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Quelle: dpa/Jens Kalaene

Analyse | Impfzentren und Hausärzte in Berlin

Kampf um jeden Stich

Wer impft besser, Hausärzte oder Impfzentren? Mitten in der dritten Infektionswelle ist in Berlin ein merkwürdiger Streit entbrannt: Während noch immer etliche Menschen auf Impftermine warten, ringen Kassenärzte und Senat um Impflinge. Von Sebastian Schöbel

Über kaum ein anderes Thema wurde im rbb spezial am Dienstagabend so heftig gestritten wie über das Impfen. Auf der einen Seite stand die Berliner Allgemeinmedizinerin Sibylle Katzenstein, auf der anderen Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. In nur wenigen Sätzen fassten beide Berlins Impf-Malaise zusammen.

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"Wie wollen denn die Impfzentren wissen, wer zum Beispiel mit einem beatmungspflichtigen Kind zusammenlebt", fragt Katzenstein sichtlich irritiert. "Das wissen die Hausärzte." Denn nur die würden auch die Lebensumstände ihrer Patienten kennen - und damit auch, wo die wahren Impfprioritäten in der Bevölkerung liegen, so Katzenstein, die zu den Impf-Pionieren der Berliner Hausärzte in der Coronapandemie zählt. "Das ist eine Mensch-zu-Mensch-Entscheidung."

Müller wiederum muss inzwischen wöchentlich erleben, wie Lieferprognosen von Impfstoffherstellern nach unten korrigiert werden, zuletzt von Johnson & Johnson. Auch im vierten Impf-Monat muss seine Regierung vor allem Impfstoffmangel verwalten, während anderseits schon etliche Termine in Impfzentren gebucht wurden. "Ich kann den Impfstoff von den Impfzentren jetzt nicht wegnehmen und den Hausärzten geben, sondern ich muss auf die Situation warten, wenn ich endlich mehr Impfstoff habe, dass dann die Hausärzte auch deutlich mehr bekommen."

Katzenstein hält dagegen: "Es geht darum, dass die Impfzentren in weite Zukunft Impfdosen beanspruchen, die die Hausärzte sofort verimpfen könnten."

"Wir sind von den Lieferungen abhängig", antwortet Müller. "Die Konsequenz kann nicht sein, dass ich die Impfzentren nicht mehr arbeiten lasse und keine Einladungen mehr rausschicke."

Impfzentren weiter Teil der Strategie des Senats

Wer impft besser in Berlin? Dieser Streit schwelt zwischen Senat und Ärzteschaft, seit mit den Impfungen in Hausarztpraxen eine Parallelstruktur entstanden ist. Die Hausärzte, angeführt von der Kassenärztlichen Vereinigung, pochen auf ihre über Jahre aufgebaute Nähe zu den Patienten und ihre medizinische Erfahrung. Der Senat, vor allem die Gesundheitsverwaltung von Senatorin Dilek Kalayci, verweist auf die hohe Effektivität der Impfzentren und befürchtet, die Kontrolle über den Impfprozess zu verlieren.

Die reinen Zahlen scheinen Gesundheitssenatorin Kalayci Recht zu geben. Stand Mittwochmorgen sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) 17 Prozent der Berliner Bevölkerung bereits einmal geimpft, bundesweit landet die Hauptstadt damit im oberen Drittel. Noch besser liegt die Hauptstadt bei den Zweitimpfungen: 7,5 Prozent, bundesweit Platz 1, zusammen mit Thüringen. Laut RKI wurden bislang knapp 850.000 Menschen in Berliner Impfzentren geimpft. Pro Tag können die Zentren laut Senat im Idealfall rund 20.000 Impfungen schaffen. Aktuell sind es rund 14.000.

Kalayci verwies erst Anfang der Woche wieder auf den Beschluss von Bund und Ländern. Der sieht vor, in der ersten Phase der Impfkampagne auf Impfzentren zu setzen. "Um das gezielte Impfen der Älteren sicherzustellen, weil der Impfstoff knapp war." Zudem sei die gekühlte Lagerung des Impfstoffs zu Beginn schwierig gewesen. Dass in Phase zwei die niedergelassenen Ärzte einbezogen werden sollen, sei aber ebenso klar gewesen, sagt die SPD-Politikerin. "Die Impfzentren waren nur eine Hilfskonstruktion."

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Wie groß das Impfpotential bei den Hausärzten sein kann, wurde dann auch umgehend deutlich: Allein am ersten Tag, an dem bundesweit rund 35.000 Arztpraxen mit den Impfungen begannen, wurden 656.000 Dosen verabreicht, mehr als doppelt so viel wie am Vortag. In Berlin waren es an diesem Tag 9.000 Impfungen. Eine Woche später sind es bereits mehr als 54.000. Rund 1.150 Praxen sind laut KV inzwischen beteiligt, 3.000 Praxen könnten sich insgesamt beteiligen, schätzt die KV.

Doch schnell wurde deutlich: So transparent wie die Impfzentren arbeiten die Hausärzte nicht. Während es vorher einen zentralisierten Einladungsprozess entlang der Impfpriorisierung gab, häufen sich nun Einzelfälle, in denen Menschen unverhofft früh an die Reihe kommen: Menschen ohne Vorerkrankung, auch deutlich unter 60 Jahren, die von ihren Hausärzten eingeladen werden. Manche haben einfach Glück, zur richtigen Zeit in der Praxis zu sein, andere schaffen es mit ein paar Anrufen oder Emails. Nicht wenige haben bereits Einladungen in ein Impfzentrum erhalten – und werden nun vorgezogen.

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Wer letztlich geimpft wird, liegt im Ermessen der Hausärzte. "Die Praxen sind aktuell angehalten, sich an die Impfverordnung des Bundes zu halten", sagt eine KV-Sprecherin auf rbb-Nachfrage. Aktuell seien vor allem Personen über 70 Jahre sowie chronisch Kranke an der Reihe. "Hierfür wenden sich die Praxen an diejenigen ihrer Patienten, die unter diese Gruppe fallen", so die KV.

Doch kontrollieren lässt sich das bislang nicht: Denn die Praxen müssen derzeit nur wenige Daten an das Robert-Koch-Institut melden: Die Zahl der Erstimpfungen, der Zweitimpfungen und der geimpften über 60-Jährigen. Mehr Daten werden erst mit der Quartalsabrechnung fällig, also nicht vor Juni. "Wie die Praxen schlussendlich innerhalb ihres Patient:innenstamms priorisieren, entscheiden diese selbst", so die KV. Dass sie sich nicht zwingend an die Priorisierung halten, ließ der Chef des Hausärzteverbandes Berlin und Brandenburg, Wolfgang Kreischer, nun durchblicken. "Wir müssen in den Praxen flexibler sein", sagte er dem rbb. "Wir müssen auch, was zum Beispiel diesen Astrazeneca-Impfstoff angeht, der sich ein bisschen zum Ladenhüter entwickelt, die Freiheit haben, den auch an jüngere Männer verimpfen zu können."

Auch die Impfstoffbeschaffung für die Praxen ist schwieriger nachzuverfolgen. Lief früher alles direkt über den Bund, bestellt nun jede Impfpraxis einmal pro Woche selbst bei einer Apotheke. Die wiederum leitet die Bestellung an einen Pharmagroßhändler weiter, in Berlin sind sechs unterschiedliche beteiligt. Wer am Ende wie viele Impfdosen bekommt und wer über die Verteilung entscheidet, können selbst Experten der Branche auf rbb-Nachfrage nicht erklären. So herrschte einige Verwirrung über die Angabe der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, wonach jede Praxis maximal 42 Impfdosen bestellen dürfe. In Apothekerkreisen zeigte man sich darum über diesen unbegründeten wohl eher zufälligen Wert von "maximal 42" irritiert. Denn der passe nicht zu den Impfdosen in den Vials, also den Transportröhrchen, der einzelnen Impfstoffhersteller. In Hessen zum Beispiel lautete die Bestellungsmpfehlung wiederum auf "18 bis 50 Dosen je Arzt". Doch auch dafür wurde keine Begründung geliefert - außer dem allgemeinen Impfstoffmangel.

Streit um Liefermengen

Gleichzeitig steigt bei den Hausätzten nach Woche 1 der Impfkampagne der Frust: "Das Problem ist, dass uns die Impfstoffmenge auf die Hälfte gekürzt wurde", sagt Impfärztin Sibylle Katzenstein. Die Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) springt ihren Medizinern bei: Er befürchte, dass die Impfzentren vorrangig beliefert würden, sagte KBV-Chef Andreas Gassen der "Osnabrücker Zeitung". Das Bundesministerium für Gesundheit wies das zurück: Tatsächlich würden die Hausärzte sogar mehr Impfstoff erhalten, von Astrazeneca und BionTech, in der letzten Aprilwoche insgesamt 1,2 Millionen Stück.

Dennoch fühlen sich die Hausärzte wie Sibylle Katzenstein von der Politik nicht ausreichend gewürdigt als Teil der Impfstrategie. Sie verweisen auf ihre umfangreichen Akten und teils jahrelange Erfahrung mit der Krankengeschichte ihrer Patienten. Das Vertrauen in den Hausarzt sei größer als in die anonymen Impfzentren, sagt Katzenstein, gerade wenn es darum geht, Impfskepsis abzubauen. "Da braucht es Aufklärung, das nimmt Zeit in Anspruch. Aber es lohnt sich, diese Zeit zu investieren." Zudem sei gerade durch das Hin und Her um den Impfstoff von Astrazeneca eine gute Beratung wichtig.

Ende der Impfpriorisierung in Sicht

Dass in den Praxen wohlmöglich nicht immer streng nach Priorisierung geimpft wird, ist für Katzenstein kein Problem, sondern der Beweis, dass Hausärzte mehr als nur medizinische Indikationen kennen. "Eine junge Frau ohne Vorerkrankung, die eine sterbende Mutter hat, die würde ich doch impfen."

Und in diesem Punkt scheint ihr Berlins Regierender Bürgermeister sogar zuzustimmen. Denn zum Ende des rbb spezial finden er und Impfärztin Katzenstein ausgerechnet da eine gemeinsame Basis. "Wir brauchen dringend eine bundesweit andere Verabredung zur Priorisierung und zur Geschwindigkeit." Genau die will Müller nun im Rahmen einer neuen Bund-Länder-Beratung herbeiführen.

Die Kommentarfunktion wurde am 15.4.2021 um 21:09 Uhr geschlossen

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Sendung: Abendschau, 14.04.2021, 19:30 Uhr

Beitrag von Sebastian Schöbel

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