Geflüchtet aus Afghanistan - "Das hätte anders laufen müssen"

Mo 08.08.22 | 06:00 Uhr
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Sayed Shahzad, ehemals Ortskraft in Afghanistan, sitzt vor einer Gemeinschaftsunterkunft in Berlin Lichterfelde (Bild: rbb/Rautenberg)
Audio: rbb24 Inforadio | 08.08.2022 | Thomas Rautenberg | Bild: rbb/Rautenberg

Als die Taliban vor einem Jahr die Macht übernahmen, flüchtete Sayed aus Afghanistan nach Berlin – auf eigene Faust. Denn von der Bundesregierung erhielt der ehemalige Dolmetscher der Bundeswehr damals nicht die nötige Unterstützung. Thomas Rautenberg

 

Ende Juni des vergangenen Jahres verließen die letzten Bundeswehr-Soldaten Afghanistan. Zwei Monate später zogen auch die Amerikaner aus Kabul ab. Am 15. August 2021 übernahmen endgültig die Taliban die Macht in Afghanistan. Zurück blieben viele Afghanen, die als so genannte Ortskräfte für die Bundeswehr und deutsche Ministerien gearbeitet hatten. Die Bundesregierung hatte zwar versprochen, die Betroffenen und deren Familien in Sicherheit zu bringen, doch für viele ging diese Zusage im überstürzten Abzug unter. Seither hatte es immer wieder scharfe Kritik an den Evakierungsbemühungen der Bundesregierung gegeben. Im Bundestag befasst sich derzeit ein Untersuchungsausschuss mit den Ereignissen rund um den Afghanistan-Abzug der Bundeswehr und ihrer Verbündeten.

Nach Angaben der Auswärtigen Amtes sollen bereits 21.000 afghanische Ortskräfte und deren Familienangehörige nach Deutschland eingereist sein. Das sind zwei Drittel der Anspruchsberechtigten. Dabei handelt es sich um "Ortskräfte und Afghan:innen der sog. 'Menschenrechtsliste' und deren engsten Familienangehörigen. Von den Ortskräften konnten bereits rund drei Viertel einreisen."(Quelle: Halbjahresbilanz 2022 des "Aktionsplanes Afghanistan")

"Endlich in Sicherheit", sagt Sayed Sawar Shazad mehrfach. Der 38-Jährige ist seit seiner Flucht vor einem Jahr mit seiner Frau und den vier Kindern in einer Gemeinschaftsunterkunft in Berlin-Lichterfelde untergekommen. Sayed hat in Afghanistan als Dolmetscher für die Bundeswehr gearbeitet. Zuerst war er im Camp Marmal bei Masar-i-Sharif eingesetzt, damals das größte Feldlager der Bundeswehr im Ausland. Dann, erzählt Sayed, sei er mit den deutschen Militärausbildern nach Kabul gezogen. Dort hatte die Bundeswehr inzwischen ein Ausbildungszentrum für die afghanischen Soldaten eingerichtet. Später sei er dann wieder nach Masar-i-Sharif zurückversetzt worden.

Im Dienst der westlichen Militärmächte

Leicht sei es ihm damals nicht gefallen, in den Dienst ausländischer Truppen zu treten, erinnert sich Sayed. Aber er hatte die Hoffnung, dass es gerade durch die Präsenz der Deutschen in seinem Land irgendwie besser, stabiler werden könnte. "Die fremden Soldaten sind schließlich in unser Land gekommen, um uns zu helfen. Sie wollten uns so lange unterstützen, bis die afghanische Armee auf eigenen Füßen stehen konnte. Aber leider hat sich die Situation in Afghanistan in eine ganz andere Richtung entwickelt."

Plötzlich Feind im eigenen Land

Im Frühjahr 2021 bröckelte die Macht der afghanischen Regierung. Die radikalen Taliban rückten vor. Sie nahmen ganze Regionen ohne jeden militärischen Widerstand der afghanischen Armee ein. Auch die deutschen Soldaten im Camp Marmal in Masar-i-Sharif packten ihre Sachen und bereiteten sich auf den Abzug vor. Sayed war in großer Sorge: Wenn die Taliban zurückkämen, wäre er für sie ein Feind im eigenen Land.

Die deutsche Militärkommandantur empfahl den afghanischen Ortskräften, sie sollten für sich und ihre Familien gültige Pässe und Ausreisevisa besorgen. Leicht gesagt in einem Land, dass sich in Auflösung befindet, erinnert sich Sayed: "Die Situation verschlechterte sich von Tag zu Tag und in den afghanischen Behörden herrschte Korruption. Da konnte man nicht so einfach gültige Dokumente bekommen."

Im Hinterkopf hatte Sayed immer die Drohung eines Taliban-Führers, dass es für ihn und die anderen Ortskräfte keine Gnade geben würde: Wer den fremden Mächten in Afghanistan geholfen habe, ob mit Worten oder auch mit Taten, werde getötet. "Das war ihre Entscheidung über Leute wie mich", sagt Sayed.

Jeder auf sich allein gestellt

Sayed bekam die Reisepapiere für sich und seine Familie zusammen. Er habe dafür sehr viel Geld bezahlen müssen, gibt er offen zu. Wieder meldete er sich bei den zuständigen Bundeswehr-Soldaten mit der Frage, wie es denn nun weitergehen soll. Die Antwort war kurz, erinnert sich der 38-Jährige an die dramatischen Tage. Er möge eine E-Mail an die Internationale Organisation für Migration IMO schreiben und auf Antwort warten.

Tagelang passierte nichts, außer, dass die Situation immer brenzliger wurde, sagt Sayed. Schließlich glaubte er nicht mehr an das Hilfsversprechen der deutschen Behörden. Ende Juni 2021, vier Tage vor dem Abzug der letzten deutschen Soldaten, kaufte Sayed Flugtickets für sich und seine Familie und sie stiegen in den nächsten Flieger Richtung Deutschland.

Mediathek und TV

Andere mussten bleiben

Sayeds Bruder, der auch für die deutschen Soldaten übersetzt hatte, hatte nicht so viel Glück. Bevor er einen Pass bekam, waren die Taliban schon an der Macht. Zurück in sein eigenes Dorf konnte er nicht, weil alle wussten, dass er für die Bundeswehr gearbeitet hat. Irgendeiner, meint Sayed, hätte den Taliban bestimmt einen Tipp gegeben. Der Bruder schlug sich mit Frau und Kind nach Kabul durch. "Sie haben dort heimlich in einer Wohnung gewohnt, und sich um gültige Ausreisedokumente bemüht. Vor fünf Monaten ist ihm schließlich die Flucht nach Deutschland gelungen."

Allerdings ist Sayeds Mutter allein in Afghanistan zurückgeblieben.

Eine Zukunft in Deutschland

Einen Vorwurf will Sayed den deutschen Behörden, die seinerzeit viele afghanische Ortskräfte im Stich gelassen haben, nicht machen. Er sei den Deutschen viel zu dankbar dafür, dass er hier in Sicherheit leben könne. Doch er ist überzeugt: Es hätte vor einem Jahr anders – sprich unbürokratischer – laufen müssen. "Man hätte die Ortskräfte, wie versprochen, alle herausbringen müssen. Wir haben in Afghanistan den westlichen Armeen gedient, und sie wussten, wie gefährlich das für uns werden könnte. Leider sind Tausende zurückgeblieben – und viele von den Freunden sind inzwischen von den Taliban getötet worden."

Für sein Heimatland Afghanistan hat Sayed nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban keine Hoffnung mehr. Das seien Terroristen, die das Land zu Grunde richten werden, sagt er. Die Zukunft seiner Familie sieht Sayed daher auch in Deutschland und damit in Sicherheit. Nach dem Sprachkurs, den er gerade macht, will der 38-Jährige eine Ausbildung zur IT-Fachkraft beginnen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 08.08.2022, 7:30 Uhr

32 Kommentare

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  1. 32.

    "Doch! Warum sollte dies nicht so sein?" In welcher Traumwelt leben Sie? Versuchen Sie mal beim Arbeitsamt eine Umschulung zu irgend etwas zu bekommen, bzw. vergessen Sie es lieber einfach. Das einzige, was Sie da bekommen, ist ein Ablehnungsbescheid mit Verweis auf eine vorhandene Ausbildung und ein breites Angebot an offenen Angeboten an Hilfsjobs. Ohne zwingende gesundheitliche Gründe geht da überhaupt nichts.

  2. 31.

    Einem 38-jährigen Deutschen ohne weitere Qualifikation wird kein Studium als " eine Ausbildung zur IT-Fachkraft " finanziert, da er sich mit fehlender Qualifikation nicht an einer Hochschule immatrikulieren kann. Er stünde dann als Familienvater mit vier Kindern und Frau dem Arbeitsmarkt nach hiesigem Sozialrecht als unqualifizierte Arbeitskraft zur Verfügung, um wenigstens einen Teil des Familienunterhalts selbst zu sichern. Denn Deutschland ist kein Paradies.

  3. 30.

    Eine Familie in Sicherheit, allein das ist eine gute Nachricht. Der Wert eines jeden sollte uns bewusster werden. Neid ist menschlich, sagt man, aber kann man tatsächlich auf diesen Mann neidisch sein? Man kann ihm helfen, indem man ihn akzeptiert, seinen Standpunkt versteht und auch, indem man den Sozialneid einfach mal unterlässt. Das wäre doch toll, einfach diesem Menschen in purster Form und aus reinem Herzen eine gute Zukunft wünschen.

  4. 29.

    Meine Güte, es ist doch ALLES im Artikel erklärt. Es waren nicht nur Menschen, die für die Bundeswehr gearbeitet hatten, sondern auch andere. Und da die Familien groß sind, ca. 5 im Schnitt oder mehr, kommt man schon bei 2000 ehemaligen Mitarbeitern in den 20 Jahren auf 10 000. 2000 waren es nicht, aber ich meine mich zu erinnern, dass es 3500 waren. Plus den anderen Menschen, wie im Artikel beschrieben.

  5. 28.

    Die meisten Dolmetscher, die in Afghanistan für die Bundeswehr gearbeitet haben, haben ENGLISCH gedolmetscht, weil in Afghanistan kein Deutsch angeboten wird und es an den Unis dort vermutlich auch kein Germanidtikstudium angeboten wird. Deshalb auch der Deutschlurs. Diejenigen, die Deutsch können, haben irgendwann mal in Deutschland studiert.

  6. 27.

    Nicht alle Dolmetscher sind ausgebildet bzw Studierte !
    Es gibt zahlreiche die trotz nicht perfekter Sprache als Dolmetscher arbeiten weil Sie zumindest dem der gar nichts versteht einigermaßen das wesentliche übersetzen kann.

  7. 26.

    fishersfritz:
    "Er wird bei der Familienkonstellation nie soviel verdienen können, wie er als "Leistungsberechtigter" an Sozialgeldern bekommt."

    Woher wollen Sie das so genau wissen? Kennen Sie diesen Menschen persönlich? Oder breiten Sie hier nur Ihre Vorbehalte, Klischees und Ihr Schwarz-Weißdenken aus, alle Ausländer/Afghanen seien gleich?

  8. 25.

    Don Alvonso:
    ""Nach dem Sprachkurs, den er gerade macht, will der 38-Jährige eine Ausbildung zur IT-Fachkraft beginnen." Hat der 38 jährige irgendeinen Bezug zu "IT"? Ich vermute mal nein."

    Auf welche Fakten stützt sich Ihre Vermutung? Oder ist das nur reine Spekulation?

    Don Alvonso:
    "Wenn er nicht als Übersetzer seine Fähigkeiten zum Lebensunterhalt einsetzen will, wird er ggfs. auch mit Hilftätigkeiten seinen Lebensunterhalt sichern müssen."

    Warum sollte er, wenn er mehr könnte?

    Don Alvonso:
    "Auch einem 38-jährigen Deutschen ohne weitere Qualifikation wird nicht unbedingt eine ggfs. jahrelange Ausbildung als "IT-Fachkraft" finanziert."

    Doch! Warum sollte dies nicht so sein?

  9. 24.

    "mit Hilftätigkeiten seinen Lebensunterhalt sichern ". Das wird sich für ihn nicht lohnen. Die Ampel hat das Regelwerk bei Hartz 4 so geändert, daß der Leistungsbezieher auch bei Ignorieren von "Vermittlungsjobs" folgenlos weiter Hartz4 bezieht. Wenn man überschlägig ermittelt, welcher Sozialleistungsanspruch bei vier Kindern und zwei Erwachsenen in der Bedarfsgemeinschaft entsteht, lohnt sich Arbeit für ihn nicht. Er wird bei der Familienkonstellation nie soviel verdienen können, wie er als "Leistungsberechtigter" an Sozialgeldern bekommt.

  10. 23.

    Wissen Sie irgendetwas über die Vorgeschichte des Dolmetschers?
    Ich auch nicht.
    Also bitte etwas vorsichtiger mit solchen Aussagen.
    Warum sollte er keine Ausbildung mit 38 machen, zu alt?

  11. 22.

    "... Eine sehr fatalistische Einstellung. Natürlich kann man Menschen ändern. Es ist in anderen Kulturkreisen nur sehr schwierig. ..."

    Warum maßen wir uns an, Menschen aus anderen Kulturkreisen - auch deren eigenem Land - ändern zu wollen?
    Ist unser westliches System wirklich so toll?

  12. 21.

    "Warum muss ein Dolmetscher, der für die Bundeswehr tätig war, hier in Deutschland einen Deutschkurs machen um hier arbeiten zu können ?" Das habe ich mich auch gefragt. Er kann ja gern noch mit 38 Jahren und für seine zu versorgenden 4 Kindern und für die Versorgung der Ehefrau dann noch IT-Fachmann im Abendkurs werden, damit er derweil seine Familie mit Erwerbstätigkeit ernähren kann.

  13. 20.

    Sie wissen sicherlich was ein Dolmetscher macht. Diese Tätigkeit kann man nur ausüben wenn man die Sprache beherrscht. Deshalb ist deine Frage nach dem Sinn eines Deutschkurses berechtigt. Nach vielen Berichten und Reportagen könnte man sowieso denken dass es mehr Dolmetscher als Bundeswehrangehörige gab.

  14. 19.

    "Nach dem Sprachkurs, den er gerade macht, will der 38-Jährige eine Ausbildung zur IT-Fachkraft beginnen." Hat der 38 jährige irgendeinen Bezug zu "IT"? Ich vermute mal nein. Wenn er nicht als Übersetzer seine Fähigkeiten zum Lebensunterhalt einsetzen will, wird er ggfs. auch mit Hilftätigkeiten seinen Lebensunterhalt sichern müssen. Auch einem 38-jährigen Deutschen ohne weitere Qualifikation wird nicht unbedingt eine ggfs. jahrelange Ausbildung als "IT-Fachkraft" finanziert.

  15. 18.

    Anneke:
    "Zur Einwanderung der Afghanen kann ich nur sagen, es können nicht alle Menschen in DL leben.Aber die Deutschen tun, was möglich ist."

    NIEMAND fordert, dass "alle Menschen in DL leben". Also was soll dann die Binsenweisheit, dass "nicht alle Menschen in DL leben" können, wo dies doch Niemand fordert?

  16. 17.

    Anneke:
    "Antwort auf [Günther ] vom 08.08.2022 um 08:20
    Jesus ist nicht gescheitert.Im Gegenteil. Diese Gewissheit haben alle Gott-Jesus- Gläubigen.
    Die "Hilfe" der Deutschen in Afghanistan war nicht richtig.Es hat auch nichts gebracht, wie man sieht."

    Das ist falsch! Es hat für einige Afghanen etwas gebracht, dass die Taliban nicht überall an der Macht waren. Es gab Mädchenschulen etc. Es war nur leider zeitlich begrenzt und leider nicht nachhaltig. Aber, dass 20 Jahre Schulbildung für Mädchen etc. pp. Nichts sei, ist Unsinn.

    Anneke:
    "Wir können eine andere Kultur nicht nach unseren Wert-Vorstellungen ändern. Wir können Menschen nicht ändern.Änderung passiert im Inneren, im Herzen von Menschen."

    Eine sehr fatalistische Einstellung. Natürlich kann man Menschen ändern. Es ist in anderen Kulturkreisen nur sehr schwierig.

  17. 16.

    Krause:
    "Warum muss ein Dolmetscher, der für die Bundeswehr tätig war, hier in Deutschland einen Deutschkurs machen um hier arbeiten zu können ?"

    Weil er vielleicht für die Bundeswehr Englisch-Afghanisch gedolmetscht hat. Denn schließlich werden sehr viel mehr Afghanen in Afghanistan Englisch als Deutsch gelernt haben.

    P.S.
    Mit "Afghanisch" meine ich eine der in Afghanistan gesprochenen Sprachen.

  18. 15.

    Blümel:
    "Regierungen, die durch ausländisches Militär am Leben gehalten werden, brechen nach Abzug dieser Truppen zusammen."

    Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ist ein - leider seltenes - positives Gegenbeispiel, dass es auch anders funktionieren kann.

  19. 13.

    Bereits am 30.07.21 stand fest, dass 30 Dolmetscher mit ihren Familien ausgeflogen werden, plus ein paar andere Kräfte, die genaue Zahl habe ich nicht, ich weis dassTschechien dann sehr schnell gehandelt hat.

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