Regierungspartei ergründet Wahlklatsche - Die Berliner SPD sucht sich selbst

Di 11.10.16 | 07:46 Uhr | Von Jan Menzel
Eine SPD-Flagge weht am 29.09.2016 während der Sitzung des Berliner Landesvorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an der Parteizentrale in der Müllerstraße in Berlin-Wedding (Quelle: dpa/Bernd von Jutrczenka)
Audio: Inforadio | 11.10.2016 | Jan Menzel | Bild: dpa

So schlecht hat noch nie ein Sieger bei einer Landtagswahl abgeschnitten: Nur 21,6 Prozent bekam die Berliner Dauer-Regierungspartei SPD bei der Abgeordnetenhauswahl. Jetzt halten die Genossen Scherbengericht - und schöpfen Hoffnung aus dem geplanten rot-rot-grünen Bündnis. Von Jan Menzel

Wer die Tür einen Spalt weit öffnet, trifft auf eine Partei im Selbstfindungs-Modus. In der Berliner Gaststätte "Zur S-Bahn Kaulsdorf" sitzt ein Dutzend meist älterer Genossen bei Bier und Cola. Wahlnachlese steht auf der Tagesordnung. Treffender wäre: Scherbengericht. "Wir müssen erst mal feststellen: Wir haben versagt", sagt Detlef Klemm. "Wir konnten weder im Bund noch im Land und auch nicht im Bezirk den Leuten vermitteln, dass wir uns im ihre Probleme kümmern."

Klemm ist keiner, den ein schlechtes Wahlergebnis der SPD einfach aus der Bahn werfen würde. Dafür hat der Mann mit dem weißen kurzen Bart schon zu viel erlebt. Nach 1990 hat Detlef Klemm die Sozialdemokraten in Marzahn-Hellersdorf mit aufgebaut und geholfen, die zarte Partei-Pflanze zu hegen. Nun liegt sie am Boden: Die SPD ist im Bezirk auf Platz vier abgesackt, hinter der AfD und den Linken. Sogar die CDU war besser.

"Wir sitzen hier an der Wand", beginnt Frank Uelze, auch so ein Partei-Urgestein. Dann legen er und die anderen los. Alles kommt auf den Tisch. "Ich habe die Befürchtung, dass unsere Parteispitze in Wirklichkeit nicht mehr weiß, wie es in der Bevölkerung wirklich aussieht", sagt Uelze. "Ich nenne nur den BER. Das ist eine Katastrophe auch für die Bevölkerung: wahrnehmen zu müssen, dass Milliarden von Euro ausgegeben werden, aber keiner die Verantwortung trägt", sagt ein Genosse. "Ich stimme dir zu, aber ich möchte auch in wesentlichen Punkten widersprechen", erwidert ein anderer. "Es ist leider Mode geworden, sich selbst und die anderen kaputt zu reden." Ein Dritter berichtet, er habe "mit Erstaunen festgestellt, dass Herr Müller jetzt alles ganz anders macht – obwohl ich weiß, dass wir seit 20 Jahren in der Verantwortung stehen."

Arbeitsgruppe soll Stimmenschwund erklären

Herr Müller ist Michael Müller, SPD-Spitzenkandidat bei der Abgeordnetenhauswahl vom September, Regierender Bürgermeister und Landesvorsitzender - die Nummer Eins und das Gesicht des Wahldebakels. Der 51-Jährige steht im Foyer des Kurt-Schumacher-Hauses - der Parteizentrale, die gebaut wurde, als der Wedding noch rot und Willy Brandt Regierender Bürgermeister war. Aber das ist lange her. Jetzt ist hier im Landesvorstand genauso wie im Ortsverein in Kaulsdorf Fehleranalyse angesagt. "Ich finde, dass wir bei diesem Ergebnis wirklich allen Grund haben, selbstkritisch zu diskutieren", sagt Müller. "Deswegen haben wir einen Tag nach der Wahl diese Arbeitsgruppe hier eingesetzt und lassen uns da auch von anderen beraten. Wir wollen nicht nur im eigenen Saft schmoren."

Die Gruppe besteht aus sechs Parteimitgliedern - Männer und Frauen, Parlamentsneulinge und alte Hasen, Ost und West, alles streng ausgewogen -  und zwei Wissenschaftlern. Die Arbeitsgruppe Wahlanalyse solle mehr liefern als die Redensart "Wenn ich mal nicht weiter weiß, gründ' ich einen Arbeitskreis", sagt Müller. Die Arbeitsgruppe soll aber auch - und das ist dem Regierenden wichtig -  parteiintern nach Ursachen für den gewaltigen Stimmenschwund forschen.

Saleh schlägt Alarm

Diese Gremienarbeit hinter verschlossen Türen halten jedoch nicht alle für die angemessene Antwort auf das Debakel vom Wahlsonntag. Raed Saleh, Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, gerade erst mit traumhaften 92 Prozent im Amt bestätigt, ist mit 39 Jahren einer, der noch etwas vorhat in der Partei. Per Zeitungsartikel schlägt er Alarm, listet auf was in den letzten Regierungsjahren und im Wahlkampf alles schief gelaufen ist. Seine Warnung: Bleibt alles beim Alten, ist es aus mit der SPD als Volkspartei. "Für viele sind wir nicht mehr die Sozis von nebenan, nicht mehr die Menschen, die in den Kiezen, in den Strukturen der Stadt verankert sind", sagt er. "Für viele sind wir die da oben."

Das Echo auf Salehs Thesen fällt lautstark aus: viel Zustimmung, einiges an Kopfschütteln. Die meisten Genossen hören aus der Analyse aber auch die Kritik an dem da oben heraus: an Michael Müller, dem Spitzenkandidaten - was nicht unbedingt verwundert. Müller und Saleh waren einmal Gegner, als es um die Nachfolge von Klaus Wowereit ging. Müller setzte sich durch, wurde Regierender Bürgermeister.

Saleh wartet ab und schreibt eben diesen Artikel, während Müller schweigt und andere antworten lässt. Christian Gaebler, Kreischef in Charlottenburg-Wilmersdorf und treuer Müller-Mann, warnt unmissverständlich davor, jetzt Personaldebatten anzuzetteln. "Ich glaube, in der derzeitigen Situation der SPD sollte jeder seine eigenen Ambitionen hinten anstellen. Wir sollten gemeinsam schauen, wie wir wieder vorankommen und wie wir auch wieder zu den Menschen kommen. Ich glaube, einzelne Schuldzuweisungen oder Profilierungen sind da fehl am Platze."

Tatsächlich geht noch der eine und der andere böse Brief unter Genossen hin und her. Doch die Machtprobe fällt aus - und alleine das grenzt in einem derart kämpferischen SPD-Landesverband fast schon an ein Wunder. Hinter vorgehaltener Hand räumen selbst Weggefährten Müllers ein, dass schon Ministerpräsidenten nach weit weniger schlimmen Niederlagen gegangen sind beziehungsweise gegangen wurden.

Was Müller rettet, ist, dass ausgerechnet er als Regierungspragmatiker und versierter Machtpolitiker seiner Partei eine alte Sehnsucht erfüllen kann. Vor fünf Jahren hatten viele in der tendenziell linken Berliner SPD auf Rot-Grün gehofft. Der Traum platzte. Wowereit und an seiner Seite Müller führten die SPD in die ungeliebte Koalition mit der CDU. Dieses Mal soll und wird es wohl Rot-Rot-Grün werden, ein linkes Regierungsbündnis mit Aussicht auf  eine andere Politik.

"Wir haben Lust auf Rot-Rot-Grün"

"Ein Sozialismus müsste her, mit neuem Schwung und alledem" - mit sozialistischem Liedgut stimmt sich der Parteinachwuchs auf eine mehrstündige Aussprache ein. Im Casino des Sportzentrums "Wulle" in Moabit treffen sich die Jusos zur Landesdelegiertenkonferenz. "Trotz alledem", wie es im Lied heißt, beschreibt ganz gut die Haltung vieler junger Genossen, die trotz  Wahlklatsche daran glauben, dass es bald aufwärts gehen könnte. "Wir haben Lust auf Rot-Rot-Grün, weil ich denke, dass es eine große politische Veränderung geben muss", sagt eine Juso-Frau. Einer ihrer Genossen hofft, "dass die Partei dadurch wieder an Profil gewinnt. In einer großen Koalition ist es wegen der vielen Kompromisse, die man schließen muss, schwierig zu punkten." Ein Dritter stellt fest, Parteien müssten sich immer wieder beweisen. "Die SPD hat jetzt wieder die Möglichkeit, das zu tun. Da müssen wir optimistisch in die Zukunft schauen."

Die SPD als Garantin für sozialen Ausgleich, als Anwältin der kleinen Leute, als die Berlin-Partei, die nicht nur auf die Innenstadt schaut, sondern auch die Außenbezirke im Blick hat: Variationen dieser Sätze gibt es in diesen Tagen von den einfachen Mitgliedern in den Ortsvereinen und von den Spitzengenossen. Diese Sätze werden sich auch wiederfinden im Bericht der Arbeitsgruppe Wahlanalyse und im Koalitionsvertrag, der gerade verhandelt wird.

Für die Jusos macht Landeschefin Annika Klose schon mal eine klare Ansage. "Auf jeden Fall muss da drin stehen, dass die SPD jetzt in einer neuen Koalition nicht die konservative blockierende Kraft sein darf, sondern dass wir die Anführer einer sozialen Koalition für Berlin sein müssen", sagt sie. "Ich glaube, dieser Groschen muss aber bei einigen noch fallen." Annika Klose lächelt fein bei diesem Satz. Die SPD - so viel ist sicher - hat mit der Aufarbeitung der Wahl gerade erst begonnen.

Beitrag von Jan Menzel

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