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Tagebuch (13): Ukraine im Krieg

"Es war verrückt, dass das Tattoo eine solche Macht hatte"

Ein Zufall hat Tilde aus ihrem Kaffeeladen in Schweden an die Front in der Ostukraine geführt. Natalija Yefimkina berichtet in ihrem Kriegstagebuch über eine Frau, die ihren ganz eigenen Umgang mit dem Grauen in der Ukraine hat.

Natalija Yefimkina: An einem Abend am Ende der Sommerferien kamen wir auf den Krieg zu sprechen. Vielleicht wollte auch nur ich über den Krieg reden, weil die ganze Zeit über alles Mögliche gesprochen wurde, nur nicht darüber. Das Thema wurde umschifft.

Mein deutscher Bekannter, ein ehemaliger Kreativer, der sich nun der Imkerei verschrieben hat, meinte schließlich: Was soll man denn da reden, wer nicht geflohen ist aus der Ukraine, ist selbst schuld. Er wäre als erster abgehauen, weit weg, und hätte auch seine Frau mitgenommen. Was soll dieses hin und her, der Stärkere habe sowieso immer Recht, und dаs wäre nun mal Russland. Schießen würde er niemals, dann lieber abhauen.

Seine Frau schaute ihn mit großen Augen an und fragte: Aber wenn sie vor unserer Tür stünden? Würdest du dann nichts tun? Ja, sagte er, dann wäre ich selbst schuld, das meine Frau nicht vorher gegangen ist.

Zur Person

Es ist dieser tiefsitzende Pazifismus, gepaart mit Naivität, der mich sprachlos dasitzen ließ - die Freundin übrigens auch. Jeder, der könnte, würde ja gehen. Die Sache ist, dass es für Europäer auch ein Wohin gibt. Innerhalb der Ukraine aber ist grundsätzlich jeder Ort potenziell bedroht. Das ist in Deutschland schwer nachvollziehbar, vielleicht durch die lange Zeit der Sicherheit und Freiheit, in der man vergessen hat, wie wertvoll das ist und wie sehr man dafür kämpfen sollte. Oder es ist ein menschlicher Mechanismus, der das nicht zu nah an sich ranlassen möchte.

Und dann gibt es noch bei vielen die heimliche Unterstellung, dass die Ukraine doch etwas verbrochen, getan oder wenigstens provoziert hat, was diesen Krieg ausgelöst hat. Dabei reichte es Russland schon aus, ein anderes, freieres und demokratisches Leben neben sich zu wissen.

Vor einigen Tagen fand ich mich auf einer gigantischen Party mit allen möglichen deutschen Schauspielern wieder. Dort wurden diverse Preise verliehen. Im Beauty-Bereich des Foyers konnte man sein Gesicht glowen lassen. Es gab Kaviar und sehr viel Champagner.

Ich fühlte mich wie im falschen Film und musste doch gleich eine Rede halten, die sich auf jeden Fall um den Krieg drehen würde. Im Skript des Abends kam ich allerdings gar nicht vor, auch einen Platz gab es für mich nicht. Als ich aufgerufen wurde, hatte ich 70 Sekunden Zeit, ging auf die Bühne und hielt meine Rede zur Zukunft Europas.

Ich rufe Tilde an und bitte Sie, sich vorzustellen.

Mein Name ist Tilde, ich komme aus Schweden und bin 30 Jahre alt. Ich habe in Schweden in einem Tee- und Kaffeeladen gearbeitet. Der Kaffee stammte aus Kenia, Kolumbien, allen möglichen Orten, und wir haben ihn von verschiedenen Bauern an unterschiedliche Röstereien in Schweden vermittelt.

Tilde, was ist passiert, als der Krieg angefangen hat?

Vor dem Krieg hatte ich keinen Bezug zur Ukraine. Dann traf ich einen Ukrainer in meiner Heimatstadt und habe ihm gesagt, dass es mir leidtue, was gerade in seinem Land passiert und fragte ihn, ob ich etwas tun könne. Ich erwartete, dass er sagt: Nein, danke. Aber er sagte: Ja, kannst du, und fragte mich, ob ich einen Transporter mit Babynahrung, Socken und medizinischem Bedarf nach Polen fahren könnte.

Das war keine große Sache, denn ich habe einen Führerschein. Und eine Freundin, die einen Autoverleih hat, machte mir ein fast kostenloses Angebot.

Aber dann wurden diese Ukrainer, denen ich geholfen hatte, zu Freunden, und wir organisierten immer mehr Sachen zusammen.

Und dann?

Ich war in mehrere Projekte involviert. Eine andere Freundin wollte Pferde in der Ukraine retten, sie wollte sie aus dem Osten in den Westen des Landes oder nach Polen transportieren. Am Anfang war ich skeptisch. Ich sagte ihr, vielleicht sollten wir erstmal den Menschen helfen. Sie erklärte mir aber, dass viele Pferdebesitzer Frauen sind und nicht alle hätten einen Führerschein. Sie können somit die Pferde nicht transportieren, da ihre Männer oder Väter, die normalerweise die Autos fuhren, in den Krieg gezogen sind.

Sie fuhr ziemlich früh im April oder sogar noch im März runter, und ich versuchte zunächst von Schweden aus, Fahrer zu finden und sowas. Am Ende war es sehr frustrierend, weit weg von dem zu sein, wo alles passierte. So habe ich meine Wohnung und meinen Job gekündigt und ging dorthin.

Was hat Dich zu dem Entschluss bewogen? Ist etwas Besonderes passiert?

Man sagte uns, die Hilfe käme nicht bei den Menschen an, die es bräuchten. Die Ukrainer fragten, wo denn die großen Hilfsorganisationen bleiben. Ich habe versucht, das in Schweden herauszubekommen und fragte die Organisationen, was genau sie vor Ort machen? Aber sie waren nicht daran interessiert, diese Informationen weiterzugeben.

Da fing ich an darüber nachzudenken, selbst hinzugehen. Ich liebte meinen Job sehr, aber ihn zu kündigen war für mich ein relativ kleines Opfer. Am Anfang dachte ich, dass ich nur für ein paar Wochen hingehe. Aber als ich in die Ukraine kam, sah ich, dass der Bedarf sehr groß war und es Sachen gibt, die niemand anderes macht und so bin ich geblieben. Ich bleibe, solange man mich braucht.

Tilde | Quelle: privat

Wo genau bist Du und was machst Du gerade?

Jetzt gerade fahren wir wieder nach Balakliia mit verschiedenen Sachen wie kalorienreichen Produkten, Babynahrung und dem, worum man uns gebeten hat: Plastik, um provisorisch die Häuser, die Fenster zu reparieren. In den Dörfern um Balakliia und auch um Isjum sind die Häuser ganz oder teilweise zerstört.

In meinem Team sind auch zwei Jungs, die Menschen evakuieren. Sie sind somit da, wo sie gebraucht werden und reisen mit dem Krieg mit. Gerade haben sie ihre Basis in Charkiv und fahren zu Orten, die faktisch an der Frontlinie liegen. Es sind meistens alte Leute, die sie evakuieren, Menschen mit körperlichen Behinderungen oder solche, die wegen anderer Gründe noch nicht gehen konnten.

Unsere Hilfsorganisation heißt OperationAid, ist aus Schweden und wurde zu Kriegsbeginn gegründet. Am Anfang wurden Geflüchtete aus der Ukraine mit schwedischen Bussen abgeholt und auf dem Rückweg Hilfsgüter zur ukrainisch-polnischen Grenze gefahren.

Als die Not in der Ukraine wuchs, fragten sie mich, ob ich bereit sei, der Organisation beizutreten, weil viele Freiwillige in Polen waren, aber nicht in der Ukraine. Erst gingen wir nach Kiew und später auch in den Osten.

Für Dich ist ja alles neu: Wie ist es im Krieg zu sein? Und zum ersten Mal in der Ukraine?

Als ich herkam, war Kiew noch sehr leer, kaum Menschen auf den Straßen. Ein komisches Gefühl von Apokalypse, wenn du diese riesigen Städte hast, und da sind kaum Menschen.

Einige Leute fanden es wahrscheinlich sehr mutig und außergewöhnlich von mir, hierher zu gehen. Aber ich sehe es genau andersrum: Ich habe keine Verbindung in die Ukraine. Jeder, den ich liebe, ist in Sicherheit in Schweden. Ich könnte morgen zurückgehen und mit meinem Leben weitermachen, als wäre nichts passiert. Die Ukrainer haben diesen Luxus nicht.

Ich versuche bescheiden zu sein und nicht so eine Art Touristin. Man muss sich immer wieder klarmachen, wie viele Menschen buchstäblich gestorben sind. Aber eine Sache, an die ich oft denken muss, ist, dass es ein wunderschönes Land ist. Ein so schönes Land. Das ist es. Wirklich.

Tagebuch (10): Ukraine im Krieg

"Den Mädchen wurden die Zähne ausgeschlagen, die Vorderzähne"

Wer zu Tatiana kommt, ist am Ende. Die Psychologin arbeitet in Kiew mit den schwer misshandelten Opfern des Krieges. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über den Versuch, sich aus dem Grauen wieder herauszukämpfen.

Aber wie ist der Krieg? Hattest Du nicht auch einen Schock?

Natürlich. Einige Sachen, die du siehst und hörst, Geschichten, die erzählt werden, sind absolut schrecklich. Aber wenn ich sie höre, denke ich nach, wie ich die Situation erleichtern und den Menschen helfen kann. Vielleicht ist das eine Art Schutzmechanismus.

Da sind junge Soldaten, die Rollstühle oder Krücken brauchen, aber ich versuche dann zu denken: Wo können wir diese Rollstühle finden, die sie brauchen, wo kriegen wir medizinische Geräte für die Krankenhäuser her? Wie können wir die Leute besser vernetzen, damit sie effizienter sind, wenn sie den Jungs helfen?

Natürlich sind es furchtbare Geschichten, aber für mich ist es wichtig, fokussiert zu bleiben, denn dafür bin ich ja hier.

Gibt es Sachen, an die Du dich für immer erinnern wirst?

Sehr viele sogar. Menschen, die ich hier getroffen haben, die unglaublichsten Menschen, die so viel machen. Sehr ruhig, ohne viel Anerkennung dafür zu bekommen. Sie machen es, weil es das Richtige ist. Es ist eine Ehre, sie getroffen zu haben. Es gibt viele solcher Leute, und sie sind unglaublich.

Ich erinnere mich an diesen Mann, den ich auf einer der ersten Fahrten in der Nähe von Kiew traf. Er erzählte, wie die Russen in sein kleines Dorf mit nur ein paar Häusern kamen. Die Russen kampierten in der Nähe seiner Toreinfahrt. Sie haben einfach alle Familien, die dort lebten, verhaftet und einige seiner Nachbarn umgebracht. Es gab keinen Grund dafür, sie alle waren einfache Zivilisten.

Er ist ein älterer Mann, um die 65, und eines Nachts nahmen sie auch ihn mit, um ihn im Wald zu töten. Ich fragte ihn, was er in dem Moment dachte, und er sagte, dass das Einzige worüber er sich Sorgen machte, seine Frau und seine Enkelin waren, die immer noch im Haus waren. Sie nahmen ihn mit in den Wald und als sie sein Hemd auszogen, sahen sie das alte Tattoo aus Sowjetzeiten, wo er in der Armee gedient hatte. Da entschieden sie, ihn am Leben zu lassen. Er sagte, es war unglaublich, es war verrückt, dass das Tattoo eine solche Macht hatte, ihn zu retten, und es tat es.

Tagebuch (5): Ukraine im Krieg

"Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von vier Metern"

Andreis kleines Hotel in der Nähe von Kiew wird beschossen. Kurz darauf dringen russische Soldaten ein: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

Er erzählte uns auch, dass sie nicht raus konnten, um sich Essen zu besorgen. Also musste er sich nachts rausschleichen und Essen von den Soldaten klauen. Es war etwas an diesem Mann, weil er so unglaublich mutig war und einen Sinn für Humor hatte. Er servierte uns den Tee, den er von russischen Soldaten geklaut hatte. Und sagte immer wieder, dass daran doch nichts Besonderes sei.

Viele der Soldaten, die sein Dorf furchtbar behandelten und zum Teil seine Nachbarn töteten, seien fast noch Kinder gewesen, sagte er, ohne jegliche Idee für das, was sie da machten. Ich hätte verstanden, wenn er sie einfach nur gehasst hätte, aber er war sich absolut klar darüber, dass auch auf der anderen Seite unterschiedliche Menschen sind. Einige Soldaten hätten zwar ihre Sachen geklaut, aber seien nicht böswillig zu ihnen gewesen und hätten sie nicht bedroht.

Er war ein unglaublicher Mann, aber er war auch sehr traumatisiert. Er nahm uns mit in den Wald und zeigte uns, wo das russische Lager aufgeschlagen war. Da lagen noch all ihre Sachen. Er erzählte uns, was dort geschehen ist und wie er danach geholfen hat, die Körper von der Straße zu holen. Das war einfach furchtbar, furchtbar. Aber er war immer noch dieser warmherzige Mensch, unglaublich, das hat mich sehr bewegt.

Versorgungseinsatz in der Ukraine | Quelle: privat

Das Traurige ist, dass ich mich zwar an viele Menschen erinnern werde, aber ich wünsche mir, wir hätten uns unter anderen Umständen getroffen als diesen.

Wie ist die Gegend, wo Du jetzt bist?

Relativ ruhig, wenn man die unbefestigten Feldwege fährt. Viele Brücken sind zerstört, also müssen wir verrückte Umwege machen. Aber die Menschen machen alles, was sie nur können. Das ist auch so ein Punkt über die Ukrainer: Sie versuchen sofort nach dem Angriff wieder aufzubauen. Sie sind unglaublich stur, was eine echt gute Sache ist. Ich glaube wirklich, dass es unmöglich ist, ihren Geist zu brechen. Sie werden ihr Land zurückholen, das ist sicher, ich hoffe nur, dass es früher als später geschieht.

Aber wie sieht es dort aus? Wir hören hier schreckliche Sachen über Isjum, schreckliche Sachen über Massengräber.

Das ist wahr. Vor ein paar Tagen haben wir den stellvertretenden Bürgermeister von Balakliia getroffen, und er sagte uns, dass 70 Prozent der kleinen Dörfer und Siedlungen weg sind, sie sind zum Teil oder vollständig zerstört. Die Menschen in diesen Gegenden versuchen, das Beste daraus zu machen, was herzzerreißend ist. Sie haben keine Elektrizität, kein fließendes Wasser und nicht genug Lebensmittel. Und überall liegen Minen. Die Minenräumung in den ganzen kleinen Dörfern wird Jahre brauchen. Viele Menschen in diesen Gegenden sind natürlich alt, also können sie diese Orte nicht verlassen.

Tilde | Quelle: privat

Der Bürgermeister sagte uns, dass der nächste Supermarkt manchmal 40 Kilometer entfernt ist, und für jemanden, der älter ist, ist es unmöglich diese Distanz zurückzulegen.

Auch das Thema Gesundheit: Manche Sachen, die noch vor einem halben Jahr kein Problem waren, wurden mehrere Monate nicht behandelt und sind zu großen Problemen geworden. Im Krankenhaus von Balakliia haben die Russen tatsächlich alles geklaut, was Wert hatte und den Rest zerstört. Sie nahmen sich die Zeit, jedes einzelne Fenster kaputtzuschlagen.

Die Ukrainer hatten dort komplizierte Operationen an der Wirbelsäule durchgeführt, das Krankenhaus war in der ganzen Ukraine dafür bekannt - und all diese Geräte sind weg. Das ist eine sinnlose Zerstörung, das ist das Hauptproblem.

Was machst Du, wenn der Krieg vorbei ist?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich glaube, ich werde es nicht schaffen, zurückzugehen zu dem, was ich vorher gemacht habe.

Warum?

Auch wenn es harte sechs Monate waren, waren sie sehr nützlich. Die Ukraine hat alles an Hilfe und Aufopferung und alles, was gemacht wird, verdient. Ich weiß, dass es andere Menschen an anderen Orten auf der Welt gibt, die Schwierigkeiten haben, und ich würde gerne was machen, wie das hier. Ich hoffe wirklich, dass OperationAid weiterhin auf diesem Gebiet arbeiten wird und wir erstmal der Ukraine helfen, solange es gebraucht wird, aber später auch an einem anderen Ort der Welt.

Das ist wichtig zu hören, Tilde, weil alle immer sagen: 'Wir wollen helfen, wir wollen helfen', aber am Ende sagen sie das nur. Dabei gibt es Dir so viel zurück: Du machst es nicht nur für die andren, sondern weil es dein Herz ausfüllt. Und das ist so wichtig für das Leben, denn wofür leben wir?

Ja, das ist eine der Hauptfragen. Meine Mutter war Journalistin. Demokratie und Redefreiheit hat sie mir seit meiner Geburt eingehämmert. Und genau das steht jetzt auf dem Spiel: Russland will die Ukraine wieder zurück in den Schoß zwingen und die ganze Freiheit nehmen, für die sie gekämpft haben. Und das schon etliche Jahre.

Die Not ist immer uferlos. Wir haben einem Arzt medizinische Hilfe geliefert, er fragte nach Vakuumversiegelungen für Brustwunden. Er wollte 200 Stück davon und ich konnte nur 50 organisieren. Ich fühlte mich so fertig deshalb und sagte ihm, dass es mir so leidtue. Sag das nicht, sagte er, denn für die 50 Menschen ist das wirklich wichtig. Versuch' Dich auf die zu fokussieren, denen Du helfen kannst.

Ich mag es, nützlich zu sein, ich mag das, was ich tue. Zwar macht es keinen großen Unterschied, das ist mir klar, es ist nur ein kleiner Tropfen im riesigen Ozean - aber immerhin.

Beitrag von Natalija Yefimkina

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