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Berlin und Brandenburg

Wie sich der Drogenkonsum bei Jugendlichen in der Pandemie verändert

Um ihre Corona-Ängste zu bewältigen, flüchten sich einige Jugendliche in den Rausch. Experten erreichen die jungen Konsumenten kaum noch - und registrieren einen massiven Anstieg des Medikamentenkonsums. Von Jenny Barke

Die Arbeit von Jörg Kreutziger und seinem Team beginnt meist mit einem Anruf. Berliner Rettungssanitäter und Kliniken melden sich bei ihnen dann, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher mit einer Vergiftung durch Alkohol oder Drogen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Die Pädagogen und Mediatoren des Projekts "Hart am Limit", kurz "Halt [halt-berlin.de]" sprechen dann mit den Jugendlichen über den Grund für ihren Konsum. Sie hören zu, begegnen ihnen auf Augenhöhe, bieten Hilfe an.

Während der Pandemie habe sich die Arbeit von "Halt" verändert, sagt Kreutziger. Früher seien die Jugendlichen öfter mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet. Die vergangenen Monate habe es eine massive Verschiebung der Konsummuster gegeben: "Wenn wir uns die Substanzen anschauen, sehen wir, dass Jugendliche vermehrt zu Medikamenten greifen." Benzodiazepine und Schmerzmittel seien hoch im Kurs, sagt der Sozialarbeiter.

Tendenz geht hin zu "introvertierten Drogen"

"Bewältigungskonsum" nennt Kreutziger dieses Verhalten: Anders als noch vor einigen Jahren wollten sich weniger Jugendliche in Berlin mit Partydrogen wie Amphetaminen berauschen. Es gebe einen Wandel hin zu Drogen mit sedierender Wirkung. "Mein Team und ich sprechen von introvertiertem Konsum, weil er nach innen gerichtet ist. Sie ziehen sich dann zurück, sie betäuben sich klassisch, um nicht mehr so viel von der Welt da draußen mitzubekommen", sagt Kreutziger. Die große Verfügbarkeit der Substanzen tue ihr Übriges: Medikamente und Amphetamine bestellten die Jugendlichen leicht übers Netz. Das sei ebenfalls ein "Game-Changer" beim Drogenkonsum.

Wie sich der Konsum von Rauschmitteln unter Berliner und Brandenburger Jugendlichen insgesamt in der Pandemie entwickelt hat, lässt sich schwer fassen. Aktuelle, repräsentative Zahlen gibt es nicht. "Wir haben in Deutschland dazu ganz schlechtes Zahlenmaterial, die Trendstudien, die alle paar Jahre kommen, sind nur Schlaglichter", sagt Rüdiger Schmolke vom Berliner Präventions- und Suchthilfeprojekt Sonar. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Trends beim Drogenkonsum jugendlicher Menschen. Er rät zur Vorsicht bei Verallgemeinerungen für ganz Berlin und Brandenburg.

Aktuelle Studien zum Drogenkonsum in Corona-Zeiten fehlen

Deshalb stellt für ihn auch die Zunahme des Medikamentenkonsums unter Jugendlichen beim Präventionsprojekt "Halt" nur ein kleiner Ausschnitt dar. "Das muss in anderen Gruppen gar nicht richtig angekommen sein." Die letzte repräsentative Studie zum Rauschmittelkonsum bei Kindern und Jugendlichen ist in Brandenburg vor vier Jahren veröffentlicht worden - die Ergebnisse einer aktuellen Befragung, die auch die Corona-Zeit abbildet, soll im Herbst kommen. In Berlin wurden die neuesten Zahlen zur Sucht zu Beginn der Corona-Krise im Frühjahr 2020 veröffentlicht [berlin-suchtpraevention.de/PDF].

Obwohl belastbare Zahlen zum Trend im Drogenkonsum in der Pandemie fehlen, bestätigen viele Psychologen, Suchtberater und Ärzte in Berlin und Brandenburg den Eindruck: In der Corona-Zeit haben sich die Probleme bei vielen Kindern und Jugendlichen verschärft. Die Experten machen das an ihren internen Auswertungen fest. So auch die DRK-Suchtberatungsstelle im Landkreis Oberhavel in Brandenburg. "Wir hatten hier im vergangenen dreiviertel Jahr den Ausnahmezustand", sagt Sucht- und Drogenberater Michael Alfs.

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Beratungsstellen und Ambulanzen in Oberhavel "fast alle kollabiert"

Die Pandemie habe selbst Kinder und Jugendliche, die eigentlich zuvor Angst vor Drogen gehabt hätten, zum Konsum gebracht. "Die Schule ist weggebrochen, die Jugendlichen haben Langeweile, keine Zukunftsperspektive und keine Ausweichaktivitäten", sagt Alfs. Konkret heiße das für den Landkreis Oberhavel: Immer öfter meldeten sich Eltern, die im Home-Office feststellten, dass ihre Kinder und Jugendliche THC, Medikamente oder Amphetamine konsumieren. Die DRK-Suchtberatung versuche, zu vermitteln. Doch die Institutionen seien "fast alle kollabiert", so Alfs. "Wir haben hier nur eine Stelle, die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ausgelastet, die Warteliste für Langzeit-Therapien liegt bei neun Monaten."

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Berliner Vivantes-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf der Suchtstation. Die Ambulanz sei überlastet, für Plätze müssten die jungen Patienten teils lange warten, sagt der Stationsleiter, Kinder- und Jugendpsychotherapeut Tobias Hellenschmidt. "Wir erleben in unserer Praxis viele Rückfälle, bei vielen jungen Suchtpatienten hat sich die Symptomatik verschlechtert."

"Totalausfall" der Hilfesysteme

Hellenschmidt spricht von einem "Totalausfall" der sozialen Hilfesysteme und kritisiert die Politik. Die würde die Kinder und Jugendlichen ignorieren - er befürchte, dass die Langzeitfolgen dieser monatelangen sozialen Desintegration noch bevorstünden. "Alle Institutionen waren komplett dicht, die Kinder und Jugendliche haben keine Unterstützung mehr bekommen, weder von Streetworkern, noch regionalen Sozialdiensten noch Lehrern."

Dabei hätten die Kinder in der Krise umso mehr psychologische Unterstützung gebraucht. Sie seien mit ihren Ängsten allein gelassen worden, erklärt Michael Leydecker, der als Psychologe in der Suchtberatung beim Träger Tannenhof im Landkreis Dahme-Spreewald arbeitet: "Es hat ein Rückzug stattgefunden, die Isolation hat den Kindern und Jugendlichen nicht gut getan." Einige Jugendliche hätten diesen Stress mit Tabak, Alkohol und Drogen kompensiert. Die größte Herausforderung für Leydecker: Diese Jugendlichen noch zu erreichen.

Bezugspersonen für Intervention fehlen

Ohne Bezugspersonen, durch die Intervention von Sozialarbeitern in Jugendclubs oder durch Lehrer käme auch seine Suchtberatungsstelle in Brandenburg kaum noch an die jungen Menschen heran. Auch der Sozialarbeiter Jörg Kreutziger vom Berliner Interventionsprojekt "Halt" spricht von einer Überforderungssituation: "Die Jugendlichen erleben zwei Krisen zeitgleich, die Corona-Krise und dann noch die Klimakrise. Das kann zu einer Mehrfachbelastung führen, die dann ihren Weg in den riskanten Konsum finden kann."

Deshalb sind sich die Experten in Berlin und Brandenburg auch einig: Die Lage könne sich erst ändern, wenn die Kinder und Jugendlichen wieder Perspektiven bekommen und aus der sozialen Isolation befreit werden. Sie plädieren dringend dafür, die Schulen im Herbst wieder zu öffnen und den jungen Menschen mehr Freizeitangebote zu machen.

Sendung: Inforadio, 09.07.2021, 7 Uhr

Beitrag von Jenny Barke

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