Interview | #r2g-Koalitionsvertrag - "Eine Wette auf die Zukunft"

Sa 19.11.16 | 08:52 Uhr
Der Landesvorsitzende der Linken, Klaus Lederer (l-r), der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und die Fraktionschefin der Grünen, Ramona Pop (Quelle: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa)
Bild: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Die zukünftige rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin hat ihren Koalitionsvertrag fertig und für jedermann ins Netz gestellt. Was sofort auffällt? Er ist dreimal so dick ist wie der vorherige. Ein guter Vertrag, aber der Teufel steckt im Detail, sagt der rbb-Experte.

Der Koalitionsvertrag von SPD, Linken und Grünen in Berlin ist seit Donnerstag für jeden einsehbar. Er trägt den Titel "Berlin gemeinsam gestalten - Solidarisch. Nachhaltig. Weltoffen." Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop sprach von einem Akt der Transparenz. Man wolle den Menschen sagen, was und wie schnell es passiert, anstatt nur Überschriften zu liefern, sagte sie dem rbb. Die Opposition vermisst in dem Vertrag eine Vision für die wachsende Metropole Berlin. CDU-Fraktionschef Florian Graf sagte, der Text erschöpfe sich stattdessen im Klein-Klein. Was wirklich drin steht, wo es knirschen könnte und ob es jetzt schon einen Gewinner gibt, das haben wir unseren rbb-landespolitischen Experten Christoph Reinhardt gefragt.

rbb|24: 251 Seiten ist der Koalitionsvertrag dick. Ist das Regulierungswahn oder haben die einfach viele Ideen, die auf Papier gehörten? Was hast Du gedacht, als Du die vielen Seiten zum ersten Mal gesehen hast?

Christoph Reinhardt: Das ist aber viel, und das ist aber lang. Beim Lesen dachte ich: Das ist aber detailliert, hätte man auch an der einen oder anderen Stelle zusammenfassen können. Dann habe ich mich gefragt, was für ein Zeichen das ist? Ich finde es eigentlich eher positiv. Weil: Wenn man im Konflikt miteinander steht, neigt man eher dazu, Dinge zu streichen. Je mehr Details da stehen, desto mehr kann man sich auch drüber streiten. Ich deute es so, dass sie eine ziemlich breite Basis haben und sich auch trauen, die aufzuschreiben.

Ist dieser Koalitionsvertrag im Vergleich zu früheren dicker?

Er ist ungefähr drei Mal so dick wie der letzte. Es sind aber auch drei Parteien. Vielleicht haben sie sich auch einfach mehr zu sagen.

Wieviel davon lässt sich innerhalb von fünf Jahren umsetzen?

Die wichtigen Sachen lassen sich überhaupt nicht in fünf Jahren umsetzen, weil die einfach langfristig angegangen werden müssen. Wohnen ist wichtig, ganz klar. Man muss erstmal anfangen zu bauen und zu finanzieren. Schulen zu sanieren – das sei ein Zehn-Jahres-Programm, hat der Regierende Bürgermeister gesagt. Personal für die Verwaltung anstellen, bei der Polizei, Polizisten ausbilden – das dauert Jahre. Das wichtige an den jetzigen fünf Jahren ist, dass der Anfang gemacht wird. Im Wohnungsbau muss das, was in der letzten Legislaturperiode angefangen wurde, weitergehen und das auch einigermaßen krisensicher. Im Moment sind die wirtschaftlichen Zahlen günstig: Der Haushalt steht gut da. Es muss jetzt alles so auf die Schiene gesetzt werden, dass es auch in schlechteren Zeiten funktioniert.

Was kann man denn in fünf Jahren überhaupt umsetzen?

Also es gibt sicher etliche Punkte, die kann man sofort umsetzen: "Unter den Linden" für Autos sperren zum Beispiel. Das kann man ganz schnell machen. Da muss man nur ein paar Polizisten hinstellen, die absperren. Die Frage ist dann aber, wie nachhaltig das ist. Die Koalition will ein 100-Tage-Programm festlegen, um ein paar Pflöcke einzuschlagen und Symbolpolitik zu machen. Eine Wache auf dem Alexanderplatz wäre so ein Zeichen in der Innenpolitik. Das könnte man ganz schnell machen, in dem man ein Ladengeschäft mietet und ein paar Polizisten reinsetzt. Das wird aber alles nicht so schnell gehen. Je seriöser, je nachhaltiger die Politik ist, desto länger dauert es, aber dann ist eben nichts zu sehen.

Wer soll die ganzen Vorhaben aus dem Vertrag bezahlen?

Also im Moment kann Berlin sich eine ganze Menge leisten. Der Schuldenberg ist noch da, er wird weiter abgetragen. Berlin will mit der Schulden-Konsolidierung weitermachen, sonst gibt es ja auch viel weniger Geld aus dem Länderfinanzausgleich. Es ist wichtig, dass Berlin weiter die Schulden abbezahlt. Die Koalition hat sich vorgenommen, viel zu investieren. Das ist sicher auch richtig. Das Argument, was jetzt ganz breit getreten wird, ist: Nicht zu investieren ist auch Verschuldung, weil dann die künftigen Generationen mit den Bauruinen leben müssen oder mit den kaputten Schulen, so wie wir jetzt im Moment dafür bezahlen müssen, was die 15 Jahre Sparpolitik in Berlin angerichtet haben. Aber wenn sie es tatsächlich schaffen, bei den Schulen eine landeseigene Gesellschaft zu gründen, die Kredite aufnimmt und davon Schulen saniert und Schulen baut, dann muss das irgendwann auch zurückgezahlt werden. Bei dem Wohnungsbauprogramm wird es genauso sein. Auch wenn der Kredit nicht im Landeshaushalt steht. Die Schulden sind da. Das kann man "Schattenhaushalt" nennen. Wenn die wirtschaftlichen Daten schlechter werden, wird sich zeigen, ob Zins und Tilgung noch möglich sind? Das ist eine Wette auf die Zukunft.

Er herrscht also ein Zweckoptimismus in der neuen Koalition.

Es wäre ja auch Wahnsinn so zu tun, als hätten wir noch Zustände wie Anfang der 2000er Jahre, mit Massenarbeitslosigkeit, extrem niedrigen Steuereinnahmen und einem riesigen strukturellen Defizit. Es ist schon sinnvoll, jetzt zu investieren. Aber man muss sich auch klar machen, so schwungvoll, wie es jetzt mit der neuen Regierung losgeht, kann es nur bleiben, wenn auch die Wirtschaftsdaten bleiben wie sie sind, und das weiß man einfach nicht.

Gibt es Passagen, in denen die Parteien irgendwie hinter den Erwartungen geblieben sind, wo sie im Unklaren bleiben?

Es gibt schon einige Stellen, bei  denen man sich fragt: Was meinen sie denn jetzt wirklich damit? Es ist ein sehr langes Papier, aber letztlich auch nur eins, wo Absichtserklärungen drin stehen, teilweise sehr allgemein formuliert. Da steht zum Beispiel drin, dass es mehr Polizisten geben soll, auch mehr auf der Straße, aber wie viele mehr steht nicht drin. Es gibt tausend offene Stellen und die Ausbildungskapazitäten werden voll ausgeschöpft. Ob da in fünf Jahren tatsächlich eine Stelle mehr im Stellenplan steht, steht im Koalitionsvertrag nicht drin. Nachtflugverbot ist auch so ein Punkt. Linke und Grüne waren ganz klar dafür. Die SPD war dagegen. Jetzt haben sie sich auf eine Formulierung geeinigt, man mache eine siebenstündige Lärmpause. Da wird man sehen, wer sich am Ende durchsetzt. Ich vermute mal, im Zweifel wird mehr geflogen. Das sind so Punkte, die man einfach offen gelassen hat. Elisabethaue: das Gebiet in Pankow. Die SPD will es bebauen, die anderen nicht. Jetzt hat man es einfach "Perspektivgebiet" genannt. Da gibt es viele Stellen im Koalitionsvertrag, wo man sich den Streit jetzt gespart hat, der aber in den nächsten fünf Jahren wieder aufbrechen kann. Beim Thema A100 ist eine mögliche rot-grüne Koalition vor fünf Jahren gescheitert. Deshalb haben sie diesmal gesagt, in diesen fünf Jahren fassen wir das Thema nicht an.

Es klingt geradezu harmonisch. Bei welchen Themen könnte es denn knirschen?

Innenpolitik ist so ein Bereich, bei dem ich mir Konflikte vorstellen kann. Da ist es durchaus denkbar, dass ein SPD-Senator nicht die Solidarität von dem Koalitionspartner bekommt, wenn er härter abschiebt als es jetzt im Koalitionsvertrag steht. Auch wenn Häuser geräumt werden, und die Linke das nicht will, kann es zu einer Belastungsprobe kommen.

Kann man sagen, dass eine Partei als Gewinner oder Verlierer hervorgegangen ist?

Die SPD hat natürlich in den Wahlen unheimlich viel verloren. Dafür steht sie jetzt im Senat ziemlich gut da. Es sind elf Leute. Einer ist Regierender Bürgermeister, die anderen sind Senatoren, fünf davon hat die SPD. Das ist im Vergleich zur Vergangenheit deutlich weniger. Was die Ressorts angeht, hat die SPD die richtig wichtigen fast alle bekommen. Finanzen sind ganz wichtig, um zu steuern. Inneres ist ein sehr großes Ressort. Ob es ordentlich und sicher in der Stadt ist, wird vor allem dort entschieden. Das ist auch für die Wiederwahl sehr wichtig, wie die Stimmung in der Stadt ist. Bildung mit den Schulen und Kitas ist ein sehr undankbares Ressort, aber es hat eine enorme Breitenwirkung. Für die SPD ist es ganz wichtig zu sagen, wenn es gut läuft, ist das eine soziale, eine sozialdemokratische Politik, die an den Schulen gemacht wird. Wenn es schief läuft, wie in den vergangenen Jahren, haben sie natürlich ein Problem.

Wissenschaft hat sich der Regierende selber gesichert. Das ist sehr schön, damit kann man auch glänzen. Die anderen Parteien haben durchaus riskante Senatsverwaltungen. Beim Bauen für die Linke müssen sie wirklich zeigen, was sie drauf haben. Das wird nicht leicht. Die Grünen waren mit Umwelt und Verkehr gesetzt. Allerdings ist Verkehr auch so ein Punkt, wo es knallen kann, wenn es um die Frage geht, wie viel vom Autoverkehr beschnitten wird. Da könnte ich mir auch vorstellen, dass da so ein Regierender Bürgermeister kommt und sagt: "Nein, dieser Fahrradstreifen kommt nicht hier her". Wirtschaft ist für Ramona Pop ein sehr schönes Ressort, um auch gestalten zu können. Bei der Entscheidung für Lederer als Kultursenator war ich ein bisschen enttäuscht. Der ist ein sehr fähiger und intelligenter Jurist. Der kann bestimmt auch Kultur. Aber ich glaube, wertvoller für seine Partei wäre er in einem größeren Ressort. Ich kann keinen klaren Gewinner oder Verlierer sehen. Alle haben Gestaltungsmöglichkeiten und können auch bei ihrer Klientel Erfolge vorzeigen, wenn es gut läuft. Alle können sich aber auch blamieren. Die Aufteilung stimmt. Jetzt werden wir sehen, was sie daraus machen.

Das Gespräch führte Anke Fink

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