Interview | Siegbert Schefke - Wie ein Journalist die Montagsdemos in Leipzig filmte

Mi 09.10.19 | 09:59 Uhr
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Demonstration für offene Grenzen in Leipzig 1989 (Foto: dpa/Kumm)
Audio: Inforadio | 09.10.2019 | Interview mit Siegbert Schefke | Bild: dpa

Vor 30 Jahren gingen die Menschen in der DDR auf die Straße, um gegen die Regierung zu protestieren. Die große Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 hat Siegbert Schefke heimlich gefilmt - unter abenteuerlichen Umständen, wie er im Interview erzählt.

Der Journalist Siegbert Schefke filmte vor 30 Jahren, wie Tausende DDR-Bürger auf dem Leipziger Ring friedlich gegen das Regime auf die Straße gingen. Seine Aufnahmen von der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 spielte er den Medien im Westen zu. In der "Tagesschau" hieß es dann, die Bilder stammten von einem "italienischen Kamerateam" - die Redaktion wollte Schefke damit vor der Stasi schützen.

Siegbert Schefke im Herbst 2014 in Leipzig (Bild: imago images/Rolf Zöllner)
Siegbert Schefke 2014 in Leipzig | Bild: imago images/Rolf Zöllner

rbb: Herr Schefke, vor 30 Jahren hatte nicht jeder ein Handy in der Tasche, da konnte man nicht einfach Aufnahmen machen. Wie konnten Sie der Stasi entwischen und die Demonstrationen aufnehmen?

Siegbert Schefke: Ich hatte das Problem mit der Staatssicherheit schon seit dem 7. Oktober, dem Tag der 40-Jahre-DDR-Feier und der Gewaltorgie rund um die Gethsemane-Kirche. Mein Haus im Prenzlauer Berg war von der Stasi umstellt. Die standen im Hof, wenn ich in der Wohnung war, und haben mich zum Bäcker und zur Freundin begleitet. Da hatte ich die Idee, über den Hausflur hoch aufs Dach zu steigen und zehn Häuser zur Schönhauser Allee vorzulaufen. Dort hat mich mein Freund Aram Radonski an der Dachluke erwartet, an der wir mit einem Bolzenschneider etwas nachgeholfen haben. Dann ging es weiter mit dem Auto. Ich denke, wir haben den Trabanten zwei Mal, wenn nicht sogar dreimal gewechselt. So sind wir nach Leipzig gefahren. Auf der Autobahn haben wir eine Kolonne überholt und mein Freund hat gesagt: "Die fahren nicht umsonst nach Leipzig. Die haben da was vor und das wird heute gefährlich."

In Leipzig haben wir dann nach einem Kamera-Standort gesucht. Heute würde man eine Drohne nehmen. Wir haben dann den 70 Meter hohen Turm der Reformierten Kirche ausgesucht, da haben wir einen schönen Blick. Wir haben beim Pfarrer geklingelt, der zehn Minuten überlegt und dann 'Okay' gesagt hat. So lagen wir am Nachmittag da oben im Taubendreck und haben die Demonstranten erwartet. Das war ein total tolles Gefühl, von dort oben diese schwarze Masse aus Zehntausenden Demonstranten zu sehen, die ohne Gewalt friedlich in Sprechchören "Gorbatschow, Gorbatschow, Gorbi, Gorbi", "Völker hört die Signale", "Erkämpft das Menschenrecht" und "Wir sind das Volk" riefen.

Die SED-Zeitungen hatten geschrieben, in Leipzig seien betrunken Raudis unterwegs. Da konnte ich mit meinen Aufnahmen das Gegenteil zeigen. Gedacht habe ich auf meinem Kirchturm: Wenn die Demonstration heil an der Stasizentrale in Leipzig vorbeikommt, dann bleibt der Abend friedlich. Ohne einen Schuss verlief diese Demonstration, das war unheimlich schön. Mein Freund hat gesagt: Wenn die Bilder morgen im im Westfernsehen laufen, wird das nicht nur die DDR und Deutschland verändern - das wird Europa und die Welt verändern.

War der 9. Oktober wichtiger als der 9. November?

Na ja, ich finde, es gibt so Tage im Leben, die vergisst man nicht. Das ist die Hochzeit, das ist der Tag der Geburt der Kinder - und bei mir ist es der 9. Oktober, wieder nach Berlin zu kommen, die Video-Kassette jemandem zu geben, der sie sicher in den Westen transportieren kann. Und dann 30 mal schlafen bis zum 9. November, bis zur Maueröffnung, dem Totalschaden der DDR.

Sie haben diese Aufnahmen in dem Bewusstsein gemacht, ein Abenteuer einzugehen, um die DDR zu verändern. Wann haben Sie gewusst: Die DDR ist nicht reformierbar?

Ich hatte eine Situation: Erich Honecker hatte vorgeschlagen, dass Leipzig Olympische Spiele ausrichten soll. Ich habe dann ein Porträt über die Stadt gemacht. Wir waren in einem sehr bröckeligen Hinterhof, da wackelten plötzlich Gardinen und ich habe gedacht: Da kann niemand mehr leben. Dann hat pötzlich eine junge Frau rausgeguckt aus dem Haus und gesagt: "Fotografieren sie mal, wie wir hier leben!"

Da habe ich gedacht: Das muss ich zeigen. Wir wissen gar nicht mehr, wie wir hier leben in der DDR mit diesem Mief und dem schlechten Wasser. Am Tag der Maueröffnung war mir dann klar: Das wird hier nichts mehr mit der DDR. Aber dass dann alles so schnell gegangen ist mit der Stasi und der mächtigen Partei, wundert mich heute noch.

Es gibt doch immer noch viele in Ostdeutschland, die an Vergangenem hängen, die das Wir-Gefühl, die Heimatsicherheit vermissen ...

Das ist ja schon wieder die Frage: War die DDR ein Unrechtsstaat? Sie haben uns eingemauert, eingesperrt. Sie haben uns verhört, sie haben uns getriezt. Sie haben mich gedemütigt, also kann es nur ein Unrechtsstaat gewesen sein.

Diese Rückbesinnung hat auch damit zu tun, dass Jugend und Kindheit auch in der Diktatur schön sein kann, daran kann man sich erinnern. Da schien die Sonne, da war der erste Kuss, die erste Nacht, das kann einem keiner nehmen, das war auch in der DDR schön. Die Jugend oder die Zeit des Heranwachsens ist die schönste Zeit im Leben, auch in einer Diktatur. Aber deswegen will ich doch nicht die DDR wieder haben. Nichts will ich da wieder haben. Pittiplatsch kann leben und der Sandmann kann weitergesendet werden. Und der grüne Pfeil, auch wenn er nicht überall schön ist. Mehr will ich von damals nicht haben.

Mit Siegbert Schefke sprach Christian Wildt für Inforadio. Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Version des Interviews. Das vollständige Gespräch können Sie hören, wenn Sie auf das Lautsprechersymbol oben im Beitrag klicken.

4 Kommentare

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  1. 4.

    Das hat dann wohl ggf. mit der Empfindung zu tun, durch den Beitritt, den die Mehrheit ab Frühjahr 1990 gewollt hat, auf der Bittstellerstraße gelandet zu sein. Das macht inaktiv.

    Die einen wanden sich so durch und sammelten bescheidenen Erfolg nach neuen Maßstäben an, die anderen ärgerten sich darüber, dass nicht Freiheit in allen Lebenslagen, sondern Hunderte Kilometer Autobahnen und Ganzjahresobst von sonstwoher die Märkte überfluteten.

    Wer wollte wogegen sein, wenn die alten Frontstellungen nicht mehr taugen und es allenfalls die Höckes sind, die völkischen Dampf ablassen?

  2. 3.

    Wenn ich die Unterschiede resümiere zu den damaligen Bürgern, welche in Massen friedlich und mit so viel Mut zum Risiko für ihre Freiheit demonstrierten, kann ich es heute nicht fassen, dass diese Bürger 30 Jahre später heute zu Hause hocken und in ihrem Land die Nazis, Neonazis und und rechte Anzug- und Kostümblender/innen einfach agieren lassen. Hat ihnen die freie Marktwirtschaft das Gehirn vernebelt ?

  3. 2.

    "Mehr will ich von damals nicht haben."
    Wenn ihm da nicht mehr einfällt,ist er wohl eindeutig ein Kapitalismusgewinner.

  4. 1.

    Vielen Dank für dieses wunderbare Gespräch!!!

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