sich als gefährdet registrieren lassen?

Menschen, die in allen Bereichen der Zivilgesellschaft gearbeitet haben: Richter:innen, Journalist:innen, Staatsanwält:innen, Künstler:innen. Oder Menschen, die für Sicherheitskräfte gearbeitet haben, die teilweise von der deutschen Polizei ausgebildet worden sind.

Die größte Gruppe aber sind junge Frauen, denen jetzt die Zeit davonrennt. Sie haben sich an unserem Wertesystem orientiert, haben studiert, sich sportlich oder künstlerisch betätigt. Für sie wird die Chance, außer Landes zu kommen und ein Leben in Freiheit zu führen, immer kleiner.

Mediathek und TV

Mission Kabul Luftbrücke

Warum wenden sich diese Menschen an Sie?

Weil es bei der Bundesregierung keine Stelle gibt, bei der sich Betroffene selbst melden können und es im Land auch keine Ansprechpartner der Bunderegierung mehr gibt, läuft alles über Nichtregierungsorganisationen wie die Kabul Luftbrücke. Wir haben dadurch de facto eine Gatekeeper-Funktion, weil wir entscheiden, welche Fälle an die Bundesregierung weitergereicht werden – und welche nicht. Diese Funktion dürfen wir moralisch betrachtet nicht haben.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine Lösung?

Ein neues Bundesaufnahmeprogramm, bei dem es ein transparentes Verfahren mit festgelegten Kriterien gibt, das allen Betroffenen den Zugang gewährt.

Letztes Jahr hat mit dieser Machtübernahme und diesem doch sehr chaotischen Abzug eine willkürliche Anzahl an willkürlich ausgewählten Menschen eine Aufnahmezusage bekommen, ohne dass es dafür transparente und nachvollziehbare Kriterien gab. Es war eine totale Lotterie – und das hat sich bis heute nicht geändert.

Sie bringen jetzt seit einem Jahr Menschen aus Afghanistan heraus ... wie lange können Sie das noch weitermachen?

Bei uns im Team liegen nach einem Jahr Arbeit die Nerven blank. Ich glaube, niemand in unserer Organisation hat im letzten Jahr wirklich Urlaub genommen, und wir haben schon Arbeitszeiten, die gehen teilweise bis weit nach Mitternacht, und wir fangen vor 8 Uhr morgens wieder an.

Wenn es um Menschenleben geht und man den Eindruck hat, niemand anderes übernimmt diese Verantwortung in der Art und Weise, dann geht es nicht, die Menschen im Stich zu lassen. Allerdings merke ich: Wir sind alle ausgebrannt. Es geht nur für eine bestimmte Zeit gut, und ich würde sagen: Unser Limit ist eigentlich erreicht.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Nele Haring, rbb|24.

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 08.08.2022, 13:45 Uhr

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