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Quelle: privat

Kinderkuren in der DDR und in Berlin

Gedemütigt, gezwungen, verschickt

Millionen von Kindern wurden zwischen 1950 und 1980 auf Kur geschickt - Zigtausende von ihnen kamen mit einem Trauma zurück. Die Aufarbeitung der Missstände beginnt gerade erst. Doch schon jetzt ist klar, dass es ein west- und ein ostdeutsches Phänomen war. Von Anna Bordel

An viel erinnert sie sich nicht, aber ein Bild ist noch immer ganz klar: Sie sitzt an einem Tisch, vermutlich allein neben einer Säule, und versucht ein Hühnerei in ihre Hosentasche zu stecken. Es ist noch ganz. Damals, 1975, ist Claudia Terpe vier Jahre alt. Der fischige Geruch - Hühner wurden damals häufig mit Fischmehl gefüttert - verursacht ihr Übelkeit. Essen möchte sie das Ei auf keinen Fall, das darf aber niemand erfahren, das Ei muss also verschwinden.

Terpe ist damals in einem Verschickungsheim in Gohrisch in der Sächsischen Schweiz. Mit vier und mit acht Jahren wurde sie jeweils für sechs Wochen von ihrem Zuhause in Berlin-Lichtenberg zur Kur in ein DDR-Kinderkurheim geschickt, ohne ihre Eltern.

Millionen Kinder in Kurheime geschickt

Damit ist sie eine von 2,6 Millionen Kindern in der DDR und eins von acht Millionen Kindern in ganz Deutschland, die hauptsächlich zwischen 1950 und 1980 in sogenannte Kinderkuren "verschickt" wurden. Das sind die Zahlen, die der Verein "Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung" (AEKV e.V.) für gesichert ansieht. Wahrscheinlich ist aber, dass die wirkliche Zahl deutlich höher liegt und es die Kuren auch noch bis Ende der 80er Jahre gegeben hat, wie aus Erfahrungsberichten einiger Betroffener hervorgeht. Nachweise sind schwierig zu bekommen, da die Kinderheime von unterschiedlichen Trägern geführt wurden, von denen heute viele nicht mehr existieren. Krankenkassen, die damals für viele der Kuren finanziell aufkamen, müssen alle personenbezogenen Daten nach zehn Jahren vernichten.

Die Aufarbeitung der Dimension geht über viele Stellen und ist mühsam. Politische Unterstützung gibt es für den AEKV bislang keine. Einige Krankenkassen-Verbände beginnen jedoch, ihre Verantwortung für die Missstände anzuerkennen und sich an der Aufarbeitung zu beteiligen.

In Berlin gab es laut einer Statistik des Forschungsinstituts Nexus [verschickungsheime.de] mit 752 Plätzen vergleichsweise wenig Heimplätze. In Baden Württemberg zum Beispiel gab es 15.144, im Saarland 223. Die Heime in Berlin wurden von zahlreichen unterschiedlichen Trägern geführt - darunter kirchliche, private und städtische. Von Berlin aus wurden auch Heime außerhalb der Landesgrenzen verwaltet, so zum Beispiel in Wyk auf der Nordseeinsel Föhr das "Haus Schöneberg", das jahrzehntelang an das Auguste-Viktoria-Klinikum in Schöneberg angegliedert war.

In der DDR gab es laut Julia Todtmann, die an der Freien Universität zu Verschickungsheimen in der DDR geforscht hat, mindestens 155 Heime.

Viele Kinder waren auf "Fresskur", weil sie als zu dünn galten

Viele Kinderärzt:innen verordneten Kuren damals aus gesundheitlichen Gründen, die aus heutiger Perspektive nicht immer nachvollziehbar sind. Bei Claudia Terpe war es offiziell Bronchitis, aber wie sie später aus ihrer Akte erfuhr, war auch sie eine von vielen, die auf Kur geschickt wurde, weil sie für zu dünn befunden wurde. Auf "Fresskur" – wie Betroffene im Nachhinein sagen. Die Kinder sollten essen, und zwar alles, was ihnen vorgesetzt wurde. Es gibt Berichte von Betroffenen, die bis zum Erbrechen zum Essen gezwungen wurden und anschließend ihr Erbrochenes essen mussten.

Ob dies bei Terpe der Fall war, weiß sie nicht. Sie erinnert sich nur das dringliche Gefühl, dieses Ei in die Hose stecken zu müssen, damit es verschwindet. Ob es ihr gelungen ist, weiß sie nicht mehr, aber Eier hat sie seitdem nie wieder gegessen. Wenn sie sich später übergeben musste, löste das jahrzehntelang panische Gefühle in ihr aus, sagt sie.

Öffentliche Demütigungen, gewalttätige Bestrafungen, Trennung von Geschwistern und Freunden, kollektive Toilettenbesuche, nächtliche Toilettenverbote, Zensur der Briefe nach Hause, willkürliche Verabreichung von Medikamenten, sexueller Missbrauch - die Liste der Misstände in deutschen Kinderkurheimen, die durch viele Zeitzeugenberichte bestätigt sind, ist lang. In Foren meldeten sich in den letzten Jahren Zehntausende Betroffene zu Wort und erzählten ihre Geschichte - viele berichten von lebenslangen Traumata.

Berlin

Hunderte Kinder kommen jedes Jahr in Pflegefamilien

Politik übernimmt keine Verantwortung für Aufklärung

Gegen sie spielt das Vergessen. Terpe ist nicht die einzige, die sich nur noch an wenig von ihren Aufenthalten erinnert. Einiges weiß sie von ihrer Mutter.

Viele Betroffene, unter ihnen Claudia Terpe, haben sich im AEKV zusammengefunden, um ihre gemeinsame Geschichte aufzuarbeiten. Ziel ist, neben dem persönlichen Frieden auch Verantwortliche zu finden, Rechenschaft zu verlangen. Konkret fordern sie in einer Petition an den Deutschen Bundestag, dass Betroffene als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden, dass die "menschenverachtende" Praxis in den Kinderkurheimen geächtet wird und Betroffene im Bundestag angehört werden. Die Petition hat derzeit etwas mehr als 40.000 Unterschriften.

Auch das Bundesfamilienministerium wurde Ende 2021 aufgefordert, die Aufklärung der Missstände auf seine Agenda zu nehmen. Bei einem Treffen von Vertreterinnen und Vertretern des Vereins mit Mitarbeitern des Bundesfamilienministeriums im Sommer diesen Jahres wies das Ministerium jedoch die Verantwortlichkeit für die Aufklärung von sich. Eine große Enttäuschung für Terpe und Co. Und: Wer ist dann verantwortlich? Die Länder? Die Jugendverwaltung des Berliner Senats verweist auf den Bund. "Die Vielzahl der Betroffenen und die bundesweite Betroffenheit macht eine über die Ländergrenzen hinweg stattfindende Aufklärung notwendig", teilte eine Sprecherin auf Anfrage mit. Auch im Bildungsministerium in Brandenburg ist die Aufklärung der Misstände kein Thema: Das sei, heißt es von einer Sprecherin, ein westdeutsches Problem.

Krankenkassenverband erkennt Missstände an

Einige Krankenkassenverbände erkennen mittlerweile an, dass es "in Kinderkurheimen zu Missständen, Demütigung, Gewalt bis hin zu sexuellen Übergriffen gekommen ist und den Kindern großes Leid widerfahren ist", wie es in einem Schreiben des Verbandes der Ersatzkassen e. V. auf der Webseite des AEKV heißt. Zwar beginne die Aufarbeitung an vielen Institutionen erst, die Vielzahl der Schilderungen der Verschickungskinder ließen dennoch bereits jetzt den Schluss zu, dass es sich nicht "um Einzelfälle, sondern um strukturelle Misstände" in einzelnen Kinderkurheimen handele. Die vertretenden Krankenkassen würden ihren Beitrag zur Aufklärung und Transparenz leisten. Was das konkret heißt, steht in dem Schreiben nicht.

Zusätzlich erschwert wird die Frage der Zuständigkeit zumindest im Gebiet der ehemaligen DDR dadurch, dass es die damalige Krankenversicherung, die "Sozialversicherung", heute nicht mehr gibt.

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Jetzt schon aber zeigt sich: Die Schicksale, die mit den Verschickungskuren verknüpft sind, scheinen in der Bundesrepublik ähnlich zu sein wie in der DDR. In beiden Systemen gab es im Verhältnis zu der gesamten Kinderanzahl laut HU-Forscherin Julia Todtmann eine ähnliche Zahl an Kindern, die verschickt wurden. Berichte über gewaltsamen Umgang, Demütigung, Verwahrlosung, Zwang und Missbrauch sind ebenfalls von beiden Seiten bekannt.

Wissenschaftlerin Todtmann sieht dennoch Unterschiede: Die DDR wollte keine Individuen hervorbringen, sondern kleine Rädchen, die sich in das große Ganze perfekt einfügen. Die Kinder sollte keine Sonderrolle spielen, an erster Stelle stand die Gemeinschaft. Dazu passt es, dass die Kinder gemeinsam auf die Toilette gehen sollten, nicht wenn sie mussten. Schlafen, wenn alle schlafen. Essen, was alle essen. In Kinderkuren konnte der Staat ungefiltert Einfluss auf die Kinder nehmen, ihre Erziehung kontrollieren, so Todtmann - und hatte entsprechend großes Interesse daran. Druck vom Staat, ihr Kind ein weiteres Mal zu verschicken, obwohl es nicht wollte, verspürte auch Claudia Terpes Mutter damals: "Sie hatte Angst vor dem System", sagt Terpe.

Aus ihrer zweiten Verschickung ist Claudia Terpe eine Erinnerung geblieben: Sie befindet sich mit anderen Kindern in einem dunklen Raum, alle fassen sich an den Händen und machen Gymnastik, während grelles Licht sie bestrahlt. "Höhensonnen-Therapie" nannte sich das. Die Kinder tragen Sonnenbrillen, die ihre Augen vor dem Licht schützen, ansonsten sind sie nackt.

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Sendung: rbb24 Inforadio, 09.10.2022, 15:00 Uhr

Beitrag von Anna Bordel

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